Titelthema

Kollektive Freiheit

Die lange Geschichte der bis heute wachsenden Kooperativenkultur von Cecosesola.
von Johanna Treblin, erschienen in Ausgabe #20/2013
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Was tun die Hinterbliebenen, wenn jemand stirbt? Sie beerdigen ihn. Doch eine Beerdigung kostet Geld: für den Sarg oder die Urne, für den Transport des Leichnams, möglicherweise für den Redner. Als 1967 in der venezolanischen Millionenstadt Barquisimeto das Mitglied einer Kooperative starb, war seine Familie zunächst ratlos, wie sie ohne entsprechende Mittel die Beerdigung organisieren sollte. Doch dann schlossen sich zehn Kooperativen aus der Gegend zusammen, gründeten einen Dachverband und eröffneten ein Beerdigungsinstitut. So war »Cecosesola« geboren – Central Cooperativa de Servicios Sociales del Estado Lara.

Cecosesola ist heute ein Netzwerk von rund 50 Kooperativen und Basisorganisationen im nordwestlich gelegenen venezolanischen Bundesstaat Lara. Insgesamt hat das Netzwerk rund 20 000 Mitglieder. Gut 1200 arbeiten in Vollzeit in einer der Kooperativen oder für den Dachverband selbst. Dafür erhalten sie einen wöchentlichen Pro-Kopf-Vorschuss auf das erwartete wirtschaftliche Gesamtergebnis des jeweiligen Jahres. Die Kooperativen bieten zum Beispiel Gesundheitsleistungen und Kredite, produzieren Lebensmittel und verkaufen sie auf ihren kooperativen Wochenmärkten. Auch das ­Beerdigungsinstitut existiert noch.

Hier arbeite ich nicht, hier lebe ich
Lizeth Vargas ist schon ihr ganzes Leben lang Mitglied von Cecosesola. Ihre Großeltern José Alejandro Cambero und Carmen María Véliz de Cambero haben den Verband mitgegründet. Heute sind beide 83 Jahre alt. Vargas’ Eltern sind Mitglieder von Cecosesola, und nun sind auch ihre Söhne Leonardo und Leandro Teil des Kooperativenverbands. »In meiner Familie leben vier Generationen von Kooperativistas.«
Nur wenige Jahre ihres Lebens hat Vargas außerhalb von Barquisimeto verbracht, der Hauptstadt von Lara, in der ein Großteil der Aktivitäten von Cecosesola stattfindet. In Barquisimeto hatte sie Informatik studiert und bekam anschließend ein Job-Angebot außerhalb. Damals war sie 26 Jahre alt. In der Firma saß sie den ganzen Tag im Büro. »Aber ich habe gemerkt, dass ich nicht mit Maschinen arbeiten wollte, sondern mit Menschen.« Vier Jahre hielt sie es aus, dann kehrte sie nach Barquisimeto zurück. Zurück in ihr Leben. »Hier arbeite ich nicht, hier lebe ich«, sagt sie.
Bei Cecosesola spricht man weniger von »Arbeit« als von Aufgaben, die übernommen werden. Lizeth Vargas’ Auflistung ihrer Rollen im Kooperativenverband geht schier ins Unendliche: Mehrere Tage pro Woche setzt sie sich für das »Zentrum für ganzheitliche Medizin« ein, das gleichzeitig Krankenhaus, Ärztehaus und Therapiezentrum ist. Dort praktiziert sie Massage und Hydrotherapie, eine Art Kneipp-Methode. Sie kümmert sich außerdem um die Buchhaltung und stellt Arbeitspläne zusammen. Daneben macht sie Öffentlichkeitsarbeit für Cecosesola und aktualisiert die Internetseite. Am Wochenende, wenn Bedarf ist, verkauft sie Obst und Gemüse auf einem der Märkte.
Bei Cecosesola arbeiten alle im kontinuierlichen Rotationsprinzip. An einem Tag kann man im Büro arbeiten, am nächsten die Flure wischen und am dritten kochen. Wie lange wer worin tätig ist, hängt von den persönlichen Neigungen, dem Können und dem jeweiligen Bedarf ab. Aktivitäten, die eine längere Schulungszeit voraussetzen, werden von den Kooperativenmitgliedern in der Regel jeweils über einen längeren Zeitraum übernommen. Wie lange Vargas Hydrotherapeutin bleibt, weiß sie noch nicht. »Die Arbeit selbst ist nicht so wichtig; wichtig ist, dass ich die ganze Zeit mit Freunden zusammen bin, mit meiner Familie, mit Menschen, die ich liebe.« Sie habe nie das Gefühl, zu arbeiten. Unter anderem liege das daran, dass sie keinen Chef habe. »Es gibt bei uns keine Hierarchien«, sagt Vargas. Es gibt keine Manager oder Präsidenten.

Chefs wurden nicht ersetzt
Doch so war es nicht immer. Anfangs war der Verband eine ganz normale Genossenschaft mit Chefetage und Angestellten, und so waren auch die einzelnen Kooperativen organisiert. Der Geschäftsführer verdiente fast doppelt so viel wie sein Assistent und viermal so viel wie die Sekretärinnen. Mit der Zeit wuchs die Unzufriedenheit bei vielen Kooperativistas. Sie kritisierten mangelnde Transparenz bei den Entscheidungen und hatten darüber hinaus das Gefühl, dass Leitungsfunktionen als Sprungbrett für politische Karrieren ausgenutzt wurden.
Die Strukturen brachen schließlich auf, als die »Stiftung für kommunitäre Organisation der Marginalisierten« 1972 Berater nach Barquisimeto aussandte. Sie organisierten Versammlungen für alle Arbeiter, auf denen zunehmend infragegestellt wurde, warum die Kooperativen als herkömmliche Betriebe fungierten, die lediglich dem Wohl der Mitglieder dienten. Stattdessen müsse es darum gehen, auch gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen und letztlich eine Gesellschaft nach den Vorstellungen der Kooperativistas aufzubauen.
Zur gleichen Zeit beteiligte sich ein Großteil der Mitglieder von Cecosesola an Demonstrationen gegen die Verdoppelung der Fahrpreise der lokalen Busunternehmen. Schließlich gründeten sie 1974 einen eigenen Fahrbetrieb, den »Servicio Cooperativo de Transporte« (SCT), als Genossenschaft und selbstverwalteten Betrieb der Fahrer und aller anderen Mitarbeiter. Obwohl der SCT vor allem wegen heftiger Blockade von außen 1980 schließlich scheiterte, bereitete er den Weg weg von der vertikalen Hierarchiestruktur hin zu mehr aktiver Teilnahme aller.
1982 kündigte der Geschäftsführer des Beerdigungsinstituts, und Cecosesola stellte keinen neuen ein. Auch als der Lagerverwalter ging, blieb die Stelle unbesetzt, genauso war es mit der Hausmeisterin. Die übrigen Mitarbeiter begannen, deren Aufgaben im Rotationsverfahren zu übernehmen. So lernten die Sekretärinnen, LKW zu fahren, die Fahrer beschäftigten sich mit Verwaltungsaufgaben. Schließlich wurde die Vergütung so geregelt, dass sich alle Beteiligten den erwähnten wöchentlichen Vorschuss auszahlten.
Wenn die Kooperativistas jeweils in einem neuen Bereich tätig werden, ist das eine Chance, den Horizont zu erweitern. Oft verbessert sich dadurch die Organisationsweise, und durch den größeren Austausch verstärkt sich das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Die einzelnen Kooperativistas lernen die Probleme, Schwierigkeiten und Herausforderungen des gesamten ökonomischen Organismus kennen. Ohne eine Chefetage müssen Einzelne immer wieder Initiative ergreifen. In einem gemeinschaftlichen Zusammenhang Individualität und Kreativität zu leben, bedeutet eine Wertschätzung jeder einzelnen Person. Diese Art, zu leben, »hilft mir, mich selbst als Mensch weiterzuent­wickeln«, sagt Lizeth Vargas.
Zur neuen Ordnung war es allerdings ein weiter Weg, und die Cecosesola-Mitglieder sehen den Transformationsprozess noch immer als im Anfang begriffen. Zunächst kam es zu Chaos, weil einige sich weigerten, Verantwortung zu übernehmen und in Abwesenheit eines Chefs einfach nicht mehr arbeiteten. »Bis die formal-hierarchischen Strukturen an Gewicht verloren, wurden viele Versuche unternommen, diese durch die Hintertür wieder einzuführen«, sagt Jorge Rath, ein Deutscher, der seit 14 Jahren Mitglied von Cecosesola ist. Dabei können Versammlungen die »Chefstruktur« ersetzen, meint Rath. »Dort hilft das Miteinander-Nachdenken, das vermeintlich Endgültige noch einmal infragezustellen.«

Das kollektive Gehirn entscheidet
Mittlerweile werden alle Entscheidungen im Konsens getroffen. Das System haben die Kooperativistas lokalen indigenen Traditionen entlehnt. Bei den Indigenen werden wichtige Entscheidungen vom Ältestenrat getroffen: Die Dorfältesten treffen sich zu Versammlungen und diskutieren so lange, bis ein Konsens gefunden wurde. »Der Ältestenrat, das sind bei Cecosesola alle Mitglieder«, erklärt Rath.
Doch alle Mitglieder können bei allen Versammlungen gar nicht anwesend sein: Pro Jahr werden, alle Lokal- und Regionalversammlungen mitgezählt, rund 3000 Versammlungen abgehalten, das sind knapp zehn pro Tag. Einige dauern mehrere Tage. Die Mitglieder kommen und gehen; in Hochzeiten sind mehr als 200 Menschen gleichzeitig anwesend. »Wir müssen nicht alles gemeinsam besprechen. Wir sind uns sicher, dass uns die anderen Mitglieder gut vertreten und dass sie uns mitteilen, was entschieden wurde«, sagt Vargas. In dem von Cecosesola publizierten Buch »Auf dem Weg. Gelebte Utopie einer Kooperative in Venezuela« heißt es: Manchmal bräuchten sie nicht einmal mehr darüber reden, um zu wissen, was alle denken. Cecosesola spricht von einer Art »kollektivem Gehirn«. Letztlich könne eine einzige Person eine Konsensentscheidung treffen, mit der alle anderen einverstanden seien.

Ökonomie des Vertrauens und des Bedarfs
Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind, so gesehen, das wichtigste Kapital. Wer neu in den Verbund einsteigen will, wird kein Personalbüro vorfinden oder einen Arbeitsvertrag erhalten. Ein Mitglied der Bewegung stellt den Neuling in einer Versammlung vor, auf der ein »Vertrauens-Vorschuss« ausgesprochen wird. Vertrauen, dass der neue Mensch mit besten Absichten kommt und von seinen Freunden in die Prozesse bei Cecosesola eingeführt wird. Mit der Zeit sollte sich das bestätigt finden – oder auch nicht. Dann ist der Vertrauensvorschuss verspielt. Viele verlassen den Zusammenhang wieder, oder es wird ihnen nahegelegt, diesen Schritt zu erwägen.
»Zu einer Gemeinschaft beizutragen und zugleich von ihr getragen zu werden, schafft eine kollektive Energie, die ständig vibriert, ständig Initiativen zum Schwingen bringt«, so versucht Jorge Rath, dieses Lebensgefühl in Worte zu fassen. »Es ist ein Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten und deren Entfaltung, auf Zuspruch in schwierigen Situationen und auch das Vertrauen, dass, wenn Kritik angesagt ist, diese auch geäußert und gehört wird.«
Die meisten Aktivitäten bei Cecosesola sind als Reaktion auf konkrete Lebensbedürfnisse entstanden. Nach Marktkriterien wird hier nicht gewirtschaftet. So war es beim Beerdigungsinstitut, so war es beim Busunternehmen, und so war es auch beim Bau des Gesundheitszentrums. Einige Mitglieder von Cecosesola sahen einen Bedarf für eine bezahlbare Gesundheitsversorgung in der Stadt. Drei Jahre wurde über die Machbarkeit eines so großen Unterfangens diskutiert: Auf den Versammlungen, auf den Märkten, zu Hause und mit Freunden. Woher sollten sie das Geld bekommen, was genau schwebte ihnen vor, und wie sollten sie die Idee umsetzen? Die Kooperativistas wollten mehr Raum für Gemeinschaftsflächen und Grünanlagen einplanen als für Behandlungsräume. Das fanden viele Ärzte zunächst verrückt. Doch einige ließen sich überzeugen, und vor vier Jahren war es dann soweit. Gebaut hat das Zentrum ein damals 24-jähriger Architekt, der schon von Kindesbeinen an im Prozess von Cecosesola aufgewachsen war. Nun gibt es hier unter anderen Chirurgen, Gynäkologen und Urologen. Darüber hinaus werden Akupunktur, Massagen und Lymphdrainage angeboten. Auch alle anderen Bewohner des Bundesstaats Lara können sich hier behandeln lassen. Damit sind die Kooperativistas ihrem Wunsch, breitere gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, wieder einen Schritt näher gekommen.
Auch die Gemüsemärkte, die Cecosesola seit 1983 betreibt, sind für alle Bewohner der Stadt offen. Für alle Obst- und Gemüsesorten zahlt man dort den gleichen Preis: eine Mischkalkulation aus den Produktionskosten für die einzelnen Produkte. Die Mitgliederfamilien der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften verdienen mehr als am Verkauf auf anderen Märkten, vor allem, weil die Zwischenhändler und die hohen Gehälter für Chefs und Manager wegfallen. Der Preis wird alle drei Monate gemeinsam von den Produzenten und den Verkäufern der Wochenmärkte festgelegt. Kriterium ist nicht: Je mehr, desto besser, sondern: Was ist genug, um meine Familie zu ernähren? 60 000 Menschen kaufen pro Woche auf den Cecosesola-Märkten ein. »Sie vertrauen uns, dass unser Gemüse immer frisch ist. Und das Vertrauen verspielen wir nicht«, sagt Lizeth Vargas.•


Johanna Treblin (32) ist Politikwissenschaftlerin, Umweltjournalistin und Autorin in Berlin und beschäftigt sich mit Stadtsoziologie.


Noch mehr Inspiration gefällig?
Georg Wolter (Hrsg.): Auf dem Weg. Gelebte Utopie einer Kooperative in Venezuela. Die Buchbinderei, 3. Auflage 2012

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