Die Kraft der Vision

Körper und Erde

Gutes Arbeiten, gutes Essen und gutes Menschsein bilden einen Kreislauf.von Wendell Berry, erschienen in Ausgabe #29/2014
Photo
© www.michaellindenberger.com

Wenn wir den Körper als bloßen Konsumenten von Nahrung betrachten, reduzieren wir seine Funktion auf die eines Leitungsrohrs, durch das die Nährstoffe der Erde vom Supermarkt in die Kläranlage geleitet werden. Oder wir machen ihn zu einer kleinen Fabrik, die Fruchtbarkeit zu Verschmutzung, Nahrung zu Abfall verarbeitet – und dabei der »Agrar­industrie« enorme Profite beschert und die Erde verelenden lässt. Dies ist nur eines der vielen Störelemente, die unsere Wirtschaft im fruchtbaren Kreislauf der Erde installiert hat.
Das angebliche Wunder der modernen Welt ist, dass so viele Menschen Energie aus Nahrung beziehen, in die sie selbst keine oder kaum Energie investiert haben. Fünfundneunzig Prozent der Bevölkerung, so brüstete sich einst ein stellvertretender Landwirtschaftsminister der USA, seien heute von der »Mühsal« der Nahrungsmittelerzeugung befreit. Diese Abspaltung des Körpers vom Nahrungsanbau hat komplexe und degenerierende Auswirkungen. Sie ist aber nur die Hälfte der Wahrheit. Denn heute sind (mindestens) fünfundneunzig Prozent der Bevölkerung nicht nur in jeglicher Hinsicht von der Erzeugungs-, sondern auch von der Regenerationsphase des natürlichen Fruchtbarkeitskreislaufs abgekoppelt: Die Nährstoffe des Bodens werden von diesen Körpern aufgenommen und verwertet – und dann als das, was wir so leichtfertig als »Abfall« bezeichnen, auf ganzer Linie verschwendet.
Eine Ursache dieser Verschwendung liegt in der alten »religiösen« Spaltung zwischen Körper und Seele, die den Körper und seine Ausscheidungsprodukte als anstößig betrachtet. Mit dieser Anstößigkeit leben zu müssen, galt einst als menschlicher Makel. Das war schon schlimm genug. Doch von alledem »erlöste« uns dann auch noch die moderne Technik durch das Wasserklosett und die Wasserkläranlage. Diese Vorrichtungen entsorgen die »Abfallprodukte« unserer Körper schlichtweg dadurch, dass sie sie aus unserem Wahrnehmungsfeld befördern. Die Ironie dabei ist nur: Diese technische Reinigung unseres Körpers hat den Preis, dass unsere Flüsse vergiftet und unsere Felder ausgezehrt werden. Sie macht die angebliche Anstößigkeit des Körpers zu etwas tatsächlich und unweigerlich Anstößigem und lässt eine ganze Gesellschaft vergessen, dass der Mutterboden ohne weiteres in der Lage ist, diese »anstößigen Abfallprodukte« zu reinigen – und dass diese, ökologisch betrachtet, weder Abfallprodukte noch anstößig sind, sondern wertvolle, für die Gesundheit des Lands und seiner »Konsumenten« essenzielle landwirtschaftliche Produkte.
Da unser Agrarsystem der Ökonomie und nicht der Biologie folgt, löst es die Nahrung aus dem Kreislauf ihrer Erzeugung und gliedert sie in einen endlichen, linearen Prozess ein, der sie letztlich zu Abfall wandelt und zerstört. Genauer gesagt, wird dabei Nahrung zu Kraftstoff – eine Energie, die nur ein einziges Mal nutzbar ist – und der Körper folglich zum Verbrennungsmotor. Auf den ersten Blick wirkt es seltsam, dass der institutionelle Aufbau der ­Agrarindustrie nicht einer Form ländlicher oder dörflicher Kultur folgt, sondern jener, die wir als »urbane Zivilisation« bezeichnen. Die Städte konkurrieren mit dem Land. Sie leben vom einseitigen Transfer von Energie – Nahrung, Kraft- und Werkstoffen, menschlicher Arbeitskraft, Intelligenz und Talenten – vom Land in die Städte. Nur wenig von dieser Energie wird je zurückgeführt. Anstatt den Kreis zu schließen und dem Land in einer Art kulturellen Ehevollzugs das, was zu ihm gehört, zurückzu­geben und es darüber hinaus mit Wissen, Kunst, Geselligkeit und Ordnung zu beschenken, vernutzt und verschwendet die moderne Stadt diese Energie. Neben ihren schillernden Konsumprodukten produziert sie eine nicht weniger charakteristische Schwemme an Müll und Verschmutzung – und erzeugt oder sammelt Arbeitslose, Arbeitsunfähige und anderen »menschlichen Abfall«. Wenn Konkurrenz die angemessene Beziehung zwischen Stadt und Land sein soll, drängt sich die Frage auf: Warum leiden Stadt und Land nach Generationen des Zustroms von Reichtum, Materialien und Menschen in die Städte gleichermaßen unter Verfall und Verwahrlosung? Warum zerfallen die städtische wie die ländliche Gemeinschaft?
Die urban geprägte Industriegesellschaft basiert auf einer Reihe radikaler Abspaltungen: von Körper und Seele, Mann und Frau, Ehe und Gemeinschaft, Gemeinschaft und Erde. In all diesen Bereichen bauen Wirtschaft, Regierung und Experten im Akkord profitable Geschäftsmodelle auf, die zur weiteren Fragmentierung der Schöpfung führen. Die Summe dieser Trennungen ergibt einen Zustand schwerer Krankheit, an der wir alle leiden – nicht nur wir und unsere Mitmenschen, sondern alle Mitgeschöpfe. Unsere Wirtschaft gründet auf dieser Krankheit. Ihr Ziel ist es, uns so weit wie möglich von den (materiellen, sozialen und spirituellen) Quellen des Lebens abzuschneiden, diese Quellen unter die Kontrolle von Unternehmen und Experten zu bringen und mit maximalem Profit an uns zurückzuverkaufen. Sie zerschlägt die Schöpfung in Fragmente und lässt diese in Konkurrenz zueinander treten. Zur Linderung des aus Fragmentierung und Konkurrenz entstehenden Leids verspricht unsere Wirtschaft nicht Heilung, sondern ausgedehnte »Behandlungen«, die zu weiterer Machtkonzentration und Profitsteigerung führen: Krieg, Krieg gegen das Verbrechen, Krieg gegen die Armut, staatliche Gesundheitsvorsorge, Versicherung, Impfung, mehr Industrie- und Wirtschaftswachstum usw. – gefolgt von neuen Gesetzen und Behörden, die dafür sorgen, dass unsere Gesundheit geschützt, unsere Freiheit verteidigt und unser Geld gut ausgegeben wird. Obwohl dies nicht völlig ohne »gute Absicht« erfolgen mag, kommen darin kaum Ehrlichkeit oder Hoffnung vor.

Gesunden heißt: Getrenntes verbinden
Gesunden können wir nur, indem wir die zerschlagenen Verbindungen wiederherstellen. Verbindung ist bereits Genesung. Und was unsere Gesellschaft tunlichst vor uns verbirgt, ist, auf welch gewöhnlichen, öffentlich zugänglichen Wegen Gesundheit entsteht. Wir verlieren unsere Gesundheit – und erzeugen profitable Krankheiten und Abhängigkeiten –, weil wir die direkten Verbindungen zwischen Leben und Essen, Essen und Arbeiten, Arbeiten und Lieben nicht mehr erfahren. Beim Gärtnern arbeiten wir mit dem Körper, um den Körper zu ernähren. Ist die Arbeit von Verstand getragen, bringt sie erstklassige Nahrung hervor. Und sie macht hungrig. Arbeit lässt das Essen nicht zum Konsum, sondern zur Freude werden, und sie verhindert, dass der Esser dick wird. Das ist Gesundheit, Ganzheit, eine Quelle der Freude. Im Gegensatz zu den industriellen erzeugen diese Lösungen keine neuen Probleme.
Die »Mühsal«, die eigene Nahrung selbst anzubauen, ist keine Mühsal. (Erklären wir das zur Mühsal, wie es die Agrarindustrie tut, dann erklären wir auch Essen und Leben zur Mühsal.) Es ist nicht nur die angemessene Erfüllung eines praktischen Bedürfnisses, sondern ebenso wie das Essen ein Sakrament, durch das wir unsere Einheit mit der Schöpfung – die lebendige Gemeinschaft eines Körpers mit allen anderen Körpern – vollziehen und erkennen. Das lehren uns die Ackerbau- und Jagdrituale indigener Stammeskulturen.
So wie Fragmentierung und Isolation der Arbeit Verbindungen durchtrennt haben, können diese erneuert werden, indem die Ganzheit der Arbeit wiederhergestellt wird. Es gibt Arbeit, die isolierend, verrohend, destruktiv, spezialisiert oder bis zur Bedeutungslosigkeit trivialisiert ist. Und dann gibt es Arbeit, die Ganzheit herstellt, die lebendige Gemeinschaft schafft, die würdevoll und würdigend zugleich ist und Freude macht. Gute Arbeit heißt nicht nur, Verbindung erhalten – so wie wir »für unseren Lebensunterhalt« oder »um die Familie zu ernähren« arbeiten –, sondern Verbindung vollziehen, Verbindung verlebendigen. Sie ist eine Lebensart und das Leben selbst; sie liefert keinen »Unterhalt« im Sinn einer Stütze von außen, sondern ist eine Form von Liebe, eine Liebestat.
Nur wer nicht zwischen diesen Arten von Arbeit zu unterscheiden weiß, kann sich damit brüsten, dass heute »fünfundneunzig Prozent der Bevölkerung von der Mühsal der Nahrungserzeugung befreit« sind. Der stellvertretende Landwirtschaftsminister konnte die Arbeit nicht als lebensnotwendige Verbindung erkennen; er sah darin nur einen Tausch von Zeit gegen Geld und ging wie selbstverständlich davon aus, dass man sich so weit wie möglich von Arbeit – und insbesondere körperlicher Arbeit – befreien sollte.

Gute Arbeit gründet auf Verbundenheit
Wir sehnen uns nach dieser fragwürdigen Freiheit und bezahlen ihre horrenden Kosten, weil wir körperliche Arbeit verabscheuen. Wir wollen nicht arbeiten »wie ein Hund«, »wie ein Ochse«, »wie ein Tier« – wir wollen unsere Körper nicht nutzen wie Vieh. Deshalb verachten wir die Landwirtschaft und überlassen sie Managern und Experten. Nur zu Recht erinnern wir uns daran, dass es Agrarsysteme gab, die Menschen wie Tiere behandelten. Das kann aber nicht dadurch gutgemacht werden, dass wir Menschen als Maschinen nutzen oder als nutzlos deklarieren.
Vielleicht nahm das Unheil seinen Lauf, als wir anfingen, Tiere geringzuschätzen: als »Vieh« – was bedeutet, sie so zu behandeln, als hätten sie nicht mehr Gefühle als eine Maschine. Vielleicht war unser zerstörerischer Einsatz von Maschinen bereits in unserer Bereitschaft, Tiere zu missbrauchen, angelegt. Dass es nie notwendig war, Tiere zu missbrauchen, um sie zu gebrauchen, geht aus einer Passage in »The Horse in the Furrow« hervor. Darin beschreibt George Ewart Evans, wie mittelalterliche Ochsengespanne zum Pflügen genutzt wurden: »[…] der Pflüger an den Sterzen, die Ochsen im Joch – als Zweier- oder Vierergespann – und nebenher der Treiber mit seinem Stock.« Weiter heißt es: »Es ist bemerkenswert, dass im Walisischen […] das Gegenstück zum Treiber als ›y geilwad‹ oder ›Rufer‹ bezeichnet wurde. Er lief rückwärts vor den Ochsen her und sang sie an, während sie arbeiteten. Dazu wurden eigens zum Arbeitsrhythmus der Ochsen passende Lieder komponiert.«
Dies unterscheidet sich radikal vom gegenwärtig üblichen Umgang mit Lebewesen. Die Ochsen wurden nicht als Vieh oder Maschinen, sondern als Mitgeschöpfe eingesetzt. Es ist anzunehmen, dass auch Menschen auf entsprechende Weise gearbeitet haben. Somit gibt es eine Art von Arbeit, die nicht auf Missbrauch oder Ausbeutung basiert, die nichts als Ersatz für irgendetwas anderes nutzt. Gutes Arbeiten heißt, uns als Mitgeschöpfe der Pflanzen, Tiere, Materialien und Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten, zu verstehen. Solche Arbeit ist verbindend und heilsam. Sie bewahrt uns vor Stolz und Verzweiflung und weist uns in unserem Menschsein Verantwortung zu. Sie definiert uns so, wie wir sind: nicht zu gut, um mit den Händen zu arbeiten, aber zu gut, um stümperhaft, freudlos, selbstsüchtig oder vereinsamt zu arbeiten.•


Übersetzung aus dem Englischen: Matthias Fersterer. Copyright © 1977 by Wendell Berry from »The Unsettling of America«. ­Reprinted by permission of Counterpoint.

In voller Länge ist der Essay »Körper und Erde« 2016 bei thinkOya erschienen.


Wendell Berry (80) kam als ältestes von vier Kindern in Henry County, Kentucky, zur Welt. Ein Stipendium ermöglichte es ihm, ein Studium in kreativem Schreiben an der Universität Stanford zu absolvieren. Nach kurzem Aufenthalt in New York City erwarb er in den 1960er Jahren eine »marginale Farm« in Kentucky, die er seitdem als Landwirt und Essayist, Romancier und Viehzüchter, Bodenverbesserer und Poet bestellt. Sein zen­trales Thema ist die Einheit von Kultur, Natur und Landbau. Einer breiten Öffentlichkeit wurde Berry durch den 1977 erschienenen Band »The Unsettling of America« bekannt. Darin übt er scharfe Kritik an der Agrar- und Nahrungsmittelindustrie und warnt vor den Folgen des durch agroindustrielle Unkultur verursachten Humusverlusts und der damit einhergehenden kultur­ellen Verarmung. In den USA gilt Wendell Berry als bedeutender Pionier der Gegenkultur und Umweltbewegung. Seine erdverbundenen, tiefen Weisheiten schöpft er aus gelebter bäuerlicher Praxis. Eine langjährige Freundschaft verbindet ihn mit dem Lyriker und Essayisten Gary ­Snyder. Berry ist Fellow der American Academy of Arts and Sciences und erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Preise. Er lebt und arbeitet mit seiner Frau Tanya auf der gemeinsamen Farm in Port Royal am Kentucky River.

www.wendellberrybooks.com

weitere Artikel aus Ausgabe #29

Photo
Gemeinschaftvon Susanne Fischer-Rizzi

Heimat der Sonne im hohen Norden

Island – ein karges, kaltes Land im Norden – sind die Menschen so unzugänglich wie die Natur? Susanne ­Fischer-Rizzi entdeckt die einzigartige Schönheit der Insel und einer Gemeinschaft, die sich hier zu Hause fühlt.

Photo
von Astrid Emmert

Ackergifte? Nein danke! (Buchbesprechung)

Ute Scheubs Buch zur gleichnamigen Kampagne »Ackergifte? Nein Danke!« (siehe Oya 26) liest sich wie ein Krimi: Es gibt ein schier unglaubliches Verbrechen, es gibt Täter, unzählige Opfer – aber niemanden, der von Amts wegen um die Aufklärung des Falls bemüht

Photo
Bildungvon Ekkehard Unger

Homeschooling in Neuseeland

Das Thema »Homeschooling« erhitzt die Gemüter in Deutschland: Das sei etwas für Fundamentalisten, die Kinder würden vereinsamen – so lautet das über­wiegende Urteil. In vielen Ländern, vor allem im englischsprachigen Teil der Welt, ist diese Praxis jedoch eine anerkannte Alternative, die Kindern eine lebensnahe Bildung ermöglicht.

Ausgabe #29
Satt und glücklich

Cover OYA-Ausgabe 29
Neuigkeiten aus der Redaktion