Mit dem Zimmerer Harry Mayer auf der Suche nach der Verbindung von Herz und Hand.
von Dieter Halbach, erschienen in Ausgabe #27/2014
Harry ist Zimmerer und baut seit 15 Jahren Häuser. Im Ökodorf Sieben Linden hat er die Leitung der aktuellen Baustelle übernommen. Er sagt, er sei Handwerker geworden, weil er auf eine bestimmte Art in der Welt stehe und stehen wolle. Von meinem Laptop aus beobachte ich, wie kraftvoll er inmitten der physischen Wirklichkeit wirkt. Darum beneide ich ihn. Harry kommt etwas zu spät zu unserer Verabredung. Ich frage ihn, was passiert ist. »Heute wollte nichts richtig funktionieren«, klagt er. »Vielleicht, weil ich zu zielorientiert war … und weil ich rechtzeitig hier sein wollte. Ich habe nur geflucht, weil nichts gepasst hat. Ich selbst komme durch solche Phasen gut hindurch. Schwierig wird es erst, wenn andere dazukommen. Läuft nicht alles so, wie es besprochen war, sage ich sehr deutlich meine Meinung. Die Kollegen empfinden das manchmal als zu scharf, zu aggressiv.« Harry scheut nicht das klare Wort; manchmal hat er dann einen bohrenden Blick. Aber ich kenne ihn auch als einen sehr weichen Menschen. Harry, was liebst du an deiner Arbeit? »Ich arbeite gerne mit meinen Händen. Nach der Ausbildung und einigen Baustellen habe ich ein Architekturstudium begonnen, aber gemerkt, dass das nichts für mich ist. Ich will die Dinge anfassen, zusammenfügen und etwas entstehen lassen. Auch die Materialien an sich ziehen mich an. Holz riecht gut, es lässt sich gut bearbeiten.« Der Duft von Holz lässt mich immer an die Holzwerkstatt im Keller meines Großvaters denken – an diesem Ort war die Welt in Ordnung, dort erlebte ein Mensch seine Gestaltungskraft. Der Soziologe Richard Sennett hat dieses Gefühl der Selbstwirksamkeit durch Handwerk schön in Worte gefasst: »Den größten Stolz empfinden Handwerker im Blick auf die Fertigkeiten, die sie einem Reifungsprozess verdanken. Die Langsamkeit der Zeit im Handwerk ist eine Quelle der Befriedigung. Die Praxis prägt sich dem Körper ein und macht die Fähigkeit zu unserer eigenen.« Zugleich geht Handwerk über den einzelnen hinaus, wie der Reformpädagoge Adolphe Ferrière schrieb: »Keine Beschäftigung erlaubt ein gemeinsames Arbeiten besser als die Handarbeit. Dieses gemeinsame Arbeiten nun weckt den Sinn für Solidarität und ist dadurch für die Welt von allergrößter Bedeutung.«
Führung und Gemeinschaft Harry, wie steht es mit der sozialen Kommunikation unter Handwerkern? »Ich habe schon in verschiedenen Positionen auf Baustellen gearbeitet. Dabei erlebte ich auch schon mal, dass mich jemand fertigmachte. Inzwischen habe ich leider die Erfahrung machen müssen, dass es anderen mit mir auch so geht.« Baustellen sind fast ausschließlich Männergemeinschaften. Kameradschaft bedeutet ja traditionell, dass die Menschen so miteinander verkettet sind, dass es nur funktionieren kann, wenn jeder alles gibt. »Wenn ich eine Konstruktion betrete, die ein anderer hingestellt hat, muss ich mich darauf verlassen, dass sie hält«, erklärt Harry. »Es gibt Situationen, da hängt mein Leben von der Arbeit eines anderen ab. Wenn wir als Bautrupp in ein paar Wochen ein Haus aufrichten, in dem Menschen jahrelang wohnen und sich wohlfühlen wollen – das ist schon etwas Besonderes.« Diese Art von Verbundenheit miteinander bräuchten wir überall. Wir leben auf dieser Erde, in unserem gemeinsamen Haus. Harry meint, dass es längere Zeit braucht, um einen Gemeinschaftsgeist auf der Baustelle entstehen zu lassen. »Wenn Handwerker in einer Firma über eine lange Zeit an vielen Projekten zusammenarbeiten, kann eine besondere Vertrautheit entstehen, die sich klar auf die Arbeit bezieht. In unseren Zusammenhängen im Ökodorf vermischen sich Arbeit und Persönliches. Meinen privaten Konflikt mit jemandem aus der Arbeit herauszuhalten und umgekehrt, ist manchmal schwierig.« In Sieben Linden gibt es, wie auch anderswo, ein verstecktes Misstrauen zwischen Kopf- und Handarbeitern, getreu dem Spruch: »Die da oben haben keine Ahnung, wie es wirklich läuft.« Mich interessiert, ob Harry seine handwerkliche Orientierung auch außerhalb der Arbeit anwendet. Prägt sie sein Denken? »Ich gehe mit einem Blick durch die Welt, mit dem mir auffällt, wo etwas repariert werden muss. Mich stört es, wenn jemand Müll nicht trennt, was andere nicht einmal wahrnehmen. Wenn es im Sozialen hakt, habe ich ein dickeres Fell und traue meiner Wahrnehmung nicht ganz.« Seit kurzem ist Harry mein Nachfolger im Rat der Genossenschaft, der die Aufgaben der ganzen Siedlung koordiniert. Ich erlebe bei ihm wie auch bei anderen Handwerkern eine gewisse Scheu und Zurückhaltung gegenüber solchen Aufgaben. Dabei wünsche ich mir mehr praktisch denkende Menschen in leitenden Rollen, auch damit das bequeme Gerede von »denen da oben« aufhört. Wie geht es Harry nun »da oben«? »Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, in den Rat zu gehen, sondern bin eingeladen worden. Stark und kompetent fühle ich mich darin, ein Haus zu bauen. Geht es darum, einen geistigen Raum zu kreieren, spielen so viele Faktoren hinein, dass die Konsequenzen einer Entscheidung nicht sofort erkennbar sind, und so entsteht in mir eine Scheu vor Klarheit. Ich neige zwar zu schnellen Urteilen, aber andere Meinungen bringen mich ins Schleudern. Je tiefer ich einsteige, desto komplexer wird es.«
Gewaltfreie Baustellenkommunikation Ein Handwerker hat auch Übung darin, Führung anzunehmen – die des Architekten. »Ich bekomme viele Informationen und Vorgaben vom Architekten«, bestätigt Harry. »Ich setze das in eine Ausführungsplanung um – eine Übersetzungsarbeit in die Praxis. Oft hat mich das sehr gefordert; es gab Momente, wo ich dachte, jetzt werde ich verrückt. Aber da kommt auch Respekt vor der Arbeit des Planers auf.« Baustellen folgen klaren Hierarchien: Architekt – Meister – Geselle – Lehrling. In einem basisdemokratischen Umfeld wird das eher kritisch gesehen. »Es gibt Bereiche, in denen es absolut sinnvoll ist, dass am Ende einer sagt, wie es läuft«, meint Harry. »Wenn es mehrere Möglichkeiten gibt, kannst du endlos diskutieren. Das ist müßig. Wir haben hier verabredet, dass in solchen Fällen eine Person entscheidet. Letztes Jahr war ich das – was zu Konflikten geführt hat. Auf der persönlichen Ebene will ich mich selbstverständlich über niemand anderen stellen. Diese Grenze zwischen Fachlichem und Persönlichem immer wieder zu finden, ist wirklich schwierig.« Ich frage mich, wie sinnvolle Kommunikationswerkzeuge für männlich geprägte Baustellen entstehen könnten. »Wenn ein Konflikt hochkommt, wäre es interessant, die Arbeit anzuhalten und erst alles zu klären, was zu klären ist«, meint Harry. Er möchte mehr über meine Arbeit mit Männergruppen wissen. Beim Erzählen kommt mir eine Idee. Statt die eigenen Gefühle hinunterzuschlucken oder in endlose Psychoprozesse einzusteigen, sagen wir in der Gruppe jeweils »Stopp!«, nennen kurz unsere Befindlichkeit und enden mit den Worten »Und damit bin ich dabei!«. Der laufende Prozess oder die Arbeit können dann weitergehen. Das fände ich ein passendes Werkzeug für Baustellen. Harry auch, aber dann auch wieder nicht. Das ist der Punkt, wo ich denke: Mensch, Harry, trau dich! »Ich kenne das aus dem Zwiegespräch für Paare«, meint er. »Es funktioniert, setzt aber ein Umfeld voraus, das trägt. Es fordert Zeit, die dann für die Arbeit fehlt.« »So argumentieren Menschen auch oft in einer Paarbeziehung«, antworte ich. »Das hätte Konsequenzen«, erwidert Harry. »Wenn wir langsamer arbeiten, müsste das von allen gewollt sein.« Der erste Schritt wäre nicht, dass alle zustimmen, sondern dass jeder sich selbst klar darüber wird, was er will – und genau das dann verkörpert. »Dieses Qualität hat mir heute Nachmittag gefehlt«, sagt Harry nachdenklich. »Ich habe diese Baustelle übernommen und den Fokus auf das Praktische gelegt. Aber die soziale Kultur ist genauso wichtig; auch mir selbst ist sie wichtig.« Da sind wir beieinander. Genau das wünsche ich mir: Menschen, die in unterschiedlichen Bereichen arbeiten und sich Schritt für Schritt aufeinander zu bewegen. Kopf, Herz und Hand wachsen zusammen. Harry wird auf immer sozialere Weise Prozesse leiten, und ich werde mal wieder etwas Ordentliches lernen. Vielleicht könnte ich auf der Baustelle Musik machen oder Geschichten erzählen – wie es früher in den Manufakturen üblich war. Am nächsten Tag sitzen Harry und ich beim Fest zum 1. Mai im Dorf und sprechen lange miteinander – über die Liebe. •