Wer sind meine Nachbarn?
Köln ohne Autos – wenigstens an einem Sommersonntag in zwei Stadtvierteln: Der »Tag des guten Lebens« bringt Alt und Jung vor der eigenen Haustür zusammen.
Mein Arbeitsplatz in Kassel ist das »Rudolf Steiner Institut« für Erzieherinnen und Erzieher. Nach dem gemeinsamen Morgenbeginn verschwinden alle in ihren Unterricht. Ich packe den Rucksack, lasse das große Gebäude mit seinen bestens ausgerüsteten Ausbildungsräumen hinter mir und radle zum »Waldhof« am Westrand der Stadt. Das erste, was mir bei der Ankunft in den Sinn kommt, ist: Hier geht die Uhr langsamer. Das ist eigenartig, denn auf den Feldern wird tüchtig gearbeitet. Gebückt bringt Christian auf dem Grundacker die Papierblumen-Setzlinge ein. Auf dem Starenacker werden die Wege zwischen den Beeten mit der Radhacke gelockert. Jonas fährt Komposterde mit der Schubkarre. Angelika, die langjährige Gärtnerin des Hofs, hat in der Frühe die Tiere versorgt. Die Schafe und eine weiße Eselin mit ihrem Fohlen grasen auf den Weiden. Die Mauer um den ehemaligen Schlossgarten gibt Geborgenheit. Wanja, der Hund, beobachtet schwanzwedelnd, wie ich das Fahrrad am Tor abstelle.
Wenn der Unterricht nicht im Freien stattfinden kann, weil es regnet oder zu kalt ist, steht ein einfacher Raum zur Verfügung. In einer Ecke liegen Jutesäcke, die Samen darin müssen noch verlesen werden; in der anderen stehen zwei kleine Harfen. Ich gehe um die Schultische herum und suche meinen Zeichenblock. Wegen der Dachschräge muss ich den Kopf einziehen. Mal wird in diesem Raum gedroschen, ein andermal gezeichnet oder gesungen.
Seit vielen Jahren bin ich Ausbilder im Institut und kenne die Griffe und Kniffe des Dozentendaseins. Dennoch stellte sich mir zunehmend die Frage: »Was tue ich eigentlich?«, und manchmal dachte ich: »Wenn du so weitermachst, wirst du demnächst auf der Zielgeraden eines Burn-outs angekommen sein!« Lange genug hatte ich über Hingabe und Empathie, über Rhythmus und Vertrauen, Sinnhaftigkeit und Handhabbarkeit doziert – wichtige Lerninhalte für angehende Erzieherinnen und Erzieher. Aber besonders seit »PISA« und »Bologna« ist spürbare Atemlosigkeit in die Ausbildungen eingedrungen; sie ergreift Berufsschulen genauso wie Universitäten. Darunter leidet das Klima zwischen den Menschen. Vieles ist lebensfeindlicher, überwachungsanfälliger, kurzatmiger geworden – auch bei uns. Sogar in die Grundschulen und Kindergärten ist das rasende Tempo gesickert. Das fühlt sich für mich an wie schleichendes Gift.
Äcker, Wiesen, Weiden
Und hier, auf dem Waldhof? Hier geschieht sie, die Entschleunigung. Es begrüßt mich eine bekannte Welt, obgleich Natur doch ständiger Wandel ist. Ich nehme meinen Notizblock, klettere die Treppe vom Seminarraum hinunter und setze mich hinter der Werkstatt auf die Wiese – »meine Wiese« möchte ich fast sagen, so vertraut ist mir der Winkel inzwischen geworden. Wenigstens kurz will ich mit Papier und Bleistift eine Wahrnehmungsübung machen, bevor der Unterricht drankommt.
Die Gänse im Teich machen sich bemerkbar. Auch wenn ich ruhig dasitze, gefällt ihnen das nicht so recht. Die Esel kommen herbei und schnuppern am Rucksack. Ich schaue mit unscharfem Blick in die grüne Welt vor meinen Augen – allein schon deshalb, weil sie keine Meinung von mir hat, mag ich die Natur. Heute ist sie mal wieder besonders schön, auch wenn es noch ungepflegte Bereiche gibt.
Mit dem Pachten des Waldhofs durch das Institut 2009 wurde Thomas Mauer, der Betriebsleiter, ins pädagogische Kollegium geholt. Der Trend zur multifunktionalen Landwirtschaft, eingewandert aus England und den USA, interessiert ihn wie uns. Es entstehen zunehmend Bauernhofkindergärten und naturorientierte Schulinitiativen, die entsprechend naturnah ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher brauchen. Die Studierenden üben auf dem Waldhof den Umgang mit der Natur und lernen sich dabei selber kennen.
Weiden, Obstwiesen, Hecken, Äcker, Baumhaine – eine vielfältige Landnutzung prägt das Erscheinungsbild des Waldhofs. Der gärtnerische Schwerpunkt liegt in der biologisch-dynamischen Saatgutvermehrung und Erhaltungszüchtung von Blumen-, Kräuter- und Gemüsesorten. Wenn es um Bodenfruchtbarkeit, Pflanzen- und Tiergesundheit geht, erfordert das, zu erkennen, welches die Stärken des Orts sind, wie sie miteinander wirken und wie sie weiterzuentwickeln sind. So sind Ackerbau und Streuobstwiesen eng verbunden mit der Weidewirtschaft ostfriesischer Milchschafe, mit Gänsen, Hühnern und der Imkerei. Aus dem Mist entstehen Kompostzubereitungen und betriebseigene Anzuchterden. Zudem werden Heu und Silagen auf den Flächen des Waldhofs gewonnen.
Im Arbeitsstrom der Jahreszeiten
Zunächst hatte sich die Lehrerin einer Förderschule auf dem Gelände »niedergelassen«. Sie konnte ihr Kollegium und die Eltern von der pädagogisch wertvollen Wirkung der Natur überzeugen. Wir bauten für ihre Klasse ein Tipi mit Holzboden, direkt neben dem Schafstall. Seither wandern die Kinder jeden Morgen mit ihrer Lehrerin durch den Habichtswald auf den Waldhof, wo das windig-gemütliche Schulzimmer auf sie wartet und ihr Gartenstück sie zum Gärtnern, Bauen, Lernen und Toben einlädt.
Wir überlegten, dass das, was den Kindern guttut, auch unseren Studentinnen und Studenten bekommen würde. So entstand die Idee, einen Teil der Erzieherausbildung auf den Waldhof zu verlegen, damit der Trend zu noch mehr Fächern, Themen und Leistungsnachweisen mit Sitzen, Reden und Bücherlesen ersetzt würde durch die Arbeit an der Erde. Der Waldhof ist in erster Linie ein Produktionsbetrieb, und so müssen sich die pädagogischen Aktivitäten dem Arbeitsstrom und den Erfordernissen der Jahreszeiten anpassen, besser noch: nachordnen. Vieles organisieren die Studierenden selbst. Sie nehmen mit Kindergärten und Grundschulen Kontakt auf und führen mit ihnen Pflanz- und Ernteprojekte durch.
Naturnähe macht Menschen gesund, kleine Kinder, Jugendliche, unsere Studierenden – und mich selbst. Ich darf viel Neues lernen und bin mehr als bereit, einige meiner akademischen Standards für den offenen Unterricht unter freiem Himmel zu opfern. Die Weiche ist gestellt, ich werde mit großer Wahrscheinlichkeit vom Burnout verschont bleiben. Die Krankenkasse wird sich freuen.
Was Andreas Weber in seinem Buch »Mehr Matsch!« von den Schülern der Freien Naturschule Blankenfelde in Berlin sagt, trifft auch für den Waldhof zu: Die Wahrnehmungsfähigkeit verändert sich, sie wird differenzierter, feiner. Dabei kommt es nicht auf den Effekt größerer Klugheit oder mehr Gesundheit an, sondern auf eine intensivere Existenz. •
Albert Vinzens (55), Philosoph, promovierte über Friedrich Nietzsche und lehrt als Dozent am Rudolf Steiner Institut Kassel sowie an der Universität Innsbruck als Lehrbeauftragter für Anthropologie.
Mehr über den Studiengang Landbaupädagogik
http://waldhof.steiner-institut.de
Köln ohne Autos – wenigstens an einem Sommersonntag in zwei Stadtvierteln: Der »Tag des guten Lebens« bringt Alt und Jung vor der eigenen Haustür zusammen.
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Seit 2010 befindet sich Griechenland in einer tiefen wirtschaftlichen Krise. Sparprogramme und Kürzungen im Sozial- und Gesundheitsbereich haben das Land in eine humanitäre Katastrophe gestürzt. Als Reaktion auf die zunehmende Armut entstehen überall im Land