Titelthema

Wie einfach wir verbunden sind

Die kleinen Geschichten stammen von Oya-Leserinnen und -Lesern, die einem ­E-Mail-Aufruf der Redaktion gefolgt sind, von Momenten der Verbundenheit zu berichten. ­Solche Geschichten sind Kostbarkeiten, die wir viel zu selten miteinander teilen.von Simone Specht, Henning Fülbier, Martina Schäfer, Milan Smrz, Hannelore Ingwersen, Kaie Haas, Catharina Dreher, Claudia Hermsen, Beate Lambert, erschienen in Ausgabe #27/2014

Am Straßenrand
Trampend bin ich unterwegs, stehe mal wieder am Straßenrand. Ein junger Mann hält. Als ich im Auto sitze, erzähle ich ihm, dass ich seit August 2013 unterwegs bin, Anstellung und Zimmer gekündigt habe, dass ich mein Leben nicht mehr an Status- und Sicherheitsbedürfnissen ausrichten möchte, sondern an den Werten, die ich lebenswert finde. Er erzählt von seiner Lebensgeschichte und dem ihm Wesentlichen. Das Gespräch zwischen uns fließt; in dieser knappen Stunde gemeinsamer Fahrt tauchen wir ein in die Lebenswelt des anderen, in die Gemeinsamkeit des Menschseins, in unsere Sehnsüchte, in unsere Erfahrungen.
Als sich unsere Wege trennen – und wahrscheinlich werden wir uns nie wieder begegnen – sind wir beide erfüllt von Dankbarkeit. Wir umarmen uns. Wir wünschen uns das Beste. Weil es nun dunkel ist, trampe ich nicht weiter, sondern suche einen Schlafplatz im Wald. Jetzt bin ich allein – und getragen von dem Gefühl der Verbundenheit, nicht nur mit diesem einen Menschen. Er erinnert mich wieder daran: an die Geschichten, die ich seit meinem Unterwegs-Sein immer wieder neu erlebe. Manchmal begegne ich Menschen nur für Stunden, manchen auch nur für Momente, und spüre tiefe Verbundenheit, auch wenn wir uns gar nicht »kennen«. Vielleicht, weil wir offen und aus dem Herzen teilen, was uns wirklich bewegt? Weil wir den Gedanken »Das ist der Andere, und den muss ich erstmal kennenlernen, bevor ich ihm vertraue« loslassen? Seit ich unterwegs bin, fühle ich mich an fast jedem neuen Ort ganz schnell zu Hause. Immer mehr wächst das Gefühl, so etwas wie eine Erdenbürgerin zu sein. Es ist nicht nur mein langjähriger Familien- und Freundeskreis, mit dem ich mich verbunden fühle. Es ist die Erfahrung: »Überall da draußen« gibt es Menschen, die ebenso Freude und Trauer, Not, Dankbarkeit und Hoffnung empfinden – die eben auch Mensch sind. • Simone Specht, Westerheim

 

Der Gürtel
Sie trägt ein langes, blaues Baumwollkleid mit einem hellroten Gürtel. Auf ihm sind exotische Blumen mit Verzierungen und kleinen Sternen zu sehen. An der Schnalle greifen zwei Hände ineinander. Sie tanzt barfuß – wie die meisten in dem großen, umgebauten Saal der alten Brauerei, in der samstags immer die »fünf Rhythmen« zelebriert werden. Ihre Bewegungen sind weich und harmonisch; sie tanzt ganz aus dem inneren Empfinden heraus, ohne sich ablenken zu lassen.
Ich habe sie noch nie hier gesehen. Ich schaue ihr eine Weile zu, bin irritiert von der Schönheit und Ausdruckskraft ihrer Bewegungen. Ich möchte Kontakt mit ihr aufnehmen, doch sie bleibt ganz bei sich. Am Ende des Abends schaut sie mich an, wir berühren uns leicht mit den Händen und setzen zu einem gemeinsamen Tanz an, bei dem wir uns näherkommen. Irgendwann bricht die Musik ab. Wir nehmen uns in den Arm und müssen beide lachen. Die Tanzenden lassen sich später in einem Kreis in der Mitte nieder, um sich auszutauschen. Sie hat den Saal verlassen. Als ich es bemerke, ist es zu spät, ihr noch zu folgen. In dem Raum, in dem wir uns umziehen, hat sie ihren Gürtel auf der Bank liegen­gelassen. Ich sehe es beim Eintreten. Niemand hier kennt ihren Namen und ihre Adresse. Auf der Innenseite des Ledergürtels steht »Maristella«. Ich könnte den Gürtel hierlassen, aber ich nehme ihn mit – denn ich will sie finden.
Überall in der Stadt hänge ich Zettel auf, suche im Internet und frage in Geschäften nach ähnlichen Gürteln. Vergeblich. Maristella in dem blauen Kleid bleibt verschwunden.
Sie hat etwas an diesem Abend in mir bewegt, das weitergeht. Ich fange an, meine Wohnung zu verändern, werfe all die unnötigen Dinge weg, die sich über viele Jahre angesammelt haben, und streiche die Wände. Der alte, verblichene Küchentisch wird eingeölt. Auf ihm liegt nun – zusammengerollt wie eine friedlich ruhende Schlange – der Gürtel. Ihr Gürtel.
Abends sitze ich dort, schaue hinaus in die Dämmerung, bis der erste Stern am Himmel erscheint. Manchmal geht mir ein Satz durch den Kopf: Die Abendsterne des Lebens werden irgendwann als Morgensterne vor uns treten. • Henning Fülbier, Berlin
 

Das geöffnete Fenster
Ein von mir sehr geschätzter Mensch ist gestorben – ein Nachbar, der schwer an Krebs erkrankt war. Mein Impuls, nachdem ich von seiner Erkrankung erfahren hatte, war sofort, für ihn Querflöte zu spielen. Doch zunächst wollte er keinen Besuch. Dann war ich unterwegs. Schließlich war er schon so geschwächt, dass Besuch für ihn sehr anstrengend war. Einmal in den zwei Monaten habe ich ihn von meinem Zimmer aus gesehen, als er auf seinem vielleicht letzten Spaziergang, gestützt von seiner Frau und einem Freund, in der Nähe meines Fensters vorbeiging. Von weitem hob er den Kopf und sah mich direkt an. Ich war von seinem strahlenden Augenblick bis ins Mark hinein getroffen – und leider spontan unfähig, in irgendeiner Form grüßend zu reagieren.
Seit über einem Jahr hatten wir gemeinsam im Nachbarschafts-Ensemble Querflöte gespielt. Ihm wie auch mir waren sowohl die Lust und Freude an der Musik als auch ihre therapeutische Wirkung sehr bekannt. Meine Sehnsucht, für ihn Klänge zu spielen, wurde stärker, und immer mehr wuchs in mir das Gefühl, dass es jetzt bald Zeit wäre, bevor es zu spät sei.
Schließlich erfuhr ich, dass er im Sterben liege. Eine Freundin und ich gingen zu seinem Haus, umarmten seine Frau, sahen Enkelkinder auf der Treppe stehen. Die Freundin schenkte eine Engelkerze, und wir verabschiedeten uns wieder, ohne ans Sterbebett zu gehen, wollten wir doch die Familie nicht stören. Kaum war die Tür geschlossen, wurde mein Bedürfnis, für ihn zu spielen, unbändig dringend, und ich lief, holte die Querflöte und ging einmal ums Haus. Wir stellten uns vor sein Fenster, und – als wäre es verabredet gewesen – genau in diesem Moment wurde es von seiner Frau geöffnet. So spielte ich Flötenklänge für ihn und für alle Anwesenden und musste gleichzeitig weinen und schmunzeln, denn sein klarer Geist sagte mir genau, wann es genug sein würde.
Während ich dies schreibe, spüre ich, wie sehr dieser Mensch in mir weiterlebt und wie sein Geist mich dazu inspiriert, mit der Welt bewusst und wahrlich verbunden zu sein. Danke für dieses Geschenk! • Martina Schäfer, Kassel

 

Die Katze wusste es
Vielleicht kennt so etwas jeder, der zu Hause mit einer Katze oder einem Hund lebt. Mich aber fasziniert es nach mehr als 40 Jahren immer noch. Damals lebte ich in einer großen Wohnung im Zentrum von Prag mit meiner Mutter und einer Katze, die ich als Kätzchen bekommen hatte. Meine Mutter arbeitete 20 Minuten von unserer Wohnung entfernt am Wenzelsplatz im Außenhandel eines Betriebs und kam zu unregelmäßigen Zeiten nach Hause. Zuweilen fuhr sie mit der Straßenbahn, dann ging sie zu Fuß, so dass ihre Ankunftszeit nicht vorhersagbar war. Regelmäßig war nur, dass sie immer schnell ging und niemals auf dem Weg irgendwo anhielt, um mit Bekannten zu plaudern.
Unsere Katze war mehr an meine Mutter als an mich gebunden. Meist ging sie zu ihr, und meine Mutter war auch diejenige, die sie hauptsächlich fütterte. Die Katze setzte sich manchmal auf die hölzerne Schwelle. Niemals hat sie dies am Vormittag oder frühen Nachmittag getan. Wenn sie dort ihren Platz einnahm, war es sicher, dass meine Mutter in sieben bis zehn Minuten von der Arbeit nach Hause kommen würde. Nicht jeden Tag begrüßte die Katze meine Mutter auf der Schwelle, aber jeden zweiten. Während meine Mutter auf einer geschäftlichen Reise oder im Urlaub war, hat unsere Katze niemals vor der Tür gesessen. Ob sie die Schritte meiner Mutter hören konnte? Nein, denn der Wohnungseingang war in der Mitte des Hauses, von den Fenstern weit entfernt. Man konnte nichts von der Straße hören. Was mich besonders erstaunte: Meine Mutter ging immer so schnell, dass sie in der Zeitspanne von 7 bis 10 Minuten noch wenigstens einen Dreiviertelkilometer von unserem Haus entfernt war – dass über diese Entfernung hinweg ein mit üblichen Sinnen wahrnehmbares Signal zu der Katze hätte dringen können, erscheint mir sehr fraglich.
Wie lassen sich solche Phänomene erklären? Sind die Gedan­ken all unserer Mitlebewesen mit den unseren verbunden? Experi­mente, in denen die Gehirnströme einander nahestehender Menschen über weite Entfernungen hinweg Parallelen zeigen, legen das nahe. Kommunizieren wir in Wirklickeit jenseits der Barrieren von Zeit oder Raum? Auch mit den Tieren? Was bedeutet das für ­unser Leben? • Milan Smrž, Prag

 

Ein Pfingsterlebnis
Ich lebe in Neukirchen, einem kleinen Dorf direkt an der Ostsee in der Nähe der dänischen Grenze. Neun Jahre lang hatte ich eine wesentliche Rolle im Projekt »Grundstein Neukirchen« – einer Gemeinschaft von Künstlern, Therapeuten und Pädagogen mit Seminarbetrieb – inne. Ich war bei der Gründung dabei und viele Jahre im Vorstand. Einen großen Teil des Jahres lebte ich auf dem Gelände. Das war eine wunderbare Zeit mit tollen Seminaren, Krea­tivwochen und wichtigen Begegnungen, aber ich habe auch Stagnation und Uneinigkeit erlebt. Ich liebe diesen Ort. Trotzdem habe ich mich 2010 aus der Projektgemeinschaft zurückgezogen. Ich konnte meinen Platz nicht mehr finden, fühlte mich ausgebremst. Aber ich blieb im Dorf wohnen, leitete weiter meine Seminare und pflegte Kontakte zu den Menschen im Projekt, so gut es ging.
Pfingsten 2013, gut zwei Jahre nach meinem Rückzug, war sehr schönes Wetter, und als ich wach wurde, zog es mich an den Strand. Ich genoss die Sonne und die Stille dieses anbrechenden Sonntags. Mich überkam eine festliche, pfingstliche Stimmung. Pfingsten war mir als das Fest der Gemeinschaft wichtig geworden. Plötzlich kam in mir die Frage auf: Wem möchte ich zu Pfingsten sagen, dass ich mich mit ihm verbunden fühle? Sofort fiel mir meine »alte« Gemeinschaft ein. Sollte ich das tun? Ich ging über den Strand und über die große Treppe auf das Gelände von Grundstein Neukirchen, wo die anderen zusammen waren. Als ich in das »Rosenhaus« kam, hörte ich die Stimmen der anderen im Saal. Mit klopfendem Herzen stand ich vor der Tür. Sollte ich sie öffnen und mein Gefühl aussprechen? Ich traute mich nicht. Ich schrieb einen großen Zettel und legte ihn vor die Tür: »Liebe Neukirchener, zu Pfingsten möchte ich euch sagen, dass ich mich mit euch verbunden fühle.« Mittags klingelte es an meiner Tür. Als ich öffnete, standen da alle und sangen »Schwesterchen, komm tanz mit mir, beide Hände reich ich dir«.
Heute arbeiten wir in Neukirchen wieder alle zusammen und erleben einen umfassenden Erneuerungsprozess. Wie der heilige Geist die Gemeinschaft der Jünger »begeistert« hat, so möge er auch uns inspirieren. • Hannelore Ingwersen, Steinbergkirche

 

Graugrün
Der Wind in den letzten roten Herbstblättern vor meinem Fenster zieht mich am frühen Morgen hinaus. Ich möchte nicht denken, einfach nur zuhören, die Sinne öffnen … Als erstes fällt mir auf, dass ich zu schnell gehe. Ich verlangsame meine Schritte und fühle mich gleich wacher.
Es ist November und angenehm leer auf Hiddensee. In die Stille der Insel hinein ruft das Meer sehr laut. Eigentlich wollte ich den Weg oben am Kliff entlang gehen, aber jetzt zieht es mich zum Strand hinunter. Die Wellen rollen unter dem grauen Himmel her­an, spritzen manchmal über den Steinwall. Salzgeruch. Ich höre den Wellen zu, sehe sie dunkelbraun mit Algenfracht, graugrün, weiß geschäumt und wild.
Doch etwas fühlt sich schal an, nicht so lebendig und kraftvoll. Nun lassen sie sich nicht mehr verscheuchen: die Gedanken an Radioaktivität, an den vielen Müll und die Wracks der Kriegsschiffe, an die Gas-Pipeline von Russland, an Überfischung und Verarmung der Lebenswelten. »Hallo, du wolltest nicht nachdenken, sondern ­zuhören!«
Ich schaue wieder intensiv auf das Wasser. Meine Aufmerksamkeit wandert nach innen, zu meinem eigenen Blutkreislauf. Dem scheint das Meer gutzutun. – Ich laufe leichtfüßig am Strand entlang, die Gelenke schmerzen kaum. Das Meer hat trotz allem Heilkräfte – wie schön!
Der Vorfrühstücksspaziergang dehnt sich aus, bis mein Magen sich meldet. Auf dem Rückweg kann ich nicht anders, als Plastikfetzen und Metallteile aufzusammeln, die auf keinen Fall in einem Fisch- oder Delphinmagen landen sollen. Es ist einiges, was ich am Schluss mit kalten Fingern zurücktrage.
Später beim Frühstück in meinem kuschelig warmen Ferien­häuschen weiß ich es, mit all meinen Zellen: Die Ostsee wird immer matter und kränker werden, wenn wir nicht aufhören, ihr ständig mehr zuzumuten! Entweder wir verstehen es bald – oder es wird uns und unserem Blut ähnlich ergehen wie ihr. Wie bei kommunizierenden Röhren – so ist es. • Kaie Haas, Berlin

 

Stuttgarter Mahnwache
Im Sommer 2013 habe ich verstanden, dass ich die Welt nicht verändere, wenn ich zu Hause vor meinem Computer sitze und alles still und aus sicherer Entfernung beobachte. Es ist schön, gut und wichtig, Bücher und Zeitschriften zu lesen, die den neoliberalen Wahnsinn in Frage stellen, sich mit neuen Gesellschaftsformen beschäftigen. Aber wenn ich meine Gedanken dazu nur für mich behalte? Meine Verbundenheit zur Welt beschränkte sich – abgesehen von Kolleginnen und Freunden – auf das Internet und das Verfolgen der Ereignisse rund um das Großprojekt »Stuttgart 21«. Wie eine einsam kreisende Satellitin lebte ich in dieser zerrissenen Stadt.
Im Frühjahr 2013 war in Stuttgart zum ersten Mal vom »System 21« die Rede, und ich begriff endlich: Vor meinen Augen wird mir die lebensfeindliche Wahnsinn exemplarisch mit allem Drum und Dran vorgeführt. Und ganz in meiner Nähe organisieren sich seit Jahren Menschen, die dieses Unding stoppen wollen und darüber hinaus das System, das dieses »Projekt« hervorgebracht hat, völlig in Frage stellen und um neue Wege ringen. Ich muss also gar nicht weit gehen. In dieser Zeit hörte ich davon, dass die Mahnwache für den Erhalt des Kopfbahnhofs ihren dritten Geburtstag feiert. Da stehen sie tagein, tagaus bei Regen, Kälte, Sonne, Schnee in diesem Zelt, um ihren Protest auszudrücken und andere zu informieren. Was für beharrliche, standhafte, mutige und verrückte Menschen sind das! Ich hingegen sitze zu Hause und schaue in die Röhre! Also, geh endlich, geh raus!
Ich stand aufgeregt vor dem Zelt und sagte: Ich will hier mitmachen! Siehe da: Ich wurde freudig und freundlich aufgenommen! Es war aufregend. So wurde ich Teil eines großen Netzwerks. Ich konnte und musste öffentlich Gesicht zeigen und Position beziehen. Das hatte etwas sehr Heilsames für mich. Mein Standpunkt festigte sich im Verbund mit all den anderen. Auch der inzwischen so geschundenen Stadt, in der ich seit 17 Jahren lebe, fühle ich mich seither viel näher. Am 17. Juli 2014 feiert die Mahnwache nun ihr vierjähriges Bestehen unter dem Motto »Im wahrsten Sinne standhaft!«. Dieses Mal bin ich dabei. • Catharina Dreher, Stuttgart

 

Die Nabelschnur
Die Frauenärztin sprach von »Entbindung«. Sie hatte einen »Entbindungstermin« berechnet. Der Termin war vorbei, und du warst immer noch in meinem Bauch. Sie diagnostizierte eine hochgradig überreife Plazenta, Unterversorgung – dein Brustkorb sei zu schmal. Ich wusste, das stimmte nicht. Ich wusste, es geht dir gut. Ich ließ mich nicht ins Krankenhaus einweisen, sondern vertraute dir.
Ich tauche ein in eine andere Wirklichkeit. Atme. Du, mein Kind, bist in mir – unterwegs nach draußen. Du schiebst und drückst. Du öffnest mich, du öffnest dir den Ausgang zum Leben. Unsere Körper spielen perfekt zusammen. Dieser Schmerz ist ein guter Schmerz. Dieser Moment ist ein guter Moment. Atmen. Tönen. Schmerz. Wellen. Pausen. Wellen. Schmerz. Ich atme, ich töne, nach unten, nach vorne, nach draußen. Da reißt etwas. Ein scharfer, brennender Schmerz. Ich schreie. Ich greife. Ich halte deinen Kopf, deinen Körper in meinen Händen. Blut, dunkelrot, pulsierend, breitet sich auf dem Boden aus. Im Rhythmus meines Herzens. »Halb Engel, halb Tier.« Jetzt bist du da. Ich neige mich kniend über dich, schütze mit meinem Oberkörper deinen kleinen Rücken, deinen zur Seite geneigten Kopf, deine geschlossenen Augen. Ich halte dich in meinen zitternden Händen und schütze dich vor dem grellen Licht, vor der Kälte. Du liegst reglos, still. Auch in mir ist es auf einmal still. So still wie noch nie. Blut. Dunkelrot. So viel Blut. Dann – ein leises Geräusch, wie ein Rascheln, ein zartes Räuspern, und dein kleiner Rücken beginnt sich zu heben und zu senken, unregelmäßig, schnell. Du atmest. Du lebst. Jetzt beginnt es!
Die Nabelschnur wird durchtrennt werden. Du wirst auf meiner Brust liegen, Milch trinken. Bindung. Ich werde jahrelang zwei Sekunden vor dir wach werden, dich im Tuch tragen, stillen, wissen, ob dir warm oder kalt ist, wann du Pipi machen musst, wie du am Besten einschlafen kannst. Später wirst du vor mir weglaufen, wirst Nein sagen lernen. Mich Scheißmama und Kackmama nennen. Geheimnisse vor mir haben. Andere Menschen toller und wichtiger finden. Lieben lernen. Frei sein wollen. Immer wieder neu, immer wieder anders – verbunden sein. • Claudia Hermsen, Werther
 

Wenn du singen willst, sing
An einem Abend saßen zehn sangesfreudige Menschen hoffnungsvoll mit einem Gitarristen zusammen und überlegten, was sie denn singen könnten. Eine von ihnen kam mit einem zweistimmigen makedonischen Volkslied, das außer ihr keiner kannte. Sie rannte weg, um das Lied für uns zu kopieren. Derweil schlug jemand anderer einen Beatles-Song vor. Der Refrain klappte einigermaßen, aber nach der ersten Strophe merkten wir schon, dass wir den Text eigentlich nicht konnten und die Begleitung auch nicht ganz klar war.
Das makedonische Volkslied traf ein, und wir guckten in unsere Zettel. In diesem Kreis waren wir fast alle des Notenlesens kundig und wollten nun endlich lossingen, aber es kam nur ein verhältnismäßig schwacher und unsicherer Gesang zustande. Kein Wunder, wenn man eine Melodie neu lernt und gleichzeitig einen serbokroatischen Text ablesen soll. Dabei hatten wir doch einfach nur mal locker zusammen singen wollen …
Schließlich überwand ich meine Angst, mich in den Vordergrund zu drängen, bat um die Gitarre und fing einfach an: »Auf einem Baum ein Ku-hu-ckuck …« und – Simsalabim! – war die Stimmung da! Kraftvoll setzten alle ein mit einer Lautstärke, dass ich vor Schreck und Erstaunen fast zu spielen aufhörte. Simsalabim! - lauter erleichterte, glückliche Gesichter. Vorher hatte ich sie gar nicht wahrgenommen, als ich mich mit meinem Notenzettel abmühte. Wie wunderbar ist das Gemeinschaftsgefühl, das soviel Kraft gibt, wenn wir aus Freude miteinander singen. Simsalabim! Welch ein voller Klang war jetzt in unsererm Kreis, weil keiner mehr Angst vor falschen Tönen hatte. Auf einen Schlag war da das gemeinsame Singen, nach dem wir uns gesehnt hatten, voll Freude und Leichtigkeit, voll Kraft und Humor, voll Hingabe und Verbundenheit.
Der Einstieg in den nun folgenden Abend voller Gesang, Gelächter und schönen Gesprächen war so einfach gewesen, dass wir ihn fast nicht gefunden hätten. Das wunderschöne makedonische Volkslied werden wir ein anderes Mal lernen. • Beate Lambert, Marburg

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