Elisabeth Schönert porträtiert Nina Treu, eine der Hauptorganisatorinen der Degrowth-Konferenz, die keine konventionelle Karriere machen, sondern lieber eine enkeltaugliche Wirtschaft miterfinden möchte.von Elisabeth Schönert, erschienen in Ausgabe #28/2014
Mittagspause – Degrowth-Pause. Es ist ein warmer Sommertag. Nina Treu lehnt sich auf der Parkbank im stillgelegten Güterbahnhof des Leipziger Stadtteils Plagwitz zurück, schließt die Augen und lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Gleise und Beton sind von Gräsern, Disteln und Mohnblumen überwuchert – eine Brache, die das Ende des Wirtschaftens von einst und zugleich Neugierde verspüren lässt. Was mag hier entstehen? Gewinnt die Natur dieses Stück Erde zurück? Es ist eine Postwachstums-Leere: Vogelgezwitscher statt Güterverkehr. Das ist genau Ninas Thema.
Nina Treu ist Koordinatorin für Programm und Teamorganisation der 4. Internationalen Degrowth-Konferenz in Leipzig. Als eine der wenigen hauptberuflichen Team-Mitglieder hält sie viele Fäden in der Hand und kümmert sich mit Daniel Constein seit Sommer 2013 um die zahlreichen Ehrenamtler und Organisationen, die zum Gelingen des Kongresses beitragen. Nach dessen Ende wird sie wieder in ihre Rolle als Mitbegründerin des »Konzeptwerks Neue Ökonomie« schlüpfen, das Ideen für eine soziale, ökologische und demokratische Wirtschaft entwickelt. Gemeinsam mit ihren Kollegen will die 30-Jährige eine Plattform für neue, solidarische Wirtschaftsformen schaffen und diese in die Öffentlichkeit tragen. Die Stille auf der Parkbank hält nicht lange an. Nina Treu sprüht vor Energie. Immer. Die grau-blauen Augen funkeln, die Worte fliegen aus ihrem Mund – manches Mal ist es als ihr Gegenüber nicht leicht, bei dem Tempo mitzugehen. Sie will erklären, warum die Themen des Degrowth-Kongresses so wichtig für sie sind: »Ich sehe den Kapitalismus als System äußerst kritisch, aber eine Diskussion über sein notwendiges Ende verschreckt viele Menschen. Deshalb glaube ich, dass die Degrowth-Diskussion, in der es verschiedene politische Strömungen gibt, ein guter Zugang ist, um in der Breite der Bevölkerung essenzielle Fragen zu stellen: Wer profitiert vom bestehenden Wirtschaftssystem? Welches Wirtschaften ist gut für eine Gesellschaft? Diese Diskussion lädt viele Leute ein, nachzudenken, ohne sie zu verschrecken.« Brückenbauerin möchte sie sein, pragmatisch – nicht polarisieren. Selbstverständlich sei es wichtig, die Grundfrage zu stellen, wie die Trennung von Arbeit und Kapital aufgehoben werden könne. Heute würden Entscheidungen danach getroffen, wo der Profit am größten sei – nicht danach, was der Gesellschaft am meisten nütze. Aus Ninas Sicht gibt es durchaus Alternativen zum bestehenden Wirtschaften: Kooperativen und die Begrenzung von Unternehmen und Banken in ihrer Größe, ebenso den Abbau von Hierarchien. »Entscheidungen sollen von den Menschen getroffen werden, die sie auch umsetzen. Ich wünsche mir demokratische Unternehmen«, sagt sie so schnell, dass manche Silbe im Off verschwindet. Nina hat sich mit den Gedanken von Karl Marx beschäftigt; er hat sie geprägt, ebenso wie eine ausführliche Auseinandersetzung mit Anarchismus und Basisdemokratie. »Wachstum führt nicht zu einer gleicheren Verteilung von Reichtum in unserer Gesellschaft.« Während des Studiums in Heidelberg und Paris belegte die Politikwissenschaftlerin auch Volkswirtschaftslehre und Öffentliches Recht in den Nebenfächern. »Essenzielle, systemkritische Fragen wurden dabei nicht behandelt; deshalb wurde ich in Gruppen wie ›Attac‹ aktiv und habe mir dort anderes Wissen erschlossen.« In Heidelberg versuchte Nina, im »Arbeitskreis Studiengebühren« deren Einführung zu verhindern, wirkte in der Fachschaft, organisierte Blockaden gegen das Treffen der G8-Regierungschefs 2007 in Heiligendamm und machte Praktika bei NGOs wie »Global Witness«. Diese Nichtregierungsorganisation hat sich zum Ziel gesetzt, Rohstoffausbeutung, Korruption und Missachtung von Menschenrechten aufzudecken. »Ich möchte einen Beitrag dazu leisten, dass unsere Gesellschaft gerechter wird und wir den ökologischen Kollaps verhindern.« Sie meint: »Dabei muss keineswegs immer etwas Konkretes herauskommen, denn allein die Auseinandersetzung mit den Themen bringt Veränderung.« Im Studienjahr an der renommierten Hochschule »Science Politiques« in Paris schreckten sie die Kommilitonen im dunklen Anzug und blauen Kostüm ab. »Die Entscheidungsträger von morgen sind die Kinder der Entscheidungsträger von gestern«, stellte Nina fest. »Wenn das Establishment immer wieder die Elite des Landes bildet, wie soll da Neues entstehen? Wie soll das bisherige System abgelöst werden?« Dabei ist sie selbst ein Beispiel dafür. Nina stammt aus einer bürgerlichen Familie; der Vater ist Arzt, die Mutter Lehrerin, beide sind für soziale Themen aufgeschlossen. Sie wuchs am Schliersee auf, die Eltern trennten sich bald, dennoch erlebte sie eine behütete Kindheit. Nach Schulschluss fand ihr Leben draußen im Grün des Voralpenlandes statt. Sie zog mit den Pfadfindern los, radelte nachmittags mit den Freunden zum Spielen in den Wald – Nina immer ganz vorne. Später tanzte sie, sang im Chor, schrieb für die Schülerzeitung. Die Eltern gaben ihr Raum, sich frei und selbständig zu entwickeln.
Begreifen, wo Ungerechtigkeit entsteht Mit 16 Jahren ging sie als Austauschschülerin für ein Jahr nach Indianapolis, USA. »Mein Gastvater war ein Patriarch, und alle Freiheit, die ich zu Hause gewohnt war, kappte er.« Fast-Food-Essen, Freunde, die nur vor dem Computer herumhingen, kein öffentlicher Nahverkehr – das machte keinen Spaß. »Die Regale in den Supermärkten waren voll, es herrschte totaler Überfluss, und in mir stieg immer mehr das Gefühl auf, das Leben in den USA sei wie der Ausfluss des Wohlstands.« Nachdenklich fährt sie sich bei diesen Erinnerungen durch ihre rotblonden Locken. »Ich habe niemanden getroffen, der in meinen Augen ein erfülltes Leben lebte.« Nach dem Abitur in Deutschland ging Nina erneut auf Reisen. Sie engagierte sich neun Monate in Bolivien in einem Projekt für arbeitende Kinder, das eine Bekannte aus Bayern initiiert hatte – in einer kleinen, lokalen Initiative, die Kindern wenigstens nach deren täglicher Arbeit ein altersgerechtes Leben ermöglichte. Nina kochte, half bei Hausaufgaben, versuchte, ein Zuhause zu schaffen, lebte mit im Slum und stieß dabei an ihre Grenzen. »Eigentlich brauchten die Leute nicht mich, sondern Geld für ihre Arbeit. Vor Ort gab es viele Menschen, die besser kochen, die besser mit den Kindern umgehen konnten, die mehr Ahnung von Sozialarbeit hatten als ich. So beschloss ich, gegen globale Ungerechtigkeit etwas von Europa aus zu unternehmen.« Dies war nicht die einzige Erfahrung in Bolivien, die ihr Leben prägen sollte: Die Bevölkerung hatte kurz zuvor den Präsidenten des Landes gestürzt. Nina beeindruckte, dass von der Gemeinschaft der Menschen Macht ausgehen kann – dass ein mündiges Volk tatsächlich seine Gesellschaft selbst gestalten kann. Gleichzeitig wurde sie persönlich in Bolivien immer wieder mit Ungerechtigkeit konfrontiert. Als Frau traute man ihr in dem südamerikanischen Land manches nicht zu, bevorzugte Männer bei der Arbeit. So kehrte sie nach Deutschland mit einer Frage zurück, die immer stärker in ihr brannte: »Wie kann ich die Welt verändern?« Der reduziertere Lebensstandard, den sie in Bolivien kennengelernt hatte, verbunden mit der im Vergleich zu den USA und Deutschland größeren Zufriedenheit der Südamerikaner, deren stärkere Ausrichtung auf Leben in Gemeinschaft sensibilisierte sie dafür, ihr eigenes Leben umzugestalten.
Gemeinschaft macht glücklich Trotz Einser-Examens ging sie nach dem Studium nicht in die Wirtschaft, noch nicht einmal eine global operierende NGO reizte sie. »Nina hatte keine Lust auf Herrschaft, auf die Arbeit unter einem Chef«, erklärt Christopher Laumanns – Ninas bester Freund aus Studientagen und Mitgründer des Konzeptwerks – ihren Weg. »Außerdem braucht die Welt noch viel mehr Initiativen – da ist es besser, wir gründen eine eigene, statt in bestehende einzusteigen.« Nina beschreibt ihre Entscheidung so: »Mir ist es wichtig, in Verbundenheit zu meinen Kollegen und mir selbst zu arbeiten; Geld spielt dabei keine wesentliche Rolle. Wichtiger ist mir, selbstbestimmt in Freiheit zu arbeiten und dabei Sinnvolles zu tun.« Nach dem Studium zog sie 2011 mit Kommilitonen nach Leipzig. Heidelberg war ihr zu festgefahren, zu bürgerlich – und außerdem gab es in der Stadt im Osten billigen Wohnraum. Bald startete die Gruppe ihr eigenes Hausprojekt, renovierte die Wohnungen und musste im Gegenzug nur geringe Miete zahlen. Achtzehn Menschen finden in dem Altbau Platz, aufgeteilt auf drei Wohngemeinschaften. Im Erdgeschoss gibt es ein Ladenlokal, in dem Partys oder auch politische Veranstaltungen stattfinden. Die Miete ist solidarisch: Jeder zahlt im Durchschnitt 180 Euro im Monat plus 30 Euro für den gemeinsamen Einkauf von Lebensmitteln bei einer Kooperative. Alle 14 Tage ist Plenum, an dem die Finanz-, die Einkaufs- und die Laden-AG berichten. »Gemeinschaft ist für mich essenziell. Wir tragen uns gegenseitig, meine Freunde bereichern mein Leben. Ich ziehe viel Kraft aus unseren Gesprächen und möchte diesen Menschen nahe sein.« Nina lacht. »Am glücklichsten bin ich im Austausch mit anderen.«
Neue Ökonomie leben Nina zu porträtieren, bedeutet eigentlich, auch über Christopher, Jona, Susanne, Johannes, Sarah, Nadine, Kai, Steffen, Eva, Anne und Felix zu schreiben – denn auch die Arbeit im Konzeptwerk findet in Gemeinschaft statt. Im Büro wird mittags zusammen gekocht, jeder erhält das ungefähr gleiche Einkommen von unter 1000 Euro im Monat. Wenn zum Beispiel das Bildungsteam, das im Konzeptwerk mit der Veranstaltung von Postwachstums-Workshops sehr erfolgreich ist, Einnahmen über den Bedarf hinaus erwirtschaftet, werden andere Bereiche damit unterstützt. Dabei sei ein höheres Einkommen aller durchaus das Ziel: Die 27- bis 35-Jährigen bezweifeln, dass das Geld für die Gründung einer Familie oder für Altersrücklagen reiche. Die Mitglieder des Konzeptwerks wollen ihre Vorstellung von einem zukunftsfähigen Wirtschaften vorleben. Nur gebrauchte, alte PCs sind im Einsatz, Ninas Handy gehört einer vergessenen Generation an, Ökostrom, Pulli statt Heizung, Second-Hand-Kleidung statt H&M, Zusammenarbeit mit regionalen Unternehmen oder Kollektiven, Konsensentscheidungen, keine Flüge, kein Auto – stattdessen sind sie mit Fahrrad oder Bahn unterwegs. Perspektivisch sollen höchstens 20 Personen gemeinsam im Konzeptwerk arbeiten, damit sich alle gut untereinander kennen und austauschen können. So müssen keine Hierarchien aufgebaut werden, was eine größere Zahl an Mitarbeitern stets mit sich bringt. »Wir nehmen keine Arbeit mit nach Hause, und an Wochenenden schaffen wir auch nicht«, beschreibt Nina die Philosophie der Konzeptwerker. Sie hat meist – wenn nicht gerade die Konferenz vorbereitet wird – eine 30- bis 35-Stunden-Woche. Freizeit und Arbeitszeit sollen in einem guten Verhältnis stehen.
Gleichberechtigt zusammenarbeiten? Doch lassen sich die Vorstellungen immer umsetzen? In Ninas zackigem »Sammelst du mal die Jungs in der Küche ein, die machen da Talk!«, das sie zu Beginn der einer Besprechung zu einer Kollegin sagt, klingt ein Führungsanspruch durch. »Hierarchiefreies Arbeiten« ist ein Thema, das Nina immer wieder beschäftigt und herausfordert. Das liegt auch in ihrer Person – als Mitgründerin und Hauptverantwortliche bei der Organisation des Degrowth-Kongresses – sowie ihrer energievollen Art begründet. »Nina arbeitet sehr strukturiert, lösungsorientiert, sie ist politisch«, beschreibt sie Christopher Laumanns. »Sie kann sehr gut mit einer hohen Arbeitsbelastung umgehen, überfordert damit aber auch schon mal andere.« Jona charakterisiert sie so: »Nina gibt eine Richtung vor, aber erwartet nicht unbedingt, dass diese Richtung auch eingeschlagen wird.« Nina wünscht sich, dass bei den nächsten Rückzugstagen des Konzeptwerks das Thema »Hierarchie« auf die Tagesordnung kommt. Die Gruppe versucht, durch enge Kommunikation – das Plenum tagt monatlich, die Arbeitsgruppen treffen sich wöchentlich – Konflikte gar nicht erst entstehen zu lassen. Auch bei der Vorbereitung der Degrowth-Konferenz muss sich Nina immer wieder kritisch mit Entscheidungsfindung auseinandersetzen. Über 60 Menschen, die meisten davon ehrenamtlich, haben an der Planung des Kongresses mitgewirkt, und deren Arbeit galt es für Nina und Daniel zu koordinieren (siehe Seite 46). »Die Gruppe ist aus dem Nichts entstanden, und es war eine begeisternde Erfahrung, wie wir basisdemokratisch und doch schnell und gut zusammengearbeitet haben.« Nina wurde schnell bewusst, dass bei ihr und Daniel durch die hauptamtliche Tätigkeit eine »Zentralisierung von Macht« stattfinden könnte – schon allein durch die Menge an Informationen, die sich bei beiden ansammelt. Zur Vorbeugung sei es wichtig gewesen, einen guten Kommunikationsfluss unter den Beteiligten durch Protokolle herzustellen und möglichst vielen Teammitgliedern Spezialbereiche zuzuordnen, in denen sie mitentscheiden. »Es war unsere Rolle, einen Raum für Meinung zu schaffen und den Raum für Koordination zu reduzieren.« Vetos waren zulässig, sollten aber mit großer Vorsicht eingesetzt werden. Auch eine gute Moderation sei für die Zusammenarbeit wichtig gewesen. »Wir haben uns alle immer wieder die Frage gestellt: ›Wie geht es uns mit dem Prozess?‹«, beschreibt Nina diese Zeit. Ein großes Spannungsfeld entstand durch die ehrenamtliche Tätigkeit vieler. »Deren Ressource Zeit war sehr knapp, und wir mussten voneinander lernen, diese Situation zu respektieren«, erläutert sie den Konflikt diplomatisch.
Experimentieren und wirksam werden Grundsatzentscheidungen wie die Auswahl des Kongress-Logos mussten einstimmig gefällt werden. Zunächst war dabei keine Einigung in Sicht: Jeder hatte eine andere Vorstellung davon, wie das Logo aussehen sollte. Da entstand die Idee, die Meinungsvielfalt im Rahmen einer Aufstellung zu visualisieren. »So waren alle gezwungen, sich zu positionieren, alle wurden gehört, und wir wussten, wo die Gruppe steht«, beschreibt Kollege Christopher den Prozess. Zeitlimit: Eine Stunde. »Durch die Visualisierung wurde es einfacher, eine gemeinsame Position zu finden, da den einzelnen bewusst wurde, wie wenig oder wie weit sie von ihrer Vorstellung abrücken mussten, um sich der Mehrheit anschließen zu können«, resümiert Nina. »Nach diesem Prozess waren alle bereit, für das uns am Herzen liegende Projekt einen Schritt von der eigenen Meinung zurück und hin zur gemeinsamen Sache zu machen.« Zurück von der Mittagspause, zeigt Nina in ihrem Büro auf ein Plakat hinter dem Schreibtisch – ein enges Netz aus Strichen. »Der Himmel über Deutschland – Ein ganz normaler Tag im Januar 2011« steht dort geschrieben. Die Grafik zeigt alle Flugbewegungen. Nina runzelt die Stirn, sie wendet sich ab und greift zum Telefon. Ihre Gedanken schweifen ins Jahr 2015. Eine Klimakampagne soll initiiert werden. Dafür steht jetzt eine Telefonkonferenz an. Klima-aktivisten und Umweltverbände wie die »BUNDjugend« wollen zur Klimakonferenz in Paris im kommenden Jahr mit bunten Aktionen für Klimagerechtigkeit streiten. Nina Treu ist dabei – Mitstreiterinnen und Mitstreiter gesucht! •
Elisabeth Schönert (44), Journalistin und Betriebswirtin, arbeitete unter anderem als Wirtschaftskorrespondentin in London. Im Rahmen der Sinn-Stiftung engagiert sie sich für zukunftsfähige Entwicklungen im Wirtschaftsleben.
Mehr aus der Brutstätte neuer Ökonomie www.konzeptwerk-neue-oekonomie.org Das erste Buch des Projekts, »Zeitwohlstand«, ist von dieser Seite herunterladbar.