Gesundheit

Endlich wird der Schmerz greifbar

von Georg Schandor, erschienen in Ausgabe #3/2010
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Lange habe ich nach einem Weg gesucht, der mich mit mir selbst in Verbindung bringt. Über viele Jahre bin ich vor allem depressiv gewesen. Eine bedrückte Stimmung und ein diffuser Schmerz haben mich fast unablässig begleitet. Oft war das mit einem Gefühl verbunden, in meinem Bauch sei ein bodenloses Loch, ein Nichts, in das ich zu stürzen drohte. Ich hatte es ein bisschen zugedeckt. Ich lebte über dieses Loch hinweg.

Aufgrund einiger Therapien und viel Selbstanalyse ging es mir zwar zunehmend besser, aber den Kern meines diffusen Schmerzes hatte ich nicht erreicht. Ich wusste, da war etwas, aber ich konnte es nicht greifen.

Im Oktober 2009 kam ich mit der Arbeit von Willi Maurer und Claudia Lange in Kontakt. Die beiden haben einen Weg entwickelt, Menschen mit ihrem frustrierten Urbedürfnis nach mütterlicher Zuwendung zu versöhnen.

Zur ersten Sitzung mit Willi und Claudia komme ich zu spät. Das macht mich wütend. Ich kannte das von Zuhause: Pünktlichkeit war meinen Eltern immer sehr wichtig, aber wir sind als Familie nie so zeitig losgegangen, dass wir in Ruhe pünktlich angekommen wären. Immer war’s ein Hin und Her und am Ende ein Gehetze. Das war einfach so – mir wäre nicht in den Sinn gekommen, dass ich etwas daran hätte ändern können. Wie mit anderem, blieb ich auch damit allein. Wir waren ohne Verbindung untereinander. Als ich in der Anfangsrunde davon erzähle, spüre ich dahinter Hilflosigkeit.

Wir können getröstet werden!
Eine Urlaubserinnerung taucht in mir auf: Ich bin vielleicht fünf Jahre alt. Wir sind in einer fremden Stadt, wohl in Italien. Ich will stehenbleiben und etwas anschauen und untersuchen, meine Eltern wollen weiter. Mehrmals fordern sie mich auf, mitzukommen. Ich will nicht, bin auch gerade beschäftigt. Plötzlich sind sie weg. (Damals kümmerten sich dann ein paar Frauen um mich, bis meine Eltern mich »wiederfanden«.) Später arbeite ich zu dieser Erinnerung. Ich fühle mich nicht nur allein, sondern ausgesetzt, verstoßen. Das Grundgefühl: Ich habe auf der Welt keinen Platz, ich störe nur. Davon erzählt auch eine andere Erinnerung: Mein Vater fand es unmöglich, dass ich mich in Bücher vergrub, während wir im Mittelmeer segelten. Es ist das Grundgefühl meiner Kindheit: Eigentlich bin ich nicht gewollt, eigentlich würde es meinen Eltern besser gehen, wenn ich nicht da wäre.

Mit Willis und Claudias Unterstützung wage ich mich in diese Erinnerungswelt. Ich spüre meinen Atem schwerer werden, Gefühle in mir aufsteigen. Aber sie entgleiten mir wieder. Willi fragt, ob ich etwas brauche. Mir fällt spontan ein: Hände von hinten gegen meine Schultern. Ich bitte ihn ­darum. Gleich ist mir wohler, ich beruhige mich – mehr hätte ich nicht gebraucht, als dass Mami oder Papi einfach bei mir sind …

Willi fordert mich auf, meinen Eltern zu sagen, dass ich das von ihnen brauche (wir sprechen immer im Präsens, als wären wir gerade in der Situation). Es fällt mir sehr schwer. Als ich es tue, bricht »es« aus mir heraus. Ich weine, schluchze. Atme schnell. Das wiederholt sich: Jedesmal, wenn ich ihnen sage, was ich brauche, komme ich tiefer in die alten Gefühle, schluchze tiefer, ja, es schluchzt aus mir, schüttelt mich wie in Krämpfen.

Mittlerweile bin ich ganz klein, ein Baby. Mir ist kalt. Ich fühle mich verlassen. Ich rufe unter großer Anstrengung: »Kommt! Kommt doch!« Es schreit aus mir, wie ich seit Urzeiten nicht mehr geschrien habe. Niemand kommt.

Irgendwann das vage Bild: Mami kommt. Deckt mich wieder zu. Streicht mir mit der Hand über den Kopf. Sie denkt wohl, es sei alles gut, ich bin ja jetzt still. Aber sie erreicht mich nicht mehr. Ich habe mich von ihr zurückgezogen. Als Willi fragt, ob ich dahinter noch ein Bedürfnis spüre, merke ich, dass ich ganz lange von ihr gehalten und an ihrem Körper gewärmt werden will. Willi hält mich an seinem Körper. Tränen fließen. Allmählich komme ich tief im Inneren zu Ruhe. Claudia hält meinen Rücken. Willi sagt: »Wie schön, dass der Georg da ist.« Ich werde von beiden Eltern gehalten, so bin ich doppelt geborgen.

Nicht nur dadurch, dass ich meine Gefühle spüre und äußere, nicht nur dadurch, dass ich spüre, wo im Körper sie »feststecken«, und nicht nur dadurch, dass ich damalige Bedürfnisse endlich klar äußere, stellt sich eine tiefe Erfüllung ein. Wesentlich ist auch, dass sie in der Gegenwart »nachgenährt« werden.

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