Bildung

Wie entfaltet sich eine heile Kultur?

Oya-Redakteurin Anke Caspar-Jürgens und die Autorin ­Julia ­Dibbern sprachen mit Helena Norberg-Hodge über die ­Bedeutung des Austauschs mit traditionellen Kulturen.von Anke Caspar-Jürgens, Helena Norberg-Hodge, Julia Dibbern, erschienen in Ausgabe #29/2014
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© Thomas Victior

Julia Dibbern Die große Degrowth-Konferenz in Leipzig macht unser Zusammentreffen möglich. Wie schön, dass uns die Initiative »Zeitwohlstand« eine Ecke in ihrem Mini-Café zur Verfügung stellt.

Anke Caspar-Jürgens Helena, du hast durch sprachwissenschaftliche Forschungen herausgefunden, wie sehr die Art des Wirtschaftens sich auf das persönliche, soziale und ökologische Wohlbefinden auswirkt. Dafür wurde dir unter anderem der Alternative Nobelpreis verliehen. Vorhin habe ich dich auf dem Podium erlebt, wo du nach der Vorführung des Films »Schooling the World« darüber gesprochen hast, wie Kinder in Ladakh ursprünglich eingebunden in dörfliche Gemeinschaften gelernt haben. Du hast leidenschaftlich Einwürfe abgelehnt, dass ein solches Lernen in Europa nicht funktionieren könne. Wie bist du darauf gekommen, dich für Sprachen und Bildung zu interessieren und dich für die traditionelle Kultur in Ladakh zu engagieren?

Helena Norberg-Hodge Das begann 1975, als ich an die 30 Jahre alt war und zum ersten Mal Zeit in Ladakh, dem »KleinTibet« im Norden Indiens, verbrachte habe. Andere Sprachen und andere Länder haben mich schon immer fasziniert, aber vor meinem Besuch in Ladakh wusste ich so gut wie nichts von traditionellen Kulturen.

JD Was hat dich dazu bewegt, soviel Zeit deines Lebens in Ladakh zu verbringen?

HNH  Hermann Schlenker, ein Dokumentarfilmer, hatte gehört, dass man Ladakh, das bis dahin aus politischen Gründen geschlossen war, wieder besuchen dürfe. Er bat mich, ihn als Sprachforscherin bei seinen Recherchen zu unterstützen. Ich rechnete damit, sechs Wochen zu bleiben, aber daraus wurde weitaus mehr Zeit, denn das Land hatte mich unwiderstehlich in seinen Bann gezogen. Nie zuvor hatte ich solche Menschen erlebt. Ihre Ausstrahlung sprühte vor »Joi de vivre« – wie sagt man dazu auf Deutsch? – vor Lebensfreude, vor lauter Glück und Heiterkeit. Zugleich erlebte ich die Menschen voller Würde. Schnell erlernte ich ihre Sprache und verliebte mich dadurch noch mehr in die Leute aus Ladakh – und in diese Landschaft! So großzügig und wunderschön. Es gab ­damals nur eine altertümliche Schriftsprache, weshalb ich ihre lebendige Sprache verschriftlicht habe.
Die Ladakhi leben in einer der höchstgelegenen und trockensten bewohnten Regionen der Welt. Durch die Grenzöffnung und die hereinbrechenden Veränderungen mit enormem Wachstum und Fortschritt war ihre alte Kultur nun bedroht. Das interessierte mich bald so sehr, dass ich blieb und mich zu engagieren begann.
Unter den kargen Lebensbedingungen in diesem Bergland hatten die Menschen eine tiefe Beziehung zur Natur entwickelt. Ihre animistischen Traditionen hatten sich mit dem buddhistischen Glauben, dem ja auch die Idee der Verbundenheit von allem innewohnt, verwoben. Jeder und jede sah jedes Jahr Leben kommen und erlebte auch das Sterben. Solche Nähe schafft ein ganz anderes Dasein als das in der westlich geprägten Kultur. Außer in Ladakh habe ich nirgendwo Menschen so in sich selbst beheimatet erlebt.

JD Die Veränderungen nach der Öffnung des Landes scheinen dramatisch gewesen zu sein. Woran war dir das aufgefallen – wie fing das alles an?

HNH Zu Beginn waren es vor allem die Kinder und Jugendlichen, die sagten: »Ach, wir sind nicht schön genug.« Die Menschen in Ladakh empfanden sich als sehr rückständig und ungebildet. Diese Selbsteinschätzung kam aus dem neuen System und erreichte die Menschen zuerst über die Schule. In ihren Schul­büchern stand: Ihr seid ungebildet, auch eure Landwirtschaft. Ihr solltet in die Stadt ziehen.

JD Oft waren es ja Entwicklungshelfer aus dem Ausland, die Schulen bauten und die Kinder dorthin brachten, oder nicht?

HNH Nein, das ordnete die indische Regierung an, die schon von der englischen Besatzung auf die viktorianische Art geschult worden war – mit Schlägen und Prügel.

ACJ Gab es in Ladakh schon zuvor einen derart brutalen Umgang mit Kindern?

HNH Nein, die Ladakhi haben eine gänzlich andere Art, zu leben! Selbstverständlich sagen sie manchmal zu einem Kind: »Nein, tu das nicht!« Doch habe ich höchst selten ein kleines Kind weinen sehen. Interessanterweise sind Streit und Wut in dieser Gesellschaft nicht gut angesehen. Auch da werden den Kindern deutliche Grenzen gesetzt. Das Wesentliche ist aber, dass das Kind spürt: Der Ältere tut dies aus seinem inneren Gleichgewicht heraus, also nicht wegen eines Ärgers oder einer Kränkung. Zum Beispiel umarmt eine Mutter ihr Kind und sagt zugleich: »Nein, das machst du nicht!« Das ist kein Widerspruch.

JD Ich kann mir das aus der Entfernung nicht so recht vorstellen. Heißt es vielleicht: Weil ich dich liebe, zeige ich dir diese Grenze?

HNH Der Unterschied zwischen »Grenzen setzen« und »einem Kind die Freiheit nehmen« ist sehr fein.

ACJ Aus dem Film »Schooling The World« habe ich mitgenommen, dass der ursprüngliche Umgang mit Kindern in Ladakh aus einer heilen Kultur herausgewachsen ist. Die jungen Menschen wurden nicht in diese Kultur hineingepresst, sondern wuchsen organisch dort hinein. Hierzulande gibt es die Tendenz, den Kindern entweder sehr scharfe oder möglichst keine Grenzen zu setzen. Mich beschäftigt die Frage: Wie kann sich bei uns eine heile Kultur entwickeln?

HNH Was meinst du mit »heiler Kultur«?

ACJ Ein Aufgehobensein in einer sinnvollen Lebenspraxis – dass Menschen in sich selbst ruhen, ganz egal, worum es gerade geht; dass sie immer aufrecht und gelassen bleiben können …

JD … und dass Erwachsene sich eben nicht persönlich angegriffen fühlen, wenn sich ein Kind aus ihrer Sicht »ungünstig« verhält. Ich stelle mir vor, dass Erwachsene in einer gesunden Kultur entspannt zu einem Kind sagen können: »Pass auf, hier geht es nicht lang« – ganz selbstverständlich, ohne dass das Kind erniedrigt oder seinerseits persönlich angegriffen wird.

ACJ Solch eine Qualität brauchen wir – jetzt und für die kommenden schwierigen Zeiten. Was fehlt uns, um sie auszubilden?

HNH Nach den 40 Jahren, in denen ich sehr viele traditionelle Kulturen kennengelernt habe, sehe ich, dass es die tiefen Beziehungen zu anderen sind, die bei uns im Westen fehlen. Hier fehlt, was ich als echte Gemeinschaft beschreiben würde – also ein tiefes Beziehungsgeflecht zwischen Menschen, die gemeinsam für ihr Leben sorgen.
In Ladakh ist ein Kind weder dauerhaft in einer Kernfamilie, noch wechselt es ständig zu einer Fremdbetreuung. Typischerweise hat dort jede Mutter die Hilfe von zwei Handvoll Menschen um sich, die mit auf das Kind aufpassen. So ist es immer geborgen, und die Mutter ist entspannt.

JD Wie schön! Vor allem, wenn es eine gewachsene Gemeinschaft ist. Davon können die meisten Eltern hier nur träumen. Wie ist es mit den Männern? Sind die dabei?

HNH Ja, das schließt schon den fünfjährigen Bruder ein. Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass die jungen Männer schon von klein auf lernen, auf jüngere Kinder und junge Tiere aufzupassen. Sie entwickeln so eine liebevolle Art von Verantwortung und lernen fortwährend dazu.

ACJ Auch in Deutschland gibt es Orte, wo sich ein solcher berührender, fürsorglicher Umgang erleben lässt. So hat mich vor kurzem auf dem Festival der Freilerner das Miteinander der Menschen, gerade auch der Jungs, sehr beeindruckt. Vielfalt in Freiwilligkeit scheint das Rezept zu sein.

HNH Dann kannst du dir bestimmt vorstellen, was es bedeutet, zusehen zu müssen, wie sich mit der Modernisierung die Lebenskultur in Ladakh verändert! Plötzlich kommen andere Leitmotive. Überall in Asien tauchten in den 1980er-Jahren die gleichen Vorbilder für die Kinder auf: Rambofiguren für Knaben und Barbie-Puppen für Mädchen. Diese Leitbilder dringen tief in die Kinder ein.

ACJ Wie vollzieht sich dieser dramatische Wechsel?

HNH Das ist sehr komplex. Es kommen beispielsweise Touristen aus dem Westen, die zusammen pro Tag etwa eine Million Euro ausgeben. Sie sehen aus, als würden sie nie wirklich arbeiten. Die Ladakhi bekamen ein unrealistisches Bild vom Westen und haben dadurch auch ein ganz unwahres Bild von sich selbst geschaffen. Sie glauben nicht, dass die Menschen im Westen härter arbeiten müssen als in Ladakh. Deshalb habe ich mit viel Aufwand zwischen den beiden Kulturen vermittelt. Während der Erntezeit, dem Höhepunkt der Arbeitssaison, saßen die Ladakhis früher im Feld, umringt von ihrer Gemeinschaft – es wurde getrunken und Picknick gemacht. Auch später am Abend haben die meisten zwar noch gearbeitet, aber entspannt und mit Freude und Gesang. Zur Erntezeit gab es viele Feste. Alle blieben stressfrei und hatten Ruhe und Zeit.

JD Es gibt Programme, die gezielt Frauen aus sogenannten Entwicklungsländern in den Westen bringen, damit sie sehen, wie es hier wirklich ist. Sie kehren jeweils nach Hause zurück und sagen: »Um Himmels willen, so etwas wollen wir niemals!«

HNH Ja, ein solches Programm habe ich mit aufgebaut. Auch ein Film ist daraus entstanden. Sonst wird kaum etwas für die Aufklärung getan. Die westliche mentale Verschmutzung – die fixe Idee von einem sorglosen Leben in der urbanisierten Moderne – gelangt bis in die entferntesten Dörfer der Welt. Überall wird geglaubt, dass es rückständig sei, mit der Natur und auf dem Land zu leben. Die Menschen im Süden denken, sie müssten viel Geld sammeln und ihre Kinder auf die Schule schicken, damit sie später in der Stadt arbeiten können.
Es ist wichtig, ihnen zu erklären, dass die Menschen im Norden wie im Süden Probleme haben und wir dafür konstruktive Lösungen suchen müssen. Wir Westler können vermitteln, dass die Art zu leben, wie sie in Ladakh und anderswo in den Dörfern praktiziert wird, sehr dem ähnelt, wonach wir suchen und uns sehnen: nach dichtem Kontakt untereinander und mit der Natur.

ACJ In der Diskussion auf dem Podium hast du, Helena, vorhin betont, dass Informationen, die für die Entwicklung einer Postwachstums- oder Post-Kollaps-Gesellschaft wichtig wären, nicht verbreitet oder geradezu unterdrückt werden. Das beträfe Berichte über alte Kulturen wie Ladakh ebenso wie die Aufklärung über Organisationen wie »La Via Campesina« (siehe Seite 14), die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern vertreten.

JD Mich beunruhigt auch, dass überall die Möglichkeit vorangetrieben wird, Kindern über das Internet attraktiven Zugang zu den westlichen Werten und Lebensweisen zu vermitteln. Die Wissensvermittlung zwischen Kulturen ließe sich doch gerade da auch wunderbar wechselseitig gestalten, so dass alle von allen lernen könnten.

ACJ Wie aber könnte ein Bewusstsein dafür wachsen, dass andere Kulturen etwas Wertvolles vermitteln können? Worauf kommt es da an?

HNH Das verlangt viel Verständnis. Organisationen wie die von mir gegründete »International Society for Ecology and Culture« (ISEC) sind Außenseiter. Wir sind eine vergleichsweise kleine Organisation, doch wir sind in ein weltweites Netzwerk eingebunden, das zwar mit wenig Geld, aber außerordentlichem Engagement arbeitet. Im Film »Die Ökonomie des Glücks«, den die ISEC herausgegeben hat, zeigen wir diese Problematik und versuchen, aufzuklären.

ACJ Mir scheint, dass neben anderem die Autorität »Schule« auch bei uns verhindert, dass sich diese westliche Kultur positiv weiter­entwickeln kann. Die Menschen kleben am Bestehenden und haben Angst vor Veränderung.

HNH Die Gesellschaft, in der wir heute leben, nenne ich nicht »westliche Kultur«. Es ist keine Kultur, sondern vielmehr ein System von globalisierter Wirtschaft, das uns eine Konsum-Monokultur aufzwingt – hier in Deutschland ebenso wie in Amerika, Indien oder Ladakh. Wenn wir das verstehen, können wir auch erklären, dass wir alle unter derselben zentralisierten, kommerzia­lisierten Konsumwelt leiden. Nein, das ist keine Kultur, sondern ein System – und es ist übel, übel!

JD Das hört sich ein bisschen nach Verschwörungstheorie an.

HNH Nein, hier wirken Strukturen. Menschen, die sie der Welt aufzwingen, glauben, dass sie etwas Gutes tun. Deshalb sollten wir nicht über Schuld, sondern über diese Strukturen und ihre Folgen sprechen. In Ladakh gab es vor 1970 zum Beispiel nie Magersucht und so gut wie nie Selbstmord – heute wohl. Überall auf der Welt breiten sich mit diesem System üble Folgen aus. Konventionelle Schulen sind dabei ein sehr wirksames Werkzeug!

ACJ Diese Schulen sind für den grund­legenden Strukturwandel, der die Globalisierung in alle Länder gebracht hat, Ursache und Wirkung zugleich. So ist es auch mit der Urbanisierung, sie ist sowohl Ursache als auch Wirkung.

HNH Selbst in den entferntesten Tälern, ob in Afrika oder in der Mongolei, wird durch alle Medien verbreitet, dass das Landleben oder die Großfamilie primitiv und rückständig seien. In der Stadt hingegen gäbe es Individualismus, Demokratie und Ausbildung. Solche Worte führen zur Zerstörung ländlicher Gemeinschaften. Konsum macht Menschen abhängig, und das führt zu Angst und Intoleranz, die kulturelle Unterschiedlichkeit nicht zulässt.
Bei den Ladakhi habe ich erlebt, wie Menschen wirklich in Freiheit ­leben – unabhängig vom globalen Geld- und Wirtschaftssystem hatten sie selbst die Kontrolle über das Häuserbauen, über ihr Essen, ihren Handel und erhielten sich ihre Beziehungen nach menschlichem Maß. Sie wählten zum Beispiel ihren Bürgermeister, weil die Leute im Dorf es so wollten. Sie sahen, dass er tat, was erledigt werden muss, und wenn er das nicht gemacht hat, haben sie jemand anderen gewählt.

ACJ  Der Bürgermeister war also innerhalb eines dezentralisierten Wirtschaftssystems Teil dieser Gemeinschaft. So etwas können wir uns mit unserem globalisierten Wirtschafts- und Geldsystem und mit multinationalen Unternehmen, die alles kon­trollieren, kaum noch vorstellen.

HNH Heute wissen auch die Ladakhi nicht, ob morgen das Stück Brot doppelt so viel kosten wird. So werden die Menschen aus strukturellen Gründen gierig.

ACJ Aber der Mensch ist nicht von Natur aus gierig. Alle sind nur von diesem Geld abhängig, das uns das System vorsetzt. Daher kommt es auch, dass Kultur­unterschiede plötzlich zur Bedrohung werden. Wie also lässt sich Ladakh retten, und wie retten wir uns?

HNH Über das Verstehen, über Verständnis! Und über echte Bildung. Es macht mich hoffnungsfroh, dass sich vor allem in den westlichen Städten ein leidenschaftliches Bedürfnis nach Natur und Gemeinschaft entwickelt, nach echten zwischenmenschlichen Beziehungen, wo Nachbarinnen und Nachbarn wirklich füreinander da sind, wenn sie etwas brauchen. Auch in Ladakh wachen die Leute auf und bauen Initiativen für den Erhalt der Dorfkultur auf. Darüber zu berichten, ist viel hoffnungsvoller als das, was die Medien vermitteln – dass fortwährendes Wirtschafswachstum eine Art unvermeidliche Evolution sei.

ACJ Und das stimmt eben gerade nicht; endloses Wachstum widerspricht der Natur! Ich glaube, die Menschen sind bereits so stark auf diese Wachstumslogik programmiert – auch durch die konventionelle Schulbildung –, dass es sehr schwierig ist, sich davon zu befreien. Mir scheint die Vernetzung andersdenkender Akteure sehr wichtig. Geschieht das auch in Ladakh, und spielt das Internet dabei eine Rolle?

HNH Ja, aber die Initiativen haben nach einiger Zeit beschlossen, sich vor allem lokal zu treffen. Sich im lebendigen Gespräch miteinander abzustimmen, ist das Wichtigste. Gegenwärtig brauchen wir das Internet, aber wir sollten verhindern, dass es zur Bürokratisierung des Lebens führt. Viel wichtiger sind Gruppen, die sich in der Wirklichkeit begegnen, die sich einladen. Das ist ein neues Paradigma – es hat mit der mündlichen Tradition der alten naturbasierten Kulturen zu tun. Wenn echte Beziehungen entstehen, können Ängste heilen. Deshalb unterstütze ich Lokalisierung. Über lokale Märkte, wo Bauern und Stadtbewohner sich treffen, wird zugleich Gemeinschaft, die Sortenvielfalt und ein sorgsamer Umgang mit dem Boden gefördert.

ACJ Eine Kultur der Begegnung und Einladung wäre etwas fundamental anderes als die heutige Wirklichkeit im Westen. Oft heißt es, wenn wir nicht mehr Auto führen, keine fossilen Ressourcen verwendeten und nur im Bioladen einkauften, würde alles gut. Aber wäre das der Kern der Lösung?

HNH Nein, mit Rezepten und Schuldgefühlen ändern wir gar nichts. Dann stecken wir im falschen Film fest. Wir müssen uns die großen Zusammenhänge bewusstmachen. Das befreit erstens von Schuldgefühlen und führt zweitens dazu, konkrete Schritte in eine andere Richtung zu gehen. Die Leitschnur für diese Richtung ist die Beziehung zwischen Mensch und Natur. Ich bin hoffnungsvoll, weil viele Menschen in diese Richtung gehen, aber ich sehe auch, dass die globalisierte Wirtschaft weiter wachsen wird, bis der letzte Baum abgeholzt ist. Das macht mir Angst – und das muss dringend geändert werden.

ACJ Ja, lasst uns weiter daran arbeiten. Das Bild einer Kultur, in der Gemeinschaften von dem Land ihrer Regionen leben und Kinder in einem achtsamen, selbstverständlichen Umgang zwischen Jung und Alt aufwachsen, kann die Hoffnung stärken. Helena, vielen Dank, dass du verdeutlicht hast, worauf es in einer gesunden Kultur ankommt. Damit hilfst du, dass sie entsteht. Habt Dank für das schöne Gespräch. •

 

 

Julia Dibbern (43) ist Autorin der Bücher »Geborgene Babys« und »Verwöhn dein Baby nach Herzenslust«. Als Verlegerin baute sie den Anahita-Verlag auf, deren Bücher inzwischen beim Tologo-Verlag erhältlich sind. Sie ist Mitgründerin des »artgerecht-Projekts«, das sich für ein Aufwachsen von Kindern in sicherer Bindung einsetzt. Sie lebt mit Mann, freiwillig beschultem Kind, unbeschultem Hund und vier völlig unerzogenen Kaninchen vor den Toren Hamburgs.
www.juliadibbern.de

www.artgerecht-projekt.de

Helena Norberg-Hodge (68) stammt aus Schweden; sie ist Sprachwissenschaft­lerin und eine langjährige Pionierin in den Bereichen freie Bildung, Ökodörfer und Ernährungssouveränität. Sie ist Produzentin des Dokumentarfilms »Die Ökonomie des Glücks« und Direktorin der »International Society for Ecology and Culture«. Ihr Buch »Ancient Futures« wurde weltweit bekannt. Für ihre Arbeit in Ladakh erhielt sie den »Right Livelihood Award«, der auch als »Alternativer Nobelpreis« bekannt ist.
www.localfutures.org

 

Die Gedanken des Gesprächs vertiefen
Literatur:
Helen Norberg-Hodge: Ancient Futures – Learning from ­Ladakh. Rider, 2000, und www.vimeo.com/63325892 (gleichnamiger Dokumentarfilm von 1993)

Internet:
www.theeconomicsofhappiness.org
www.schoolingtheworld.org

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