An der Anne-Frank-Schule bei Hamburg lernen Schülerinnen und Schüler mit Empfehlungen für Hauptschule und Gymnasium gemeinsam.von Anke Caspar-Jürgens, erschienen in Ausgabe #27/2014
Mit gemischten Gefühlen fahre ich diesmal zu einer Schule, die rund tausend Menschen beherbergt, der Anne-Frank-Schule in Bargteheide im Hamburger Speckgürtel. Ich liebe kleine, überschaubare Zusammenhänge, wenn es ums Lernen geht. Eine staatliche Gemeinschaftsschule mit neunhundertsechzig Schülerinnen und Schülern unter einem Dach – und mit so überragenden Ergebnissen, dass sie im letzten Jahr den Deutschen Schulpreis der Robert-Bosch-Stiftung gewinnen konnte? Im Büro macht mich ein Lehrer mit Benita, einer Zwölftklässlerin, bekannt. Sie verzichtet auf ihren Unterricht, um mich so weit wie möglich mit der Schule vertraut zu machen. Wir gehen durch so viele Gänge, Anbauten und Container, dass ich mir die Struktur des Gebäudes nur grob merken kann. Ob sich hier Fünftklässler besser als ich zurechtfinden? »In ihrem ersten Jahr lernen die vier Klassen mit ihren je 26 Schülern etwas abseits und unter sich in einem Pavillon. Auch die Art ihres Unterrichts ist darauf angelegt, dass sie nach und nach in das Schulgeschehen hineinwachsen können«, beruhigt mich Benita. Gut 200 Schülerinnen und Schüler bewerben sich hier jährlich um einen Platz. Woher kommt der große Andrang? »Von den umliegenden Grundschulen«, erklärt Benita. »Für die vier Parallelklassen wählt das Aufnahmeteam je ein Drittel der Kinder mit Empfehlung für die Hauptschule, den Mittleren Schulabschluss und das Gymnasium aus. Jede Klasse behält ihr Team aus zwei Lehrern bis zur neunten oder zehnten Klasse; sie achten auf das Wohl und Wehe der Kinder und fühlen sich für den Lernfolg ›ihrer‹ Schüler verantwortlich.« Diese kleinen Teams erhalten vorweg eine wissenschaftlich fundierte Schulung über die optimale Förderung von Hochbegabten, lerne ich von Benita. Dabei erfahren sie, dass diese am besten durch eine von Sympathie und Verständnis getragene Vielfalt der Schüler, verbunden mit kluger Binnendifferenzierung, zu erreichen ist. »Bei uns gilt eben die Devise: Schule richtet sich nach dem Kind, und nicht umgekehrt!«, sagt die Oberstufenschülerin selbstbewusst. Das Team entscheidet auch über die Tischgruppenzusammenstellung der neuen Klasse und bildet Kleingruppen aus je einem »lernstarken« und einem »lernschwachen« Kind zur gegenseitigen Unterstützung. Wie diese Akzeptanz der Unterschiedlichkeit konstruktiv gelebt werden kann, lernen die beiden in ihrer Tischgruppe und im Gespräch mit einem Sozialpädagogen. Sie diskutieren darüber im Klassenrat und verinnerlichen es in den vier wöchentlichen Freiarbeitsstunden, während der Projektphasen und Klassenreisen. Ob so ein Arbeiten ungewohnt für Kinder sei, die aus konventionellen Grundschulen hierher wechseln, frage ich. »Die meisten sind anfangs noch auf Zensuren gepolt. Aber bald freuen sie sich darüber, dass sie hier bis zur Mitte der siebten Klasse keine Angst vor Noten haben müssen, denn die werden durch das selbständige Führen eines Logbuchs, durch Selbsteinschätzung und die persönliche Beratungen mit den Lehrern ersetzt. So können die jungen Schülerinnen und Schüler lernen, ihre Stärken zu fördern und Fehler als Helfer zu erkennen. In der ersten Woche ist nach einer fantastischen Einschulungsfeier nur gegenseitiges Kennenlernen angesagt. Dann entsteht eine gewisse Geborgenheit durch die Art, wie hier die Heterogenität der Schülerschaft verwirklicht wird, die ja letztlich den außergewöhnlichen Erfolg unserer Schule bewirkt. Seit zehn Jahren hat sie keiner ohne Abschluss verlassen, und von den Kleinen, die mit einer Hauptschulempfehlung kamen, haben zehn Prozent sogar das Abitur erreicht.« Schmerzlich erinnere ich mich, dass deutschlandweit nach wie vor acht Prozent aller Schüler ihre Schule ohne Abschluss verlassen müssen. Dafür, dass diese gewissenhafte und einfühlsame Einführung der Fünftklässler nachwirkt, scheinen mir Vicky und Christin aus der 6b ein gutes Beispiel. Sie klären mich unter anderem darüber auf, dass der Verzicht auf Noten sie motiviert, sich selbst über die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten kundig zu machen, und wie ihnen ihr Logbuch dabei hilft. Die zwei sind schon seit ihrer Grundschulzeit Freundinnen. Eine wäre nach dem herkömmlichen System zur Hauptschule gegangen, die andere ins Gymnasium. Ich frage Christin, ob sie die Korrekturvorschläge von ihrer Teampartnerin Vicky nicht manchmal nerven. Sie antwortet freundlich lächelnd: »Das hilft mir doch. Aber wenn es mir zu viel wird, sag’ ich es ihr.« Und zu Vicky gewendet: »Dann nimmst du dich ja auch zurück, zum Glück!« Hier konnte eine Beziehung weiterleben und Verständnis für Andersartigkeit wachsen.
Eigenverantwortung und Vielfalt Was es heißt, Verantwortung für das eigene Lernen zu übernehmen, erlebe ich bei meiner folgenden Hospitation in einer siebten Klasse. Die Lehrerin muss überraschend eine Kollegin vertreten und will daher mit den Schülern besprechen, wie sie heute die gemeinsame Zeit sinnvoll nutzen können. Mit dem Satz: »Ich habe keine Idee, wie wir das jetzt lösen«, zeigt sie ihre Ratlosigkeit, und schon bald entsteht aus einem Hin und Her kreativer Vorschläge ein stimmiges Zweistundenkonzept. Über den 1-2-3-4-Modus bilden sich in Windeseile Kleingruppen, die sich jeweils für einen Text entscheiden und eine Aufgabe für ein literarisches Projekt übernehmen. Während die Lehrerin für längere Zeit den Raum verlassen muss, bleibt – für mich erstaunlich – die familiär-partnerschaftliche Arbeitsatmosphäre erhalten. Später erzählt mir Benita von ihrer Oberstufenzeit, wo alle Schülerinnen und Schüler in der elften Klasse eines von vier Profilangeboten wählen. Benita hat sich für das Profil »Sport« entschieden. Hier findet sie den Fokus auf ein Lernen durch Lehren reizvoll. Das bedeutet, dass sich die Großen für die Kleinen engagieren – sei es als Schiedsrichter, beim Gestalten von Fitnesstrainings oder auch durch die Leitung von Sportgruppen. Was es Besonderes an ihrer Schule gebe, frage ich Benita. »Ungewöhnlich ist wohl, dass auf Wunsch der Schüler das Klingelzeichen abgeschafft wurde. Immer wieder steigt die gesamte Schule aus der Fächerarbeit aus. So gibt es dreimal im Jahr eine ›Vorhabenwoche‹, wo sich beispielsweise der fünfte Jahrgang mit Anne Frank, der sechste mit Gewalt, der siebte und der achte Jahrgang mit Sucht und Gesundheit befasst – und sich manchmal die ganze Schule mit Themen der UNESCO beschäftigt. Der neunte Jahrgang vertieft sich derweil in ein Theaterprojekt, und der zehnte nutzt diese Zeit zur Vorbereitung auf die Abschlussprüfung. Zeitgleich werden auch Klassen- und Studienfahrten oder Betriebspraktika für die ganze Schule organisiert. Besonders spannend wird es, wenn die Jahrgänge zum Abschluss ihre verschiedenen Präsentationen zeigen. Weiter gibt es einmal im Jahr den Epochenunterricht, wo sich jeder Jahrgang ein Thema aussucht – etwa den Frühling – und dies in möglichst vielen Fächern übergreifend bearbeitet. Bei uns in der Oberstufe lernen wir durch unser gewähltes Profil ohnehin fächerübergreifend.« Mich interessiert noch, wie es mit der freien Zeit aussieht. »Für die Mittagspause können wir die Mensa nutzen und aus gut 60 freien Angeboten im künstlerischen, musikalischen oder sportlichen Bereich wählen. Ab der siebten Klasse gibt es schon zwei, und ab der zehnten drei lange Tage bis 16 Uhr mit verschiedenen verpflichtenden Arbeitsgemeinschaften, wie der Bienen-AG, Fußball, Töpfern, Entspannung, Türkisch oder Dänisch.« Über einen verwinkelten Weg sind wir jetzt im oberen Stockwerk vor der zwölften Klasse angelangt und verabschieden uns. Der Lehrer gibt hier einem Teil seiner Klasse fächerübergreifenden englischsprachigen Unterricht und betreut gleichzeitig im Nachbarraum eine Gruppe bei Klausuren. Immer wieder eilt er für längere Zeit in den anderen Raum. »Durch Teilungsstunden, in denen sich die Klasse in verschiedene Interessengruppen gliedert, können wir unseren Schülern einen differenzierenden Unterricht ermöglichen,« erklärt er. »Zudem ist dies ein gutes Training für eigenverantwortliches Arbeiten.«
Das Modell weiterentwickeln Im Jahrbuch der Schule von 2012 informiere ich mich über das Programm der »Berufs- und Lebensorientierung«. Hier können sich die Schüler von der sechsten Klasse an mit Berufen und Lebenssituationen auseinandersetzen – vom »Söhne-Töchter-Tag«, an dem sie die berufliche Welt ihrer Eltern erkunden, über diverse Betriebsbesichtungen, Praktika und Besuche bei der Berufsberatung bis hin zu einer Jobmesse, wo Firmen ihre Stände in der Schule aufbauen und Schüler sich anhand ihres über die Jahre geführten Berufswahlpasses beraten lassen können. Wer die Schule nach der neunten Klasse verlässt, besucht zuvor den Kurs »Fit for Life«, wer nach der zehnten abgeht, den Kurs »Fit for Job«. Für die Elft- bis Dreizehnklässler bietet der Rotary Club eine Veranstaltungsreihe »Schule – Studium. Beruf im Blickpunkt« an. »Ohne Sponsoring wären die kostenintensiven Studienfahrten, Ausflüge und Anschaffungen von Geräten für die verschiedenen Fächer nicht möglich gewesen«, versichert mir Angelika Knies, die Schulleiterin, als wir uns in ihrem Büro treffen. Sie stöhnt: »Diese Schule platzt mittlerweile aus allen Nähten. Das war so nicht geplant, als ich mich – seinerzeit noch als Gymnasiallehrerin – der Elterngruppe anschloss, die 1990 diese staatliche Schule erkämpft hatte. Da wir von Anfang an eine eigene Oberstufe beantragt hatten, sind wir nicht schulamtsgebunden und nur der obersten Aufsicht in Kiel untergeben. Aber die lassen uns in Ruhe arbeiten. Wie damals suche ich nach Lehrern, die Visionen haben, wie man eine gute Schule gestalten könnte. Neue Gesichter für das Kollegium zu finden, ist für unser Schulleitungsteam eine echte Herausforderung, denn wer frisch aus dem Referendariat kommt, ist im Regelfall nicht auf das vorbereitet, was wir in Bargteheide unter einer ›guten Schule‹ verstehen.« Was aber ist eine »gute« Schule? »Bisher haben wir die Leistungsmischung erreicht. Die Altersmischung einzuführen – was sinnvoll wäre –, muss noch warten. Auch ein Garten fehlt noch. Aber ein Schritt kommt nach dem anderen – unsere Schule ist ein fortwährend lernendes System. Das funktioniert, weil wir in Teams arbeiten. Wir teilen die Verantwortung und bereichern uns gegenseitig. Routiniert nach Lehrplänen vorzugehen oder sich gegen andere Schulen abzuschotten, geht da nicht. Wir brauchen die Kooperation mit unseren vielen Nachbarschulen. Aber auch Konkurrenz in diesem Geist belebt das Geschäft.« Nachdenklich erkunde ich an meinem letzten Nachmittag das Umfeld der Schule. Ist sie wirklich modellhaft? Ist sie enkeltauglich? Hohe Bäume auf einer Anhöhe am Rand weiter, gepflegter Wiesen verlocken mich, das dahinter versteckte Gebüsch zu entdecken. Dort spüre ich, was hinter meinem leisen Unbehagen steckt, und finde, was mir in dieser nahezu perfekt eingerichteten und organisierten Schule fehlt: wilde Natur, in deren Tiefe sich ein modriges Bächlein, umrandet von Buschwindröschen und Scharbockskraut windet, entlang der Sportplätze bis hin zur Autobahn. Hin und wieder wird es von alten Ästen und Stämmen überbrückt. Brauchen Kinder nicht auch solche Plätze, wenigstens zum Verschnaufen vom weitgehend programmierten Schulalltag?