Essen ist eine Kultur-Tat
Die Idee ist einfach, und sie sollte sich am besten so schnell verbreiten wie die Bewegung für urbanes Gärtnern: offene Küchen, in denen reihum auf Spendenbasis gekocht wird.
Huflattich, Schlüsselblumen, Löwenzahnblüten und Taubnesseln, Holunder- und Lindenblüten: Mit der Blüte der hundertjährigen Sommerlinde in meinem Kindheitsgarten endete jedes Jahr der Bogen des Frühlingskräutersammelns, und das Johanniskraut erzählte von kommenden Sommertagen. Es war nicht nur ein Hochgenuss, im Lindenduft zu schwelgen – Bienenstiche hin oder her –, sondern ohne dieses Sammeln, so kam es mir als vielleicht Achtjährige vor, wäre es dem Frühling doch völlig unmöglich gewesen, mit einem Lächeln von der Bühne der Jahreszeiten gehen; er hätte sich, ebenso wie die Linde selbst, zutiefst missachtet gefühlt. Kräuter zu trocknen, fühlte sich weder wie ein Spiel an noch wie eine Pflicht, sondern wie etwas Notwendiges, das dem Leben tiefen Sinn verleiht. Mit dem Älterwerden fand ich es zunehmend ärgerlich, dass unsere mit Marmeladen, Kompott, milchsaurem Gemüse, Essiggurken, getrockneten Pilzen und Tees gefüllten Regale nur ein Zusatz zur täglichen Supermarkt- und Bioladenernährung war. Ich fühlte mich um die »echte« Wintervorrats-Erfahrung betrogen.
Das Wohlgefühl beim Anblick einer Speisekammer voll von Selbstgemachtem muss den Europäern tief in den Knochen sitzen. Lächerliche hundert – auf dem Land vielerorts nur fünfzig – Jahre Fremdversorgung können diese wohl über Jahrtausende vererbte Erinnerung nicht auslöschen.
Wenn der Weihnachtsschmaus Sinn findet
»So ist es richtig«, dachte Julian Gröger immer wieder, als er kurz nach der Jahrtausendwende seinen Zivildienst in einem 2000-Einwohner-Dorf in Transsylvanien ableistete. Von August bis Oktober wurde hier geerntet und eingemacht. Das war auch Plackerei, manchmal wurden Nächte am Feuer durchgearbeitet, aber die Nachbarinnen und Nachbarn halfen einander auf den Kartoffeläckern oder Maisfeldern, es gab nach getaner Arbeit Musik und selbstgebrannten Schnaps. Anfang Dezember waren die Speisekammern voll bis unter den Rand. »Draußen konnte man nicht mehr viel tun«, erinnert sich Julian. »Auf den Höfen wurde noch ein Schwein geschlachtet, und dann hieß es: Jetzt feiern wir.« Weihnachten dauerte nicht etwa drei Tage, sondern gut zwei Wochen an sich biegenden Tischen. »Jetzt verstehe ich, warum dieses Fest gefeiert wird«, dachte Julian.
Seine Siebenbürgener Herbst-Erfahrungen wollte er mit anderen teilen. Dass in der jungen Generation das über Jahrtausende gelebte Vorratshaltungswissen nicht weitergegeben wird, brachte Julian dazu, zehn Jahre nach seinen ersten transsylvanischen Erfahrungen 2012 und 2013 einen deutsch-rumänischen Jugendaustausch zu organisieren. Inzwischen hatten sich zwar Filialen deutscher Supermarktketten in der Nähe der ihm bekannten Dörfer angesiedelt, so dass die Bedeutung des Vorrats in den Hintergrund getreten war. Aber viele Dorfbewohner hielten die Tradition des Einmachens hoch. Schließlich schmeckte ihr eingelegtes Gemüse viel besser als das gekaufte.
»Mit diesem Austausch war ich auch auf der Suche nach Formen, in denen Menschen auf Augenhöhe voneinander lernen«, erklärt Julian.
Zusammen am Feuer zu sitzen und Auberginen zu rösten, hat genau diese Wirkung. Der Prozess braucht Zeit; erst nach einer halben Stunde löst sich die Haut. Danach werden die Früchte mit Tomaten, Paprika und Zwiebeln durch den Fleischwolf gedreht und durch die Zugabe von Öl haltbar gemacht: So entsteht Sakuska, der traditionelle rumänische Gemüseaufstrich, der sich in den Dörfern aus eigenem Anbau herstellen lässt. »Unser Öl kam allerdings aus dem Supermarkt«, bekennt Julian. »Aber in der Region gibt es in jedem dritten Dorf noch eine Ölmühle. Dort lassen die Bauern ihre Sonnenblumenkerne pressen.« Auch andere Gemeinschaftsstrukturen sind noch lebendig, allen voran die für das Schnapsbrennen. »Es ergibt keinen Sinn, dass jeder im Dorf seinen eigenen Kessel fürs Brennen hat«, erklärt Julian. »Alle werfen ihre Früchte zusammen, und dann wird gebrannt, was das Zeug hält.« Auch Sakuska herzustellen ist oft eine Gemeinschaftsaktion nach dem Motto: »Komm, ich mache mein Feuer etwas größer, und du legst deine Auberginen dazu. Dann können wir zusammen erzählen.«
Nach zehn vollen Tagen Sakuskamusen, Schnapsbrennen, Brotbacken und Salzgurkeneinlegen fuhr die Gruppe nach Deutschland. Die jungen Leute aus Rumänien waren erstaunt über die urbanen Gärten – das Prinzip leuchtete ihnen sofort ein. Derzeit ist in Bukarest ein erster Gemeinschaftsgarten in Planung. Ihnen fiel auf, dass in Deutschland vor allem Süßigkeiten eingemacht werden. Quittenbrot war eine Spezialität, die sie noch nicht kannten. Im Leipziger Stadtgarten »Annalinde« wurde Sauerkraut gestampft und im Apfeldorf Gatschow in Mecklenburg-Vorpommern Saft gepresst. »Für die Gäste aus Rumänien war es unfassbar, dass im Dorf so viele Apfelbäume standen, die niemand erntet«, erinnert sich Julian. »Warum macht niemand daraus Schnaps?«, war ihre entsetzte Frage.
Auf dem Weg zur postfossilen Vorratskammer
Stefan Raabe und Wibke Seifarth vom »Landkombinat Gatschow« waren mit in Rumänien gewesen. Sie stellen sich die Frage, wie die für die Vorratshaltung benötigte Technik mit geringstmöglichem ökologischen Fußabdruck in die Welt kommen kann. In modernen Haushalten ist das Haltbarmachen von Nahrung mit den Erzeugnissen der ressourcenfressenden Industrie aufs engste verzahnt. Auch in meinem Heimatdorf liegt ein Teil der auf dem Gemeinschaftsacker gewachsenen Bohnenernte in einem stromfressenden und vermutlich in Asien zusammengebauten Tiefkühler. Der Wecktopf, in dem ein anderer Teil der Bohnen süßsauer eingemacht wurde, schaltet sich nach der eingestellten Pasteurisierzeit automatisch aus, und ich habe nicht die geringste Idee, woher die Gummiringe für die Weckgläser kommen. Marmelade fülle ich in Gläser mit nur industriell herstellbarem Schraubverschluss. Meine Urgroßmutter hätte ein in Alkohol getränktes Stück Pergamentpapier in den mit heißer Marmelade befüllten Topf gelegt und als Verschluss ein Butterpapier darübergebunden. Noch immer sammle ich Teekräuter, wie man es auch vor 10 000 Jahren tat, aber ich lege sie auf ein strombetriebenes Dörrgerät.
Das müsste nicht sein. Im Mai haben Stefan und Wibke Workshops für den Bau von Solartrocknern angeboten. Dafür sind keine Solarzellen notwendig, sondern nur ein schwarz gestrichenes Brett, über dem Fensterscheiben montiert sind, so dass sich darunter heiße Luft bildet, die in einen Trockenschrank geleitet wird.
Könnte aus traditionellem und modernem Wissen eine für die Stadt wie für das Land geeignete enkeltaugliche Wintervorrats-Kultur entstehen? Ich denke, ja. Die wichtigsten Helferlein auf diesem Weg sitzen bereits auf dem Gemüse und warten nur darauf, loszufressen. Sie heißen Lactobacillus brevis oder Lactobacillus plantarum und können pflanzliche Stärke- und Zuckermoleküle in Milchsäure umwandeln. Dabei entstehen auch Kohlendioxid und Kohlensäure, also ein saures Milieu, in dem Fäulnisbakterien keine Chance mehr haben. Das Gemüse muss nicht einmal erhitzt werden und erhält so seine Vitamine – das Ganze ist ein quicklebendiger Prozess, über den sich Darmbakterien freuen (siehe Seite 53).
Ob rumänische Salzgurken, englisches Mischgemüse (»Mixed Pickles«) oder deutsches Sauerkraut – für milchsauer Eingemachtes wird neben Gemüse nur ein Tontopf und etwas Salz benötigt. Die Technik ist so alt, dass sie schon in antiken Schriften Erwähnung findet. Milchsaure Gärung beginnt von Natur aus, wenn Gemüse im eigenen Saft liegt, ohne dass es mit Sauerstoff in Berührung kommt.
Ich frage Julian, ob er etwas von den rumänischen Einmachtechniken in seine Haushaltspraxis integrieren konnte. »In einer Berliner Wohnung ergibt das nicht so viel Sinn«, meint er nachdenklich. »Da will ich nicht allein vor meinem Gurkentopf stehen.« Aber er ist Teil der »Wedding-Wandler«. Die betreuen den Gemeinschaftsgarten »Himmelbeet«, und wenn dort nächstes Jahr im Spätsommer wieder die Tomatenschwemme kommt, wollen sie sich zum Einkochen treffen. Wenn Julian dazu etwas wissen will, kann er seine rumänischen Freunde um Rat fragen. »Wir sind auf dem Weg«, meint Julian. »Vorräte müssen wieder Teil des Lebens werden. Das gelingt am besten in einer lebendigen Nachbarschaft.«
Nächstes Jahr will ich überlegen, wie wir einen Erdkeller bauen und wie regional gewachsene Ölsaaten und eine Ölmühle ins Dorf kommen. Vielleicht kann uns Werkzeugmacher Stefan aus Gatschow bei der Konstruktion helfen. Befreundete Töpfer werden wir fragen, ob sie Gärtöpfe für uns machen. Wo der warme Raum ist, in dem sie die ersten Tage nach ihrem Befüllen stehen und »Blubb« sagen können, müssen wir noch herausfinden. Vorratshaltung bringt die Menschen zusammen. Sie tun dann nicht irgendetwas, sondern das seit Jahrtausenden Wichtigste für ein gutes Leben. Wenn sie damit fertig sind, feiern sie Weihnachten.•
Stationen für zukunftsfähiges Einkochwissen
www.weddingwandler.de
www.active-commons.org
www.saftstrasse.de
Literatur
Claudia Lorenz-Ladener: Milchsauer eingelegt. Ökobuch, 2014
Die Idee ist einfach, und sie sollte sich am besten so schnell verbreiten wie die Bewegung für urbanes Gärtnern: offene Küchen, in denen reihum auf Spendenbasis gekocht wird.
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