Bildung

Homeschooling in Neuseeland

Einblicke in eine entspannte Bildungskultur.
von Ekkehard Unger, erschienen in Ausgabe #29/2014
Photo
© Ekkehard Unger

 Homeschooling – in Deutschland hört man dafür öfter die Bezeichnung »Freilernen« – ist in Neuseeland eine etablierte und vom Gesetzgeber befürwortete Praxis und wird nicht – wie in Deutschland – von der Bildungspolitik als »Missachtung des Kindeswohls« und strafwürdige Verirrung von Spinnern verspottet. Homeschooling ist fester Bestandteil der neuseeländischen Bildungslandschaft und erfreut sich mit derzeit rund 6000 Kindern, die dies praktizieren, einer gewissen exklusiven Popularität.
Da jedes soziale Phänomen seine kulturellen Wurzeln hat, muss man die Existenz und die Anerkennung dieses Bildungswegs im Kontext der historischen Entwicklung des Landes sehen. Schon allein die heutigen geografischen Bedingungen – rund vier Millionen Einwohner unterschiedlichster Ethnien auf einer Fläche, die etwa zwei Drittel so groß wie die von Deutschland ist – führen zu infrastrukturellen Herausforderungen, die mit der Bereitstellung von Schulungszentren welcher Art auch immer nicht bewältigt werden können. Dazu gesellt sich die Geschichte der Besiedelung des Landes, die ursprünglich von einem äußerst liberalen Geist geprägt war: Die meisten neuzeitlichen Siedler kamen aus Großbritannien und gestanden gemäß dem Motto »Leben und leben lassen!« sich selbst und ihrem Umfeld ein hohes Maß an geistiger Freiheit zu. Das schlug sich auch in dem einigermaßen fairen Umgang mit der Maori-Kultur nieder, die sich auf der Insel seit hunderten von Jahren etabliert hatte.
Sich der Bedeutung des Bildungszustands einer Nation bewusst, rief die Regierung Neuseelands im Jahr 1877 ein Bildungs­gesetz – den »Education Act« – ins Leben, das festschrieb, auf welche Weise Kinder zu Bildung gelangen sollten und konnten. Die genannten Umstände machen es nachvollziehbar, dass Abschnitte in den Education Act eingefügt wurden, die den Eltern das Recht zusicherten, ihre Kinder zu Hause zu unterrichten, solange sie den Beweis antreten konnten, dass »das Kind genauso regelmäßig und in der gleichen Qualität wie an einer staatlichen Schule« ausgebildet werden würde. Hierzu gab es ein festgeschriebenes Antrags- und Überprüfungsverfahren, das, abgesehen von wenigen Ausnahmen, immer im Wohlwollen für die Antragstellenden ausgelegt wurde.
Diese Gesetzgebung behielt ihre Gültigkeit für über 100 Jahre. Mit dem Education Act von 1989, in dessen Absatz 21 die Festlegungen von 1877 sinngemäß wiederholt wurden, sind sie erneuert und präzisiert worden. Alle diese Fakten sind von der Internetseite des neuseeländischen Bildungsministeriums abrufbar – das Was und Wie eines Antragsverfahrens bezüglich Homeschooling ist dort erschöpfend dargelegt.

Der Staat schickt Bildungspakete
Um Eltern, die weit abgelegen wohnten und sich nicht in der Lage sahen, die schulische Bildung ihrer Kinder zu gewährleisten, zu entlasten, wurde im Jahr 1922 zusätzlich die staatliche »Correspondence School« ins Leben gerufen, eine Art Fernschule, die den Kindern anfänglich per Post, später per Radio und Funk Bildungspakete zusandte, wobei Lernfortschritte über Kontakte mit Lehrern dokumentiert wurden, die an zentralen Kommunikationsknotenpunkten statio­niert waren. Die vielfältigen Optionen, die seit dem Aufkommen des Internets eine nicht an den Schulstandort gebundene Bildung erleichtern, führten dazu, dass die Zahl der Homeschooler seit den 1990er Jahren beträchtlich angestiegen ist. Die erwähnte Zahl von 6000 Kindern, die derzeit häuslichen Unterricht genießen, hat sich in den letzten Jahren kaum verändert.
Nicht ganz von ungefähr scheint dieser Anstieg auch mit einigen sozialen Phänomenen einherzugehen, etwa mit dem gewachsenen Selbstbewusstsein von ehemaligen Randgruppen oder ethnischen Minderheiten. Zudem artikuliert sich dadurch eine durch Fakten belegbare Kritik am teilweisen Versagen staatlicher Bildungseinrichtungen. Die Zeit war reif und für Neuseeland der Moment gekommen, mit viel Enthusiasmus und Wagemut die praktische Umsetzung des Homeschoolings zu verbreiten.
Wer sich näher mit diesem Unterfangen beschäftigt, wird erkennen, dass Homeschooling ein enormes Maß an persönlichem Einsatz und unter Umständen auch Schübe tiefsten Selbstzweifels mit sich bringen kann. Zwar belegt eine überwältigende Fülle von Studien den Erfolg dieses Bildungswegs, doch gibt es nach wie vor auch Bildungspolitiker und Experten, die vor den Gefahren einer derartigen Entscheidung warnen und versuchen, Homeschooling unattraktiv erscheinen zu lassen. Allerdings wirkt eine kulturelle Eigenart der Einwohner der Inselnation unterstützend: Solange der Mitmensch eine freudige Aufbruchsstimmung verströmt, werden alle seine Unternehmungen mit einem »Good on ya, mate!« – etwa »Super!« – gutgeheißen, und keiner käme auf die Idee, mit einem miesepetrigen »Das wird nie etwas!« einen Stock zwischen die Speichen des Rads der Nachbarin oder des Nachbarn zu schieben. Selbst bei einem Scheitern wird die Grandiosität des Versuchs bewundert und nicht mit Häme belegt.

Engagierte Kinder
In direkten Kontakt mit Familien, die sich für Homeschooling entschieden hatten, kam ich während meiner Umschulung zum Lehrer für Naturwissenschaften. Schulen konnten damals Vorträge zu bestimmten Themen von einem »Wissenschaftler zum Anfassen« buchen, was meistens in eine exzellent vorbereitete, multimedial präsentierte Vorlesung im Klassenraum mündete. Von dieser Möglichkeit machten auch Homeschooling-Gruppen Gebrauch, und als ich im Rahmen eines Praktikums eine solche Vorlesung hielt,lernte ich viele freilernende Kinder kennen. Geprägt durch die neuseeländische Kultur, hatte ich nichts Anrüchiges bei den Familien, die ihre Kinder zu Hause lernen lassen, vermutet. Aber selbst wenn ich voreingenommen gewesen wäre, hätte mich die Begegnung mit den Homeschooling-Kindern unweigerlich eines Besseren belehrt: Ich hatte hier äußerst aufgeschlossene, interessierte und sehr angenehme Persönlichkeiten vor mir. Auffallend war, dass viele von ihnen regelrechte »Macher« und »Macherinnen« waren. Sie hatten bereits viele Dinge unternommen, die in keinem Lehrplan standen, aber ihren Neigungen entsprachen und schon auf einen künftigen Beruf hinzielten. Dem konnte ich nur Achtung zollen. Mag es durchaus auch andere Erfahrungen geben – ich hatte jedoch immer den Eindruck, es handle sich beim Homeschooling um eine gut funktionierende Alternative, um ­Kindern eine allseitige Bildung zu vermitteln und sie zu motivieren, ihr ­Lernen und Leben selbstverantwortlich in die Hand zu nehmen.
So wie sich derzeit in vielen gesellschaftlichen Bereichen bisher als festgefügt geglaubte »Kontinentalplatten« mit unabsehbaren Auswirkungen zu verschieben begonnen haben, halte ich es auch im deutschen Bildungswesen für möglich, dass eines ­Tages das staatliche Bildungsmonopol aufbricht, sich eine stärkere ­Liberalisierung der Bildungsvermittlung einstellt oder dass das bisherige Schulsystem zur Gänze durch ein zeitgemäßes, demokratisches Modell individueller und kollektiver Bildung ersetzt wird. Allen, die dabei die beachtliche Bürde auf sich nehmen wollen, für eine verantwortungsvolle Form des Homeschoolings einzutreten und diese dann auch persönlich umzusetzen, möchte ich im Sinn meiner neuseeländischen Erfahrungen zurufen: »Go for it, give it a try!« – »Mach los, trau dich!«•


Ekkehard Unger (51) sattelte vor zehn Jahren vom Chemiker zum ­Lehrer um und unterrichtet in Neuseeland sowie in Sachsen. Wäre das Fliegen nicht so umweltschädlich, würde er am liebsten mit seiner Familie auf Dauer zwischen diesen zwei geografischen Fixpunkten pendeln.

Mehr über selbstbestimmte Bildung in Neuseeland erfahren?
www.minedu.govt.nz
www.correspondence.school.nz
www.home.school.nz

weitere Artikel aus Ausgabe #29

Photo
Gesundheitvon Wolfram Nolte

Alle haben ein Recht auf Genuss!

Herr Richter, Sie sind offenbar ein Genießer und zeigen das auch gerne – oder was soll der vier Meter hohe Schöpflöffel vor Ihrem Haus aussagen?Die große Kelle am Eingang symbolisiert für mich die Fülle und das Austeilen. Ich habe immer schon gerne gekocht.

Photo
von Astrid Emmert

Ackergifte? Nein danke! (Buchbesprechung)

Ute Scheubs Buch zur gleichnamigen Kampagne »Ackergifte? Nein Danke!« (siehe Oya 26) liest sich wie ein Krimi: Es gibt ein schier unglaubliches Verbrechen, es gibt Täter, unzählige Opfer – aber niemanden, der von Amts wegen um die Aufklärung des Falls bemüht

Photo
von Maja Klement

Kleine Gefühlskunde für ­Eltern (Buchbesprechung)

»Eltern-Kind-Beziehungen sind in erster Linie Liebesbeziehungen«, zitiert Vivian Dittmar den bekannten Familientherapeuten Jesper Juul am Anfang ihres Buchs »Kleine Gefühlskunde für Eltern«. Wie jede Liebesbeziehung rufe auch diese Gefühle von

Ausgabe #29
Satt und glücklich

Cover OYA-Ausgabe 29
Neuigkeiten aus der Redaktion