Ist das Konzept von Industrie auch in einer enkeltauglichen Welt denkbar?von Malte Cegiolka, erschienen in Ausgabe #24/2014
Was wären wir heute ohne die Industrie? Kaum ein Ding in unserem Leben stammt nicht aus der Massenproduktion, die in ein komplexes globales Handelssystem eingebettetet ist. Selbst für ein Werkstück aus dem Handwerk wurden im Fertigungsprozess mit Sicherheit Geräte verwendet, die aus dem industriellen System stammen. Industrie ist wegen ihres hohen Technisierungsgrads, er verzweigten Logistik und ihrer Planungstiefe im Vergleich zum Handwerk sehr kapitalintensiv und rentiert sich nur durch den Absatz großer Stückzahlen – das alles bedingt stetiges Wachstum. Wer viel produziert, braucht auch viel Ausgangsmaterial und eine Menge Energie. Wälder verschwinden von der Landkarte, ganze Regionen fallen dem Tagebau zum Opfer. Allmählich scheint die Industrie selbst das Schwinden der Ressourcen zu erkennen. Das zu erwartende Zukunftsszenario, das Ugo Bardi in »Der geplünderte Planet« – seinem Bericht an den Club of Rome – abbildet, prophezeit einen massiven Abfall der industriellen Produktion ab 2015 infolge von Ressourcenverknappung. Die Umweltverschmutzung soll dagegen erst kurz vor Mitte des Jahrhunderts einen Höhepunkt finden, was die Ökosysteme weltweit an ihre Belastungsgrenzen bringen dürfte. Anfang Dezember bezeichnete ein Bericht der Bundesanstalt für Geowissenschaften die Versorgung mit Rohstoffen als »Achillesferse für den Technologiestandort Deutschland«. Auch wenn sich dies zunächst vor allem auf marktbedingte Verknappung bezieht, ist es bezeichnend, dass die Rohstoff-Frage damit erstmals öffentlich problematisiert wird. Zwar gibt es immer mehr Unternehmen – und hier sind nicht die »Greenwashing« betreibenden Firmen gemeint –, die versuchen, möglichst umweltfreundlich zu produzieren. Doch scheinen viele Prozesse nicht zu Ende gedacht zu werden. So wird in der Öffentlichkeit die Kohlendioxid-Neutralität eines Produkts mit der Aufhebung schädigender Einflüsse auf die Umwelt gleichgesetzt, aber die für den Herstellungsprozess nötigen Ressourcen werden dabei nicht berücksichtigt. Auch um schädigende Abfälle kommt man in der Regel nicht herum. Solange jedoch Kreisläufe nicht geschlossen werden, liegt kein nachhaltig gutes Konzept vor. Die Vertreter eines »Grünen Wachstums« halten hier immer noch an einer angeblich möglichen Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Naturverbrauch durch Ressourceneffizienz fest, obwohl die Realität und viele Studien zu Rebound-Effekten (siehe Seite 33) beweisen, dass dies ein vergeblicher Versuch ist, jegliche Veränderung, die die »schöne neue Welt« des Industriezeitalters in Frage stellt, zu verhindern. Auch wenn die Kohlendioxidemissionen auf magische Weise abgeschafft werden könnten und Maschinen durch bahnbrechende Effizienz den Energiebedarf der Industrie um 50 Prozent sinken ließen, zögerten ressourcenschonende Maßnahmen die Erschöpfung des Planeten bloß hinaus.
Mach was aus Gras Wie ließe sich beim Thema Nachhaltigkeit an der Wurzel ansetzen? Schließlich empfinden die meisten Menschen viele Produkte der Industrie als segensreich, etwa im Bereich der Kommunikation oder der Medizin. Um aber die dafür nötige Elektronik herzustellen, sind Hunderte von Materialien notwendig, die in der ganzen Welt zusammengeklaubt oder in chemischen und energieaufwendigen Verfahren geschöpft werden. Lokal und handwerklich sind solche Prozesse kaum nachzuahmen. Wie müsste also das Konzept »Industrie« verändert werden, damit es als Ganzes segensreich wirkt? Das Cradle-to-Cradle-Konzept erscheint hier als der bisher beste Ansatz, um über den CO2-Fußabdruck hinaus nachhaltigere Produktion in großem Maßstab stattfinden zu lassen. Die Firma Biowert aus dem Odenwald ist dafür beispielhaft. Sie stellt, ausgehend von regionalem Wiesengras, verschiedene ökologische Alternativen zu herkömmlichen Materialien her. Der Kunststoff »AgriPlast«, der sich per Spritzgussverfahren in beliebige Formen bringen lässt, ist eines ihrer Aushängeschilder. Er wird zum Großteil aus Gras und zu einem Viertel aus recyceltem Polypropylen hergestellt. Damit ist er eine weitgehend ökologisch nachhaltige Variante im Plastikangebot, das in der Regel zu hundert Prozent auf Erdöl basiert. Fast noch interessanter als die Produkte selbst ist der Produktionskreislauf: Aus dem Pflanzenmaterial werden zunächst Fasern gewonnen. Diese können entweder zur Hausdämmung verwendet oder in Kombination mit dem Polypropylen zu Plastik weiterverarbeitet werden. Als Nebenprodukt der Grasverarbeitung entsteht ein ökologischer Dünger, der wiederum auf den Wiesen ausgebracht werden kann. Aus dem Produktionszyklus können zudem Biomasse zur Stromversorgung im eigenen Biogaskraftwerk sowie das für die Verarbeitung benötigte Wasser gewonnen werden. Die im Prozess entstehende Abwärme wird für Trocknungsvorgänge und die Warmwasseraufbereitung genutzt. Damit ist das Unternehmen energetisch und wassertechnisch autark und hinterlässt einen sehr geringen ökologischen Fußabdruck. Eine Kreislaufwirtschaft ist ohne Frage die einzige Möglichkeit, die gegenwärtige Weltbevölkerung und ihre nachfolgenden Generationen mit Rohstoffen zu versorgen. Dabei kommt das Biowert-Modell einem geschlossenen Kreislauf schon sehr nahe. Doch birgt es nicht auch Gefahren? Was wäre, wenn die letzten verfügbaren Flächen des Planeten mit Grasplantagen oder ähnlichen Kulturen bedeckt wären, wenn Baustoffe die ohnehin schon starke Flächenkonkurrenz zwischen Energiepflanzen und Nahrungsproduktion weiter verstärken würden? Jede Fabrik ist auf die Instandhaltung von Maschinerie und Elektronik angewiesen. Damit ist sie von Maschinenherstellern abhängig, die ihrerseits nicht ohne Stahl- und Kupferwerke – also auch nicht ohne Bergbau – auskommen.Um alle Akteure in dieser Produktionskette miteinander zu verbinden, bedarf es einer ausgefeilten Logistik in Form von Kommunikations- und Verkehrsnetzen. Keiner dieser Bereiche kommt ohne fossile Energieträger aus, und überall besteht Bedarf an verschiedensten Erzen. Mit dem Versiegen entweder der mineralischen Ressourcen oder der fossilen Energieträger kann also auch die nachhaltigste Plastik-Fabrik nicht bestehen.
Eine Postwachstums-Industrie? Müssen wir schließlich doch ohne Telefon und Herzschrittmacher auskommen? Wenn wir uns vorstellen, dass diese Objekte in einer Wirtschaft nach heutigem Modell entstehen müssten, wahrscheinlich schon. In einer gewandelten Konsumkultur aber, wie sie beispielsweise Niko Paech beschreibt, wäre die Warenproduktion eng mit den Grundbedürfnissen der Menschen verknüpft. Kapitalintensive Betriebe könnten gut gemeinschaftlich getragen werden – ohne den Druck, durch hohe Absatzzahlen Kredite finanzieren und wachsen zu müssen. Während heute Steuern für den Abbau von Kohle oder zur Stimulation von wahnwitzigem Konsum ausgegeben werden, könnten in Zukunft Industriebetriebe gemeinschaftlich über Abgaben getragen werden. Sinnvollerweise wären diese dann staatliche, kollektiv oder genossenschaftlich organisierte Unternehmen, die transparent und im Auftrag der Bürger all jene Güter produzierten, die nicht handwerklich hergestellt werden können, aber für unbedingt notwendig gehalten werden. Die Zahl der Fabriken – und damit das Volumen der industriellen Güterproduktion – würde so auf ein Minimum reduziert und könnte in Kombination mit konsequentem Recycling, das schon bei der Produktkonzeption berücksichtigt würde, weitestgehend ohne fossile Materialien auskommen. Die Entwicklung der Produkte würde an Langlebigkeit, Multifunktionalität und Reparierbarkeit festgemacht werden, so dass eine kontinuierliche Reduktion des Ressourcenverbrauchs eingeleitet würde. Noch ist das freilich reine Zukunftsträumerei. Die nötigen Veränderungen im Wirtschaftssystem wären so grundlegend, dass ihre Umsetzung äußerst fraglich erscheint. Doch wer weiß, ob es nicht in naher Zukunft neben der solidarischen Landwirtschaft auch ein erstes solidarisches Industrienetz geben könnte? Es könnte beispielsweise, von lokalem Ökostrom betrieben, langlebige Glühbirnen aus zu hundert Prozent wiederverwertetem Material herstellen – und der Strom für ihren Betrieb käme aus gleichermaßen lokal und nachhaltig hergestellten Windrädern. •
Malte Cegiolka (21) studiert nach einem Freiwilligenjahr in Argentinien an der Fachhochschule Eberswalde Naturschutz.