Vivien Beer besuchte Susanne Fischer-Rizzi in ihrem Haus im Allgäu, wo die Naturheilkundige und Autorin die Schule für Heilpflanzenkunde, Aromatherapie und Wildniswissen »Arven« betreibt.von Vivien Beer, Susanne Fischer-Rizzi, erschienen in Ausgabe #29/2014
Susanne, wir sitzen gerade in deiner offenen Küche, während das Kräuterbrot in der Feuertonne bäckt. So können wir unser Gespräch bei einem gemütlichen Beisammensein beginnen. In vielen deiner Bücher schreibst du über Heilung und Verbundenheit mit der Natur. In welcher Verbindung steht dazu die »wilde Küche«?
Während ich mich viele Jahrzehnte mit Naturheilkunde und Wildniswissen beschäftigt habe, konnte ich beobachten, dass psychische Störungen auch damit zusammenhängen, dass Menschen kaum mehr Kontakt zur Natur haben. Die Natur und ihre Elemente zu spüren, kann uns helfen, wieder in eine körperliche und seelische Balance zu gelangen und uns gegen die Leiden unserer hektischen Zeit wie Schlafstörungen, Depressionen, Burnout oder Angstgefühle zu wappnen. Ohne Handy und Uhr am Feuer zu sein – da kann sich die Psyche entspannen. Das Einfache ist in unserem modernen und komplexen Leben oft ein Heilmittel. Die wilde Küche schenkt entschleunigte Zeit. Wenn wir am Feuer backen, so wie wir es gerade tun, dauert es drei Stunden bis der Teig geknetet, aufgegangen und das Brot fertig ist. Wir sind mit einfachen Dingen beschäftigt, sitzen beisammen und haben zwischendrin viel Zeit. Da kann Zeit wieder balsamisch sein.
Was bedeutet das – balsamische Zeit?
Zeit ist ein riesiges Thema in unserer Gesellschaft. Alle sehnen sich danach, mehr von ihr zu besitzen, dabei wirkt sie wie ein Gift: Sie fehlt, sie vergeht zu schnell, und Zeitqualität scheint aus unserem Bewusstsein ganz verschwunden zu sein. Der Begriff der balsamischen Zeit kommt aus der alten europäischen Heilkunde – er meinte eine Zeit, die wie Balsam für deinen Körper und deine Seele wirkt. Zeit wurde damals zyklisch, sozusagen als Kreis empfunden. Das steht unserem linearen Zeitverständnis gegenüber, bei dem entweder etwas abläuft oder bereits vorbei ist. In der balsamischen Zeit ist der Mensch zum Beispiel in den Kreislauf der Jahreszeiten eingebunden und stimmt sich mit seinem ganzen Leben immer wieder darauf ein. Stell dir vor, du lebst einen Tag ohne Uhr und versuchst, Zeit als Fülle und als rhythmisch zu empfinden und zu betrachten – so würde sie balsamisch heilend wirken. Solche einfachen Dinge haben enorme Transformationskraft. Genauso ist es bei der wilden Küche. Wahrscheinlich wird sie deswegen nicht propagiert. Um am Feuer kochen, backen oder grillen zu können, brauchst du zwar Zeit, aber sonst nicht viel mehr. Alte Töpfe vom Flohmarkt reichen aus – und eigentlich sind nicht mal die zwingend erforderlich, oft genügen Steine, auf denen du etwas erwärmen kannst. Zubehör wie Löffel, Teller oder Becher kannst du dir auch selbst anfertigen – auch ein Blatt kann ein Teller sein.
Magst du beschreiben, was du selber fühlst und spürst, wenn du draußen am Feuer kochst?
Ich spüre Lebendigkeit und Verbundenheit. Ich rieche das Feuer, nehme Feuerholz in die Hand, höre die Vögel, sammle Gräser und Wildkräuter – ich schmecke ganz viel, ich erlebe die Jahreszeit. Da sind alle meine Sinne wach eingebunden in ein wirklich mehrdimensionales Kochen und Essen. Es schafft Verbundenheit, wenn so viel einbezogen wird. Das ist gar nicht mit Kochen in geschlossenen Räumen vergleichbar! Ein Feuerplatz ist eine Küche, in der ich keine Beschränkung erfahre, außer die selbstverständliche Achtsamkeit mit den offenen Flammen. Da schafft Feuer Raum für Kreativität und Inspiration!
Du verbringst ja viel Zeit beim Kochen mit Menschen am Feuer. Was nimmst du bei solchen Kochaktionen zwischenmenschlich wahr?
Feuer ist seit langer Zeit ein zentraler Punkt im gemeinschaftlichen Leben der Menschen. Als vor etwa einer Million Jahren die Menschen zum ersten Mal am Feuer kochten, ist vielleicht so etwas wie eine erste bewusste Gemeinschaft entstanden. Menschen sammeln sich, wo Feuer brennt. Dabei kann jeder seinen Platz finden: Jemand kann Feuerholz holen, jemand kann es kleinmachen, die nächste findet einen guten Platz zum Hinsetzen. Auch Kinder können dort wunderbar spielen. Niemand muss ausgeschlossen sein – ganz im Gegensatz zum Grillen, das ein aktueller Trend ist. Hochtechnisierte Grills, die bis zu einigen Tausend Euro kosten können, konkurrieren auf dem Markt. Das ist meiner Meinung nach zu sehr auf Konsum und Leistung ausgerichtet. Fast immer steht am Grill nur eine Person, meistens ein Mann. Ich werde oft gefragt, ob denn auch Frauen wilde Küche machen könnten, oder ob das nicht nur für Männer geeignet ist. Aber das offene Feuer ist nicht auf nur eine Seite hin ausgerichtet. Daran ist immer Platz für alle.
In deinem Buch »Wilde Küche« sagst du, dass wir uns an dem Ort, an dem wir kochen und essen, zumindest für eine Zeitlang zu Hause fühlen.
Wenn du an irgendeinem Ort isst und kochst, nährst du dich und spürst deinen Leib; das schafft ein Gefühl von Zu-Hause-Sein. Wenn du das in der Natur tun kannst und vielleicht auch Wildpflanzen einbeziehst, kann dir alles, was um dich herum wächst und lebt, auf eine besondere Weise vertraut werden. Das kann eine ganz neue, stärkende und heilende Beziehung zwischen dir und der Natur schaffen und dir helfen, die Anforderungen des Alltags stressfrei zu bewältigen.
Welche Erfahrung hast du mit dieser Art von Naturverbundenheit gemacht?
Ich habe bei einigen Indigenen gelebt. Als wir auf einer Wildnisreise in Kanada eines Abends Töpfe und Essen einpackten, sagte ich zu meiner indianischen Freundin: »Morgen geht es los in die Wildnis!« Das hat sie gar nicht verstanden, da es in ihrer Sprache kein Wort für Wildnis gibt. Drinnen und draußen gehören dort zusammen, sind eins. Wenn du dieses Gefühl des Zusammengehörens wahrnimmst, fühlst du auch, dass deine innere Natur mit der äußeren korrespondiert und dass ein großer Teil von deiner Seele in der Natur ist.
Du schreibst auch, wenn man eine andere Kultur verstehen möchte, brauche man sich nur die jeweilige Küche anzuschauen.
Ja, da lässt sich auch in Deutschland – wo es so viele internationale und essbare Gärten und viele Flüchtlinge gibt – viel entdecken. In anderen Ländern und Kulturen existiert teilweise noch eine Feuerkochkultur. Diese miteinander zu teilen, erzeugt gegenseitiges Verständnis und Freundschaft, ohne die jeweilige Sprache erst lernen zu müssen. Das gemeinsam entfachte Feuer, das Zusammensitzen im Kreis ist ein verbindendes Symbol, das in allen Kulturen verstanden wird und einen hohen Stellenwert besitzt.
Wie hat sich deine Beziehung zum Feuer in deinem Leben entwickelt? Ich habe wie fast jedes Kind gerne gezündelt, Würstchen und Stockbrot am Feuer gebrutzelt und gegessen. Der erste wirklich bewusste Kontakt mit dem Feuer ist dann aber auf meinen Reisen nach Asien und Amerika entstanden. Dort habe ich einerseits die Tradition des »heiligen Feuers« kennengelernt und andererseits das Kochen am offenen Feuer. In Indien, wo ich in hinduistischen Haushalten gelebt habe, wurde zum Sonnenunter- und zum Sonnenaufgang ein Feuerritual zelebriert. Das Feuer, genannt Agni, wird dort als Verkörperung des Göttlichen gesehen und mit dem heiligen Lebensfunken gleichgesetzt. In Nord- und Südamerika habe ich dann von Indigenen erfahren, dass es auch dort heilige Feuerkulte gibt. Zu Hause angekommen, stellte ich mir die Frage, ob so etwas auch in Europa existiert hat, und ich begann zu forschen. Nur mit der Hilfe des Feuers konnten die Menschen früher hier in Europa, speziell während der Eiszeiten, überleben. Mit der Sesshaftigkeit haben sie das Feuer in die Häuser geholt. Sein Platz war jahrhundertelang ein heiliger Ort als Sitz des Lebensfeuers. In germanischen Haushalten gab es Göttinnen, die den Herd hüteten – die Brüder Grimm vermuteten, dass die Erdgöttin Herda auch mit dem Herd verbunden war. Bei den Griechen war es Hestia, die für das heilige Feuer stand. Für sie wurden keine großen Tempel erbaut, denn jeder Herd in jedem Haushalt war ihr geweiht. Dies alles drückt eine tiefe Verehrung und ein natürliches Verständnis für das Feuer als Element des Lebens, der Nahrung und des Schutzes aus.
Wie konnte dieser große Feuerkult verschwinden?
Diese Verehrung des Feuers ist nie ganz verschwunden. Sie lebt weiter in den Kerzen am Weihnachtsbaum, am Adventskranz oder in der olympischen Flamme. Die Ehrung des Feuers als Zentrum des Kochens, Nährens und gemeinsamen Zusammenseins ist erst in moderner Zeit an den Rand gedrängt worden – jetzt, wo wir kein sichtbares Feuer mehr brauchen, um unser Essen zu erwärmen. Wir sind von diesem Element in seiner Urform abgeschnitten, obwohl wir nach wie vor Wärme und Hitze zum Kochen und Leben verwenden und brauchen.
Wie ist wildes Kochen deiner Meinung nach in Städten und Großstädten möglich, wenn manche Menschen nicht einmal einen Garten haben?
Viele meinen, ein offenes Feuer sei in Städten nicht möglich. Dabei hat jede größere Stadt auf ihrer Internetseite offene Grillplätze verzeichnet. Das sind manchmal richtig schöne Stellen! Anstatt ins Restaurant zu gehen, könnten Menschen sich doch auch zum Kochen am Feuer treffen. So eine Aktion muss gar nicht aufwendig sein. Einige wenige Lebensmittel und ein Basiswissen über das Feuermachen genügen. Die meisten denken auch, es sei nur im Sommer und im Grünen möglich, draußen zu kochen. Im Winter geht das jedoch genauso, und es ist dann wunderschön, im Freien am Feuer zu sitzen, sich zu wärmen und zu essen.
Welche Bedeutung siehst du darin, in Städten wieder zu naturverbundenen Esskulturen zu finden oder wildes Kochen statt Fastfood zu praktizieren?
Auch hier spielt unsere beschleunigte Zeit eine entscheidende Rolle. Für Kochen, Essen und Genießen wird sich hierzulande keine Zeit mehr genommen. Die Souveränität darüber haben wir aus den Händen gegeben. Viele Menschen wissen nicht mehr, wo die Lebensmittel herstammen, wie sie gewachsen sind und verarbeitet wurden. Sie verzehren »bequemes«, vorbereitetes Essen vor dem Fernseher, ohne den Kochvorgang zu genießen. Vieles davon stammt aus konventionellem Anbau und großflächigen Monokulturen, so dass die Nahrungsmittel keinen authentischen Geschmack mehr haben. Mit synthetischen Aromen werden sie aufgepeppt. Sich zum Beispiel am Wochenende mit der Familie oder Freunden gemeinsam an eine Feuerstelle in der Natur zu setzen und zu kochen, kann wieder ein Gefühl der Gemeinsamkeit schaffen.
Was hast du dabei mit deiner Arbeit mit Kindern erlebt?
Besonders Kinder in Großstädten haben das Gefühl für lebendige Nahrung verloren. Wenn ich mit Kindern wild gekocht habe, konnten sie selbst Feuer machen und etwas Feines darauf zubereiten. Das war wie eine Rückgewinnung eines alten Wissens und wie eine tiefe Heilung für die Kinder. Oft ist es am besten, wenn die Eltern – die schon Angst haben, wenn ihr Kind ein Streichholz in die Hand nimmt – gar nicht dabei sind. Wenn Kindern zugetraut wird, selber Feuer zu machen und somit eine Souveränität über Feuer und Essen erfahren wird, machen sie jedes Mal einen immensen Entwicklungsschritt und kommen viel selbstbewusster nach Hause. Ich finde es aber auch wichtig, dass Eltern zusammen mit ihren Kindern kochen – am besten gemeinsam am Feuer!
Was wünschst du dir für die wilde Küche in der Zukunft?
Ich habe den Traum, dass es in großen Städten wieder so etwas wie ein heiliges und gemeinschaftliches Feuer gibt, wo die Menschen, anstatt in Kneipen zu gehen oder vorm Fernseher zu sitzen, gelegentlich hingehen und auch dort zusammen reden, kochen, schmausen und das Leben würdigen. Das kann Menschen stärken und verbinden.
Auch hier hat uns das Feuer heute zusammengebracht und entschleunigt. Unser Gespräch neigt sich zum Ende, das Brot ist am Feuer gebacken, es duftet wunderbar. Ich freue mich darauf, es zu probieren. Hab vielen Dank für das schöne Gespräch! •
Susanne Fischer-Rizzi (62) ist Heilpraktikerin, Mentorin und Autorin. Sie gibt ihr Wissen seit 40 Jahren in Seminaren, Vorträgen und Büchern weiter. www.susanne-fischer-rizzi.de
Vivien Beer (23) studiert neben anthroposophischer Meditationsschulung Ethnologie und Soziologie in Heidelberg. Sie bildet sich zudem in Landwirtschaft und Permakultur fort.