Permakultur

Wovon die Pflanzen leben

Ernähren sich Pflanzen wirklich nur von Licht, Wasser, Kohlendioxid und Mineralien? Ein Besuch beim ­Bodenforscher Herwig Pommeresche in Norwegen kann Weltbilder einstürzen lassen.von Dorothea Baumert, erschienen in Ausgabe #22/2013
Photo

Wovon ernähren sich Pflanzen? – Sie meinen, diese Frage klinge harmlos und sei notfalls mit einem Blick ins Konversationslexikon (Stichwort »Phytotrophologie«) schnell zu beantworten? Das dachte ich auch. Bis ich Herwig Pommeresche kennenlernte und wir uns ein ganzes Wochenende lang über den Stoffwechsel von Pflanzen unterhielten. Mit seiner ausgefallenen Antwort auf die vermeintlich simple Frage krempelte er mein Verständnis vom Leben auf der Erde um. So wie jeder mikroskopisch kleine Vorgang im Ökosystem Einfluss auf das große Ganze nimmt, hat meine Auffassung von der Pflanzenernährung Einfluss auf mein Weltbild – das dank ­Herwig nun definitiv lebendiger ist.
An der norwegischen Westküste, 60 Kilometer südlich von Stavanger, hat sich der gebürtige Hamburger vor mehr als drei Jahrzehnten niedergelassen. Auf einem Felsen baute Herwig ein märchenhaftes Holzhaus, und drumherum schuf er einen Garten, der nun seine Familie mit »lebender Nahrung« versorgt. Das Schlüsselwort für Herwigs Garten, aber auch für sein Lebenswerk, ist Erde, insbesondere Humus. Um auf fruchtbaren Beeten Gemüse anbauen zu können, musste der Zuzügler den sandigen Boden der norwegischen Küste mit Humus anreichern. Entlang dem Felsen zimmerte er zunächst Holzkonstruktionen für kleine Hochbeete, die er dann mit organischem Material aus der Umgebung füllte. Das Bodenniveau erhöhte sich seitdem um gut einen halben Meter, die Erde ist um einiges lebendiger als zuvor, und der Felsen im Hintergrund fungiert als Wärmespeicher.
Aber nicht nur Architekt, Gärtner und Hausmann ist der 1938 geborene Herwig Pommeresche, sondern auch Dozent für Permakultur, Autor und, wie er selbst sagt, »Gedankenwerker«.
Seine vielseitigen und ausgefallenen Gedanken kreisen meist um das Thema Humussphäre – eine seiner vielen Wortneuschöpfungen, die die Zone zwischen Atmosphäre und Lithosphäre bezeichnet. Und so wie beinahe alles irdische Leben von der Erde gespeist wird, führt des Privatforschers Gedankenstrom vom Erdboden zum Umgang des Menschen mit der Erde, zu Landwirtschaft und Wissenschaft. Schriftlich festgehalten sind seine Thesen in dem 2004 erschienenen Buch »Humussphäre. Humus – Ein Stoff oder ein System?«, welches bereits in der Oya-Ausgabe 7 besprochen wurde. Das Manuskript zum neuen Buch »Symbio« will nur noch korrekturgelesen werden.

Wovon ernähren sich Pflanzen?
Kommen wir zurück zu der Frage, die den Stein ins Rollen bringt: »Wovon ernähren sich Pflanzen?« Aristoteles’ Ansicht, wonach Pflanzen von Humus leben, also von abgestorbenem, organischem Material, hat die Wissenschaftswelt spä-testens seit Justus von Liebig verworfen. Der entwickelte 1840 die sogenannte Mineraltheorie, die besagt, dass Pflanzen wasserlösliche, in der Erde befindliche Mineralsalze aufnehmen. Im Grund ist diese These noch heute allgemein anerkannt. Wasser, Kohlendioxid und eine ganze Reihe von Ionen, wovon die wichtigsten Nitrat, Phosphat und Kalium (»NPK«) sind, werden in jedem Biologielehrbuch als Nahrung der Pflanzen postuliert. Von der Annahme, dass Pflanzen aus anorganischen Stoffen mit Hilfe von Sonnenlicht organische Energiereserven herstellen (Stichwort »Photoautotrophie«), ist der Schritt zum NPK-Dünger nicht weit. Liebigs Schlussfolgerung aus der Mineraltheorie war jedenfalls die Entwicklung eines wasserlöslichen Düngers auf Phosphatbasis. Die heute weitverbreiteten Praktiken der Landwirtschaft, wie die Verwendung von NPK-Dünger und Pestiziden, Monokulturanbau sowie Einsatz von gigantischer Technik zur Ertragssteigerung, sind hauptsächlich an der allgemeinen Degeneration der Böden schuld. Doch die zugrundeliegende Mineraltheorie kommt aus der Chemie, und nicht aus der Biologie, der »Lehre vom Leben«. Und hierin, meint Herwig, liege die Crux: Die anorganische Chemie handle eben von »toten« Stoffen und deren Elementen. Das Leben in der Humussphäre mit Hilfe der Elemente des Periodensystems erklären zu wollen und eine »Totstoffwissenschaft« auf Lebensprozesse anzuwenden, sei paradox.

Mikroben statt Minerale
Das Erklärungsmodell, das Pommeresche anbietet, behält
hingegen das Lebendige im Blick. Es sei nicht nötig, meint der Privatforscher, dass organische Materialien in langen Abbauprozes- sen erst mineralisiert werden, um von den Wurzeln der Pflanzen aufgenommen werden zu können. Vielmehr seien Pflanzen in der Lage, lebendes Protoplasma in Form ganzer Mikroorganismen oder auch nur einzelner Zellbestandteile zu sich zu nehmen. Dies käme der Ernährungsweise von Tieren und Menschen nahe. In seiner Argumentation stützt sich der umfassend belesene Mann sowohl auf Studien ähnlich querdenkender Wissenschaftler als auch auf eigene Experimente. So verweist er auf Bargyla Rateaver, die 1993 die Endozytose bei Pflanzen beschrieben und fotografisch dokumentiert hat. Bei diesem Vorgang wird eine lebende Zelle von außen in eine Pflanzenzelle durch Einstülpung eingespeist und in Stoff und Funktion transformiert. Herwig erklärt die Endozytose detaillierter: »Hierbei geschieht die Einverleibung von Molekülen aller Größen, wie auch von Viren, Bakterien und anderen Einzellern durch Einbuchten der Zellwand nach innen und schließliches Abschnüren von Transportbläschen für den Transport der eingeschlossenen Nahrung durch das Protoplasma.«
Mit der Endozytose bei Pflanzen liefert Rateaver ein bestätigendes Detail für Hans Peter Ruschs Verständnismodell vom »Kreislauf der lebenden Substanz« aus den 1950er/60er Jahren. Laut Rusch lässt jeder Organismus nach seinem Tod »lebende Substanz« zurück, die in den Stoffkreislauf eingeht und allen anderen Lebewesen zur Verfügung steht. Der Organismus selbst mag zwar sterben, seine Bestandteile aber werden in anderen weiterleben. Hier lässt sich an Hugo Schanderl anknüpfen, der 1947 experimentell zeigte, dass einzelne Zellorganellen von sterbenden Pflanzenzellen durch Veränderung ihrer Form selbständig weiterleben können. Aus Mitochondrien und Chloroplasten, die bis dato nur Teile einer Pflanzenzelle waren, züchtete er lebendige, vermehrungsfähige Mikroben und nannte den Vorgang Remutation.
Rusch und Schanderl machen deutlich, dass der Tod eines Organismus nicht die komplette Destruktion aller Zellen und Zellbestandteile zur Folge hat. Herwig Pommeresche bezieht sich auf die Remutation nach Schanderl, wenn er schreibt: »Das wäre eine Bestätigung für die Deutung des Begriffs ›Verwesen‹ als ein reelles ›Umwesen‹; das Leben geht weiter, von einem Wesen zu anderen Wesen.« – Erinnert das nicht an Aristoteles’ Behauptung, der Humus, also abgestorbenes, organisches Material, sei die Kraft, aus der sich das Leben entwickelt?

Der grüne Faden führt zu einer lebendigen Landwirtschaft
Wenn man nun wie Herwig Pommeresche und seine Vorden-
ker eine andere Auffassung von der Ernährung der Pflanzen hat und nicht an die Mineraltheorie glaubt, so folgt daraus eine komplett andere Landwirtschaft. Verschiedene Ansätze zu einem ökologischen Landbau ziehen sich als »grüner Faden« durch die Geschichte der Bodenbearbeitung. Während sich die sogenannte konventionelle Landwirtschaft der technischen und industriellen Errungenschaften bediente und schließlich in einer Technokratisierung kumulierte, gab und gibt es immer wieder Impulse zu einem anderen, natürlicheren Umgang mit dem Bodenleben. Herwig nennt die Werke von Raoul Francé und Annie Francé-Harrar zum Edaphon (1917), von Rudolf Steiner zum Biodynamischen Landbau (1924) sowie Hans Peter Rusch und Hans Müller zur organisch-biologischen Landwirtschaft (1950), die in ihren Verständnismodellen die Lebendigkeit der Erde im Blick haben und alternative Bewirtschaftungsmethoden vorschlagen. Von den Gedanken und Erfahrungen dieser Vorreiter gespeist, hat Herwig ein eigenes Verständnismodell entwickelt, das er »Symbio« nennt. Damit soll der grüne Faden fortgesetzt und der Weg zu einem lebensfördernden, statt lebensvernichtenden Umgang mit der Erde gezeichnet werden. Als Anerkennung seiner »Leistungen für eine Förderung des unmittelbaren Naturerlebnisses und der Beziehung zur Natur« wurde Herwig Pommeresche im Jahr 2010 die Francé-Medaille ­verliehen.

Von der Theorie zur Praxis der Erdisierung
Für Herwig ist es eine Verschwendung, lebendiges Material so lange im Kompost zu lagern, bis es den größten Teil seiner Energie verloren hat. Bei ihm werden pflanzliche Küchenabfälle deshalb mit einem Haushaltsmixer zerkleinert und direkt ans Bodenleben verfüttert. Der Dünger gilt in erster Linie den Regenwürmern und Mikroorganismen, die ihr »Futter« zu Erde verarbeiten. Zusätzlich zu den gut genährten Kleinstlebewesen können die Pflanzen in Herwigs Garten aber auch einzelne Zellen oder Zell­bestandteile der – vermeintlichen – Küchenabfälle aufnehmen. Mit dieser Methode, die Herwig »Erdisierung« nennt, erzielt der Gärtner etwa Ernten von 18,5 Kilogramm Zwiebeln pro Quadratmeter.
Solche gärtnerischen Erfolge können zwar nicht als Beweis für die Theorie der Endozytose gesehen werden. Doch bringen sie das Dogma der Mineraltheorie zu Fall, indem sie zeigen, dass Pflanzen ohne NPK um einiges besser gedeihen. Ralf Otterpohl von der TU Hamburg greift nun das Prinzip der »Erdisierung« auf und baut mit seinen Studenten einen Bodenfuttertopf (siehe Oya Ausgabe 18).
Dass die Frage nach der Ernährung der Pflanzen von immenser Bedeutung ist, steht für mich nun fest. Denn die Antwort entschei- det über des Menschen Beziehung zur Natur, über Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion. Mir hat der Blick in die Mikrobiologie auch zu einer tieferen Einsicht verholfen: Alles ist Leben. Selbst Tod bedeutet Leben – zwar in anderer Form und für andere Wesen, aber es ist eindeutig ein Weiterleben in Unendlichkeit. •

 

Dorothea Baumert (24) studierte Kunstgeschichte und Allgemeine ­Rhetorik, hat eine Zusatzausbildung in Permakulturdesign und engagiert sich für das Projekt »Summer of Soil«.

Erdiges zum Nachlesen und Nachmachen
Literatur:
• C. Lorenz-Ladener: Kleine grüne Archen. Passivsolare [Erd-]Gewächshäuser selbstgebaut. 2012
• H. Pommeresche: Humussphäre. Humus – Ein Stoff oder ein System? 2004
• B. u. G. Rateaver: Organic Method Primer Update. 1993
• H. P. Rusch: Bodenfruchtbarkeit. 1968
• H. Schanderl: Botanische Bakteriologie und Stickstoffhaushalt der Pflanzen auf neuer Grundlage. 1947
Internet:
Videos zur Erdisierung auf Youtube: Stichwort »Herwig Pommeresche«.

weitere Artikel aus Ausgabe #22

Photo
Naturvon Svenja Nette

Der Boden unter unseren Füßen

 Anfangs gab es nichts außer einer Einladung nach Schweden – aber eine Einladung mit großer Anziehungskraft. Daraus soll eine weltweite Bewegung werden, die von innen heraus ihre ­eigenen Strukturen entwickelt. Kann das gelingen?Der Boden ist das zentrale Element einer

Photo
(Basis-)Demokratievon Leonie Sontheimer

E-Demokratie in Echtzeit

Demokratie ist ein Prozess dauerhaft fließenden Wandels. Dieses Verständnis haben die Mitglieder des Vereins Liquid Democracy. Sie verfolgen keine Utopie, sondern arbeiten an Konzepten, die im Hier und Jetzt umzusetzen und jederzeit modifizierbar sind.

Photo
Gemeinschaftvon Leonie Sontheimer

Gemeinsam glücklich?

Wird für die Gemeinschaftsküche eine Geschirrspülmaschine angeschafft? Werden Schuhe im Hausflur ausgezogen? Wird die elektronische Strahlenbelastung durch das WLAN-Netz toleriert? In Wohnprojekten zeigt sich an solchen Fragen, wie herausfordernd Konsensfindung ist.

Ausgabe #22
Entscheidungskunst

Cover OYA-Ausgabe 22
Neuigkeiten aus der Redaktion