Gott ist neugierig
Der Journalist Claus Biegert zeichnete das folgende Gespräch im Frühjahr 2010 im Wohnzimmer von Hans-Peter und Sue Dürr in München auf.
Am Anfang jeder Beziehung steht Verbundenheit. Bei mir selbst und vielen anderen gibt es die tief verwurzelte, romantische Erwartung, dass Liebe aus Verschmelzung und Harmonie bestehe. Das Ideal des »glücklichen Paars« erfüllt jedoch oft die Voraussetzung für ein Scheitern. Trotz der rationalen Einsicht, dass diese Erwartung wohl unrealitisch ist, fehlen oft Werkzeuge und kulturelle Muster, die Verbundenheit in Freiheit und Verschiedenheit gelingen lassen.
Ich gehörte bisher eher zu den »Couchtypen«, die sich in der vermeintlich gefundenen Harmonie ausruhen und »Beziehungsarbeit« eher scheuen. Doch ich bin – auch durch meine letzte gescheiterte und immer noch lebendige Liebe – inzwischen eher bereit, mich als Forscher auf den Weg zu machen – auf eine innere und äußere Beziehungsreise.
Auf meiner Reise begleitet mich das Büchlein »Lust an Liebe« von Daniel Briegleb. Als Philosoph nähert er sich dem Eros als Forscher, nicht als Ratgeber oder Therapeut. Brieglebs Ziel ist: »Weniger weisheitsloser Körper, weniger körperlose Weisheit.« Wer über die Liebe spricht, kann also über die Lust nicht schweigen. »Das sexuelle Begehren sollte keinesfalls mehr generell zurückgewiesen oder gar diffamiert werden. Statt es aber weiter zu glorifizieren und zu banalisieren, könnte es vielleicht wieder mehr als Möglichkeit aufgefasst werden, psychischen Raum zu bilden und zu vermehren […] Ein Teil der heute so bedeutungsvielfältigen Sexualität ist nach wie vor von einem Schmuddel-Image und einer neu hinzukommenden Trivialisierung belegt. Doch vernebeln wir darüber nicht auch ein Stück weit ihr Potenzial?«
Differenzierung
Meine erste Station führt zu meinen Freunden Hella Suderow und Christian Schumacher. Sie bieten unter dem leicht irreführenden Titel »Slow Sex« (Warum Sex? Warum langsam?) Paarseminare an. Ich höre, dass es dabei um einen umfassenden Weg der Achtsamkeit geht, der nichts ausgrenzt. Mich interessiert, wie sie mit ihren eigenen Schatten und Konflikten umgehen.
»Ich erlebe gerade eine für mich fruchtbare Krise«, erzählt Christian. »Momente, in denen ich mich nah und verbunden fühle, wechseln mit Momenten ab, in denen das nicht der Fall ist. Manchmal ist es ein bestimmtes Wort von Hella, in dem ich eine Forderung höre. Oft sage ich Ja, meine aber Nein. Vor kurzem traute ich mich, ein ehrliches ›Nein‹; da nahm mich Hella in den Arm und sagte: ›Schön, dass du Nein sagst!‹« Hella lacht: »Endlich sagst du, was ich die ganze Zeit fühle.«
Man könnte meinen, Slow Sex wäre Kuschelsex unter Vermeidung von Konflikten. Stattdessen lerne ich, dass es um eine »Differenzierung der Persönlichkeit« gehe – ein Begriff des Paartherapeuten David Schnarch: »Menschen, die in ihrer Differenzierung weit fortgeschritten sind, können mit anderen einig sein, ohne sich zu verlieren, und anderer Meinung sein, ohne sich dabei isoliert oder getrennt zu fühlen.«
Das »Nein in der Liebe« scheint mir dafür eine wichtige Voraussetzung zu sein. Peter Schellenbaum hat darüber ein ganzes Buch geschrieben: »Der paradiesische Zustand des bedingungslosen Ja dauert trotz stärkster Verliebtheit oft nur wenige Wochen oder Monate. Seine merkwürdigste Eigenschaft ist es, plötzlich ins Gegenteil umzuschlagen.« Schellenbaum hat beobachtet, dass Paare oft eine »Wohlfahrtsehe« eingehen – ein Arrangement, um das Nein zu vermeiden. Dann ist auch kein Ja mehr möglich: »Weil sie sich nicht abgrenzen können, können sie sich nicht mehr begegnen.« Das Nein sollte bereits gesprochen werden, wenn das anfängliche, instinktive Ja noch stark genug ist. Dabei geht es um mehr als eine Kommunikationstechnik: »Der Sinn der Liebe liegt nicht nur in der Ergänzung zweier Menschen, sondern in der Ganzwerdung zweier Einzelner.«
Als ich mit Christian über sein »Nein« spreche, wird uns beiden die tiefere Dimension darin klar. Er kennt ein unbewusstes »Nein« zum Leben, seit er in seiner Familie gegenüber den Eltern seine Wahrheit nicht aussprechen durfte. So hat sich sein »Nein« zurückgezogen und infiltriert unbewusst seine Beziehungen und sein ganzes Sein. Wiedergewonnen, wird es ein Tor zum erweiterten Leben. Ich wünsche für mich, das »Nein« meiner Partnerin als ein »Nein in der Liebe« zu verstehen und mit Interesse und nicht mit Abwehr darauf reagieren zu können. Ich möchte mein eigenes »Nein« ohne Angst sprechen können, selbst dort, wo es Trennung bedeutet. Das würde auch bedeuten, selbst in der Trennung als Paar weiter in Verbundenheit sein zu können.
Strukturen
Das führt mich zu der Frage, wie Bewusstheit und Kommunikation in einer Partnerschaft gelingen. Als Couchtyp, der es gerne entspannt mag, beschäftigt mich diese strukturierte Art der Begegnung.
Hella erzählt mir von »Liebesschlüsseln«, die sie anwenden. »Sie unterstützen uns darin, präsent zu sein – wie etwa das bewusste Entspannen während des Liebesspiels.« Es geht um eine grundsätzliche innere Haltung, auch im Alltag, erklärt Christian. »Wir sprechen immer über ›slow‹ Sex. Das hört sich an wie ›wir machen Sex, aber jetzt langsam‹. Die Qualität ist jedoch, dass wir mit allem, was gerade vorhanden ist – Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen, auch womöglich Unlust oder Ängste – in den Sex hineingehen. Ein wichtiger Schlüssel kann das fließende Aussprechen von Befindlichkeiten ohne Diskussion und Bewertung sein. Das klingt ungewohnt und vielleicht auch unerotisch, kann jedoch Verbindung ermöglichen, weil man aus der oft unhinterfragten Überzeugung herauskommt, alles mit sich selbst ausmachen und in einer bestimmten Art und Weise ›performen‹ zu müssen.«
Beide üben sich in diesem Austausch, indem sie sich einmal die Woche für ein »Seelengespräch«, auch bekannt als »Zwiegespräch«, zusammensetzen.
»Auch wenn es uns miteinander gutgeht, praktizieren wir das. Einer spricht, der andere hört zu. Jeder kann in seiner Zeit ausdrücken, was ihn beschäftigt. Diese grundsätzliche Bereitschaft, in einer klar geregelten Situation zuzuhören, ohne eine Aussage voreilig zu bewerten oder aus gewohnten Mustern heraus zu reagieren, ist für eine Differenzierung in Verbundenheit sehr hilfreich. Manchmal entsteht dabei sogar eine Art heiliger Raum – ein dritter Ort, wo etwas hinzukommt, das nicht mehr nur uns als individuelles Paar betrifft.«
Bei meiner Tochter in Berlin entdecke ich den Klassiker von 1988 »Die Wahrheit beginnt zu zweit« von Michael Lukas Möller. Der Erfinder des Zwiegesprächs sagt zur Wirkung verabredeter Strukturen: »Schafft ein Paar sich nicht auf entschlossene Weise einen eigenen Raum, dann kommt es in der Regel und auf Dauer nicht zu sich. Wichtiger noch ist die unbewusste Strategie dahinter, denn ohne feste Termine werden Gespräche im Alltag sonst nur durch Stimmungslagen ausgelöst. Sie sind aber eine denkbar ungünstige Ausgangssituation. Der zweite Grund für vereinbarte Zwiegespräche liegt also im Respekt vor der Macht der eigenen Widerstände. Wir handeln und sprechen dann eher im Zustand der Besonnenheit. Der dritte Grund liegt in der seelischen Bedeutung des Zwiegesprächs als einer Heimat für die Beziehung. Der feste Platz ist für das gemeinsame Unbewusste von großer Bedeutung, da wir uns dadurch seelisch verbindlich verhalten und Wurzeln schlagen können.«
Ich beginne zu verstehen, warum das Zwiegespräch durch seine Form eine andere Qualität hat als die typischen alltäglichen Gespräche oder das intensive partnerschaftliche Gespräch.
Ist das Private wirklich politisch?
Mit Christian, Hella und anderen gestalte ich den jährlichen »Frauen-Männer-Kongress« – ein Forschungsfeld, in dem wir oft unbekannte Wege des Miteinanders erproben. Immer wieder fragen wir uns, was der politische Aspekt dieser Arbeit ist. Die Aussage »das Private ist politisch« ist zwiespältig, vor allem, wenn sie zu einer Vereinnahmung meines Lebens führt. Auf der anderen Seite sind unsere »privaten Probleme« oft gar nicht so einzigartig, sondern kulturell geprägt.
Hella meint: »Ich brauche die Verbindung zu Menschen, die ähnliche Wege gehen. In der Gesellschaft werden wir immer wieder mit den gleichen Bildern zu Liebe und Sexualität gefüttert. Um etwas Neues zu gebären, sind Räume wichtig, wo wir unter Gleichgesinnten sprechen können.«
Ist es überhaupt sinnvoll, oder ist es Exhibitionismus und Gefühlsfolklore, sich auf Kongressen mit vielen Menschen über Intimitäten auszutauschen? Obwohl Mitinitiator, bin ich skeptisch und behalte eine gewisse Distanz und Selbstironie.
Ich fahre zu den Kongress-Vorbereitungen. Frauen und Männer tagen im gleichen Dorf, aber an unterschiedlichen Orten, um dann zur gemeinsamen Planung zusammenzukommen. Wir praktizieren also »Differenzierung«. Manchmal fühle ich mich dabei wie ein ethnologischer Forscher, der zwischen Tradition und Zukunft pendelt: Mal werden die Männer »emotional« und die Frauen halten den Raum. Mal verirren sich die Frauen in ihren Argumenten und die Männer können sie zurückholen. Mal ist es umgekehrt. Dann wieder geht es plötzlich spielerisch leicht, wenn alle ihren eigenen Platz einnehmen. Es ist, als ob wir auf einem erweiterten Instrument spielen lernen: Frau–Frau, Mann–Mann, Frau–Mann – und all die inneren Differenzierungen noch dazu, wie die Polarität des Kindlichen und des Alten. Indem wir uns bewusst dort hineinbegeben, bestätigen wir nicht alte Rollenmuster, sondern erfahren verschüttete Potenziale archaischer Anteile. Diese feinen Orchestrierungen entziehen sich meinen Worten – es fühlt sich sowohl neu als auch vertraut an und verändert die Kommunikation. Wenn nichts mehr geht, machen wir eine Pause … und tanzen zusammen.
Der letztjährige Kongress war eine wichtige Station meiner Beziehungsreise: Nach der Trennung von meiner Partnerin, die im gleichen Team ist, arbeiteten wir trotzdem weiter zusammen. Es war unterstützend, dabei einen größeren Blick auf unsere persönliche Geschichte zu erhalten als in der Privatheit einer Zweierbeziehung.
Ich bin froh, in einer Zeit zu leben, in der Liebende offen, schmerzvoll und kreativ ihren eigenen Weg gehen können. Es geht dabei um mehr als um eine selbstverliebte Nabelschau. Laut einer aktuellen Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO wissen wir, dass Gewalt innerhalb von Paarbeziehungen die am meisten verbreitete Gewalt gegen Frauen ist; betroffen sind 30 Prozent aller Frauen weltweit in allen Kulturen und Schichten. In Deutschland sind Männer wie Frauen zu etwa gleichen Teilen Opfer wie Täter von Gewaltanwendung gegen den eigenen Partner, wie die »Männerstudie« der evangelischen Kirche im Jahr 2009 ergab: Jeweils etwa 20 Prozent sind betroffen. Männer tendieren stärker zu physischer Gewalt, Frauen zu Kontrolle und verbaler Gewalt. Dies ist Ausdruck einer tiefgreifenden Beziehungskrise. Mir scheint, die Tragik der Liebe ist die übergroße Sehnsucht nach ihr, die Überfrachtung des Partners mit den eigenen ungelösten Lebensthemen. So geht es in der Partnerschaft um echte Friedensarbeit: Die »Weltmacht Liebe« darf den anderen nicht kolonialisieren, sie siegt nicht als eine harmoniesüchtige Utopie, sondern als erkennende und differenzierte Liebe. »Ich bin nicht du, und ich kenne dich nicht« – das ist ihr Ausgangspunkt. Ohne ihn kann jede Begegnung zur Invasion, jede Berührung zur Grenzüberschreitung werden. Wir brauchen eine Enthaltsamkeit und Keuschheit jenseits der Lustfeindlichkeit, damit Begegnung in Unschuld gelingen kann. Geboren sein heißt bereits, verlassen zu werden. Doch wenn ich den Urschmerz des Getrenntseins zulasse, gelingt vielleicht ein lauschendes Sprechen, ein tastendes Berühren, lesendes Entdecken, eine neugierige Ekstase. Die beiden Ufer wachsen nicht zusammen, damit der Fluss dazwischen fließen kann. Wenn ich in ihn hineinspringe, dann möglichst ohne eigenes Gepäck. »Lieben heißt, sich mit der Wirklichkeit zu begnügen!«
Für diese Vision stehen auch die Worte von Peter Schellenbaum: »Vom Gelingen des Nein in der Liebe hängt die Vision, die wir von uns und der Welt haben, ab: entweder – infolge des totalen Nein in der Liebe – die Vision einer zerissenen, vom Chaos bedrohten Welt, oder – infolge des integrierten Nein in der Liebe – die Vision einer Welt, in deren Zerissenheit und Chaos wir ein Stück Einheit und Ordnung stiften können.«
Ich lerne, dass der Eros überall dort ist, wo ich Verbindung zulasse. Wer sich von der Zärtlichkeit des Winds nicht berühren lässt, wird auch durch das Streicheln einer Hand nicht glücklich werden. Das ist die größte Erkenntnis und Herausforderung meiner Reise: den Eros aus den Klammern der Verengung auf Sex zu lösen. Die Dagara, ein Stamm aus Burkina Faso, haben kein eigenes Wort für Sex. Sie sprechen davon, mit jemandem zu reisen oder zu wandern, und meistens wissen beide vorher nicht, an welchen Ort diese Reise führen wird. Meine eigene Reise geht ohne Worte weiter! •
Stoff für Verbundenheitsforscherinnen und -forscher
www.frauen-maenner-kongress.de
www.paarweise.info
Literatur
Daniel Briegleb: Lust an Liebe. Passagen, 2014
Michael Lukas Moeller: Die Wahrheit beginnt zu zweit. Das Paar im Gespräch. rororo, 2010
Diana Richardson: Slow Sex. Zeit finden für die Liebe. Integral, 2011
Peter Schellenbaum: Das Nein in der Liebe. Abgrenzung und Hingabe in der erotischen Beziehung. Kreuz, 1992
David Schnarch: Die Psychologie sexueller Leidenschaft. Piper, 2009
Der Journalist Claus Biegert zeichnete das folgende Gespräch im Frühjahr 2010 im Wohnzimmer von Hans-Peter und Sue Dürr in München auf.
Jahr für Jahr werden weltweit rund dreihundertzwanzig Milliarden – in Zahlen: 320 000 000 000 – Kilogramm Fleisch zum Zweck des Verzehrs produziert. Aufeinandergetürmt ergäben diese ein Gebirgsmassiv aus Tierleibern, dessen Gesamtgewicht das der
Sein neues Buch widmet Charles Eisenstein den beiden »Erzählungen« von Separation und von Verbundenheit. Er geht dem Verhältnis nach, das wir Menschen in einer umtriebigen und technisierten Zeit zur Welt haben, und gleicht es mit einer Beziehung der Verbundenheit ab, die