Ist die Luft in einer Diskussionsrunde zum Schneiden dick geworden? – Es gibt Wege, die Vielfalt der Perspektiven als Reichtum und nicht als Hindernis zu erleben.von Jara von Lüpke, erschienen in Ausgabe #22/2013
Ich sitze in einer hitzigen Diskussion. In vielen verschiedenen Worten wird über das Gleiche geredet – und dennoch aneinander vorbei. Die Kaffeetassen auf dem Tisch sind leer, die Wände um uns herum hängen voller Post-its. Die Mägen knurren, unsere Köpfe brummen. So viele Gedanken! Doch wollen wir eine gemeinsame Idee finden, um weiterzukommen. Wer öfters in Kleingruppen an Projekten arbeitet, kennt diese Qual der Wahl. Besonders in flachen hierarchischen Strukturen, wie sie meist in der Vereinswelt oder in jungen, unternehmerischen Gründungsteams zu finden sind, dauert die Entscheidungsfindung oft länger als die Planung des eigentlichen Projekts. Verschiedene Arten von Entscheidungen verlangen nach unterschiedlichen Lösungswegen. Wird etwas entschieden, das die Gruppe selbst betrifft, oder dreht es sich um etwas, das außerhalb der Gruppe liegt? Bei den Kaospiloten, einer Kreuzung aus Business- und Design-Schule, wo ich soziale Innovation und Prozessgestaltung studiere, erlebte ich beides. Wenn ich gemeinsam mit anderen Informationen über den Markt für die Gründung eines Upcycling-Unternehmens in Mexiko sammle, um strategische Handlungsmöglichkeiten und Geschäftsideen zu entwickeln, geht es nicht direkt um uns, sondern um das Projekt. Dennoch identifizieren wir uns auch in solchen Situationen allzuschnell mit den eigenen Ideen. »Kill your darlings«, sagen die Engländer, wenn es darum geht, die anfänglichen Lieblingsideen loszulassen, sie »sterben zu lassen«. Ein wichtiger Schritt in jedem kreativen Prozess ist, mich von genau den Dingen zu lösen, an die ich emotional gebunden bin.
Werde eine Perspektiven-Zauberin Im Kindergarten las mir der Nikolaus im Dezember immer wieder das Gleiche aus seinem großen, goldenen Buch vor: »Jara, weißt du, manchmal kann man auch nachgeben!«. Daran erinnern kann ich mich nicht mehr, aber aus Erzählungen weiß ich, dass ich schon als Dreijährige von seinem Schoß gesprungen bin und empört entgegnete: »Nein, muss man nicht!« Auch heute, wenn nach kreativen Brainstormings ein Entschluss fällt, tue ich mich manchmal sehr schwer damit, mich von meinen Lieblingsideen zu lösen. Wenn ich und andere Teilnehmer schon wie verkratzte Schallplatten klingen, weil wir unsere Standpunkte immer wieder kompetitiv wiederholen, greifen wir manchmal zu den »Sechs Denkhüten«. Mit dieser Methode der Gruppendiskussion von Edward de Bono – einem britischen Mediziner und Pionier in der Forschung des lateralen Denkens – kann ein ergiebiger Diskurs stattfinden, und gleichzeitig wird kein Blickwinkel außer Acht gelassen. Die verschiedenfarbigen Hüte entsprechen je einer Denkweise. So steht der weiße Hut für objektives, analytisches Denken und der rote Hut für den subjektiven und emotionalen Blick. Der gelbe Hut lässt einen optimistisch und auf das bestmögliche Szenario hinblicken. »Ich setz’ mal den schwarzen Hut auf« ist eine Redensart, die Kritik ankündigt. Bei den sechs Denkhüten schafft der schwarze Hut Raum für Skepsis und Risikobetrachtung. Der grüne Hut ist der Kreativität verschrieben, und der blaue Hut steht für den alles überspannenden Himmel, denn er gibt den ordnenden Überblick über den Prozess. Wer ihn trägt, ist aufgefordert, über nächste Schritte nachzudenken. Wichtig ist, dass alle am Prozess Teilnehmenden jeweils gemeinsam die Hüte wechseln und so parallel denken lernen. Um sich aus alten Denkmustern zu lösen, wird vorgeschlagen, dass alle Gesprächsteilnehmer das Problem gemeinsam aus einer Sichtweise betrachten. Erst wenn es dazu nichts mehr zu sagen gibt, wird ein anderer Hut und damit ein neuer Blickwinkel benutzt. Mit dem einen Hut auf dem Kopf mag es für mich einfach sein, Argumente zu entwickeln, mit einem anderen eher schwer – und das wird in der Runde von Person zu Person unterschiedlich sein. Die Methode bringt Wertschätzung für fremde Perspektiven und auch den Humor in angespannte Entscheidungsmomente zurück. Denn gleich, ob man nur so tut, als ob man sich große Hüte aufsetzt, oder sich wirklich welche bastelt – aus dem, ach, so wichtigen Treffen wird so etwas wie eine neumodische, etwas verrückte Zaubererversammlung.
Tauche ein in die Tiefe der Demokratie Der berührendste Entscheidungsprozess, an dem ich teilhatte, wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. Nach einem Jahr Zusammenarbeit verbrachte ich mit meinen 35 Kaospiloten-Kommilitonen drei Tage mit intensiven Gesprächen über unsere Kultur im Team. Auch wenn man sich gegenseitig schon lange kennt, gibt es eine Unzahl von Gründen, warum Menschen in großen Gruppen nicht sagen, was sie wirklich denken. Vielleicht befürchten sie, auf ein Tabuthema zu stoßen oder auf die Sicht der Mehrheit keinen Einfluss zu haben. Unter vier Augen kann es einfacher sein, die eigene Meinung glasklar auszudrücken. Um uns auf allen Ebenen aussprechen zu können, entschieden wir uns, mit dem Ansatz »Deep Democracy«, auch »Tiefe Demokratie« genannt, zu arbeiten. Die Moderationsmethode Deep Democracy basiert auf dem Ansatz der prozessorientierten Psychologie des Amerikaners Arnold Mindell. Mittlerweile existieren verschiedene Spielarten. Am bekanntesten ist die von seinen beiden Schülern Myrna und Greg Lewis ausgearbeitete Methode. Das Paar entwickelte Mindells Gedanken weiter und wandte sie auf alltägliche Situationen in ihrem Heimatland Südafrika an, das nach dem Ende der Apartheid von tief verwurzelten rassistischen, kulturellen und geschlechtsspezifischen Spannungen gezeichnet war. Tiefe Demokratie weiß, dass die Stimme der Minderheiten eine Weisheit in sich trägt, die für die gesamte Gruppe wertvoll zu hören ist. Emotionen, Werte, unsichtbare Rollen und all das, was sonst nicht gesagt werden würde, kommen hier zum Vorschein. Es entsteht ein geschützer Raum für konstruktive Konflikte. In unserem Klassenzimmer in Dänemark stellten wir zu Beginn alle Stühle zur Seite. Anstatt während des Gesprächs im Kreis zu sitzen, standen wir in unserem Raum und waren ständig in Bewegung. Wenn ich einer Aussage zustimmte, stellte ich mich nah an den Sprechenden heran. Wenn ich diese Perspektive nicht teilen konnte, ging ich räumlich auf Abstand. Die unterschiedlichen Sichtweisen wurden im Raum greifbar. Niemand kann sich heraushalten, denn der eigene »Standpunkt« ist für alle sichtbar. Gerade wenn ich mich weit entfernt hinstelle, wird meine Meinung als Gegenpol für alle anderen interessant.
Lass die Schatten tanzen Deep Democracy arbeitet mit Rollen und Beziehungen. Eine Rolle kann durch eine Person ausgedrückt werden. Es kann die eigene Meinung und Emotion sein, aber auch eine archetypische Rolle wie die des Opfers oder Täters, des Helfers oder des Bedürftigen. Es wird nicht bewusst entschieden, wer welche Rolle spielt, denn dazu geht alles viel zu dynamisch vor sich. Jede Person trägt das Potenzial in sich, alle möglichen Rollen einzunehmen und auszudrücken. Grundlegend ist hier die Annahme, dass das Persönliche mit dem Universellen verbunden ist. Neben der eigenen Identität haben alle auch Zugang zu den größeren Mustern, in denen sich die Gruppe bewegt. Die Meinungen und die Rollen drücken den »Zeitgeist« der Gruppe aus: die Gedanken und Gefühle, die in genau diesem Augenblick im Raum zwischen uns gegenwärtig sind. Und diese lassen sich so nicht einfach mit nur einer Person identifizieren. Nehme ich zum Beispiel die Rolle von jemandem ein, der von der Gruppe enttäuscht ist, drücke ich etwas aus, was im Feld zwischen uns Realität ist – und zwar wahrscheinlich nicht nur für mich allein. Spannend ist es dann, wie ich meine Enttäuschung ausdrücke. Wenn ich ehrlich bin, werden Wut und Frustration darüber, dass wir uns nicht an Absprachen halten, in meiner Aussage sichtbar. Schattenrollen, bisher im Verborgenen, können zum Vorschein kommen. Ich stelle mir diese Rollen wie ein Marionettentheater vor, in dem sich zwei Puppen unterhalten, während hinter einer erleuchteten Stoffwand auf der Bühne die Umrisse einer dritten Figur zu erkennen sind. Während die Puppen im Vordergrund in eine Diskussion verwickelt sind, wirft die Marionette hinter der Stoffwand ab und zu einen Satz ein. Die Puppen im Vordergrund sind sich der Schattenpuppe nicht bewusst und glauben, eine von ihnen hätte die Bemerkung gemacht. Nicht einordnen zu können, was zwischen den Zeilen ausgedrückt wird, und damit in einer Rolle gefangen zu sein, ist im Puppentheater lustig, in Gruppenprozessen jedoch schmerzhaft.
Den ganzen Eisberg sehen Von einem Eisberg sind nur die zehn Prozent über dem Wasserspiegel zu sehen. Wenn sich eine Gruppe zusammenfindet, gibt es auch hier eine bewusste und eine verborgene Agenda. In der tiefen Demokratie gibt es fünf Schritte, um mehr als die Spitze des Eisbergs sichtbar zu machen. Die ersten vier Schritte finden bildlich noch oberhalb des Meeresspiegels statt. Der erste Schritt ist eine Mehrheitsentscheidung – doch nicht als Endstation. Denn anschließend wird nach Gegenstimmen gesucht; die Menschen werden ermutigt, ihre Argumente auszusprechen. Im dritten Schritt wird die Minderheit gefragt, was geschehen müsste, damit sie der Entscheidung zustimmen kann. So werden andere Perspektiven hinzugefügt, und im vierten Schritt ist manchmal schon die Lösung gefunden. Manchmal reicht es jedoch nicht aus, sich nur an der Oberfläche des Gruppenbewusstseins zu bewegen. Ins Eiswasser lässt sich tauchen, indem die Moderatorin quasi die »Lautstärke« des Gesprächs »aufdreht«: Wenn ein Teilnehmer um den heißen Brei herumredet, kann die Moderation versuchen, diese Meinung direkt auszusprechen, also ein »Lautsprecher« sein. Die Luft in unserem Klassenzimmer war bis zu diesem Moment zum Schneiden dick gewesen. Wir hatten uns gegenseitig beim Sprechen nicht angesehen. Nur wenige Menschen im Raum sprachen sich aus, und wenn sie es taten, passten ihre Körpersprache und die gesprochenen Worte nicht zusammen. So weit von meinen Kommilitonen entfernt hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Durch den klaren Hinweis der Moderatorin auf die im Raum anwesenden Schattenrollen und ihre Verdeutlichung wandelte sich jedoch die Stimmung. Plötzlich waren alle wie elektrisiert, denn der Elefant stand nun sichtbar für alle im Raum.
Stehe zu dir – und gib nach In solchen Augenblicken wird in Deep-Democracy-Prozessen dazu eingeladen, in den Konflikt einzutreten. Sinn des Konflikts ist es, als Gruppe zu wachsen und in Beziehung zueinander zu bleiben. Es geht nicht darum, eine persönliche Schlacht zu gewinnen. In einem tiefen-demokratischen Prozess vereinbaren alle Beteiligten, sich ehrlich auszudrücken und zu ihrer Meinung zu stehen. Dies unterscheidet sich stark von anderen Konfliktlösungswegen, bei denen die beteiligten Seiten dazu angehalten werden, zuerst die jeweils andere Position besser zu verstehen. Abwechselnd sind hier die Teilnehmer dazu aufgefordert, sich alles von der Seele zu reden und dabei Verantwortung für ihre eigenen Gefühle zu übernehmen. Ein Konflikt löst sich meistens dann langsam, wenn Menschen beginnen, in ganz unterschiedlichen Worten das Gleiche zu sagen. Inzwischen lerne ich langsam, nachzugeben. Gruppenarbeit lehrt mich, Probleme aus völlig anderen Blickwinkeln zu betrachten und neue Perspektiven schätzen zu lernen. Wir sollten nie in Rollen steckenbleiben. Anstatt der Tendenz zu folgen, Kritik mit Gegenstimmen zu beantworten und Andersmeinende auszusondern, möchte ich in schwierigen Entscheidungssituationen die kritischen Stimmen einladen und fragen, ob auch andere deren Sichtweise teilen. Wenn es Meinungsverschiedenheiten darüber gibt, in welche Richtung die Gruppe gehen soll, möchte ich mich und andere fragen: »Was braucht es für dich, damit du mitgehst?«. Denn gleich, in welche Richtung wir losgehen: Auf allen Entscheidungspfaden – besonders mit Menschen mit ebenso großem Willen wie dem meinigen – gibt es viel zu erleben und zu lernen, bis sie uns an die nächste Weggabelung führen.
Jara von Lüpke (23) studiert soziales Unternehmertum und Prozess-Design bei den »Kaospiloten«. Sie schreibt Geschichten, die Mut machen, und vernetzt Menschen und Ideen.