Wo immer man über Roma schreibt, scheint man Gefahr zu laufen, sich an Vorurteilen die Finger zu verbrennen. Norbert Mappes-Niediek wagt es trotzdem und tritt ohne Scheu direkt in das Minenfeld an Klischees und Feindbildern – in der Absicht, sie gründlich unter die Lupe zu nehmen und der Reihe nach zu entschärfen. Er setzt direkt an der allgemeinen Vorstellungswelt an und fragt: Was ist dran an der Annahme, der Lebensstil der Roma am Rand der Gesellschaft sei kulturell veranlagt? Werden sie tatsächlich überdurchschnittlich oft straffällig? Warum ist ihr Ruf so schlecht? Unter den Begriff »Roma« fallen mehrere ethnisch verwandte Volksgruppen, die ursprünglich aus Indien stammen. Sie leben seit vielen Jahrhunderten verstreut in Europa. Eine einheitliche »Roma-Kultur«, so der langjährige Balkan-Korrespondent Mappes-Niediek, gibt es ebensowenig wie ein supranationales Zusammengehörigkeitsgefühl. Wir unterstellen diesen Menschen – und hier sitzt bereits eine der vielen falschen Vorstellungen – eine definierte Identität, die es so nicht gibt. Ziel des Autors ist es daher nicht, ein ethnologisches Profil zu erstellen, das so ohnehin nicht existiert. Vielmehr geht es ihm darum, Fremdbilder zu hinterfragen. »Was uns ›Roma-typisch‹ vorkommt«, schlussfolgert er, »ist oft einfach ›Balkan-typisch‹«. Auf dem Balkan leben heute die meisten Roma. Hier konzentrieren sich auch viele Recherchen des Autors, die uns beispielsweise in Großstadtghettos oder die Slums am Rand einer Müllkippe führen. Zu wünschen bliebe hier eine sauberere Begriffsarbeit und eine klarere Abgrenzung zu deutschen Sinti, französischen Manouches oder spanischen Kalés. Ein Vorurteil, das laut Mappes-Niediek stimmt: »Die Roma sind meistens arm« – dies allerdings »aus demselben Grund, aus dem auch viele Nicht-Roma in Ost- und Südosteuropa arm sind: Es fehlt an bezahlter Arbeit.« Wer also den Grund in ihrer angeblichen Andersartigkeit oder in der Diskriminierung suche, liege falsch. Dass sie offenbar trotzdem weniger Chancen haben als Nicht-Roma, liegt dem Autor zufolge unter anderem im Übergang vom Kommunismus zum Kapitalismus begründet: »Für die Roma kam die ›samtene Revolution‹ mit der Scheuerbürste. Sie hatten die schlechtesten Jobs und die schwächste Stellung bei den Betriebsführungen. Als die Wirtschaft sich zu erholen begann, tat sie es ohne die Roma.« Mappes-Niediek wagt nicht zuletzt die heikle Frage: »Warum kommen sie aus dem Elend nicht heraus?« Er überzeugt durch gut begründete Antworten, die – entgegen dem ersten Eindruck – nicht so plakativ wie Titel, Überschriften und all die zugespitzten Klischees sind, sondern vielschichtig. Zwar fehlt es etwas an Systematik, dafür punktet das Buch mit reportagehaft-anschaulichem Stil. Exkurse führen in die Zeit der rumänischen Sklaverei oder der Verfolgung zur NS-Zeit. Auch die EU-Politik und die von ihr betriebene »Förderungs- und Entwicklungsmaschine« kritisiert der Autor stark, und er zeigt einleuchtend, warum Minderheitenprojekte oft scheitern. Zugleich will er viele Stereotype als Populismus enttarnen und schreibt: »Die Wurzel des Übels liegt nicht nur nicht bei den Roma. Sie liegt vielmehr in der Mehrheitsgesellschaft selbst.« Er plädiert dafür, statt gezielter Roma-Projekte in die Sanierung der Gesamtgesellschaft und ihrer Baustellen wie Arbeitslosigkeit, Armut und Bildungsmisere zu investieren. Der Journalist tritt als Beobachter nah an die Roma heran, wahrt aber emotionale Distanz. Zahlreiche Quellenangaben unterstützen seine Glaubwürdigkeit. Dem aufmerksamen Leser stellt sich allerdings eine Frage: Die Roma ständig in einem Atemzug mit ihrer sozioökonomischen Situation zu nennen – sie sind »arm«, wohnen in »Elendsvierteln«, sind »schlecht ausgebildet« –, macht es schwierig, sie davon losgelöst zu betrachten. Das führt ein grundsätzliches Dilemma vor Augen. Wenn man davon ausgeht, dass unser Bewusstsein stark von Begrifflichkeiten geformt wird, die wir benutzen, so regt das Buch an, über die Frage nachzudenken: Wie kann es gelingen, so über die Roma zu schreiben, dass wir sie nicht in die tradierten Vorstellungswelten hineinzwingen, von denen losgelöst wir sie eigentlich betrachten wollen? Das ist nur möglich, wenn man eine präzise historische Genealogie eben jener Fremdbilder nachzeichnet. Hier ist das Buch leider lückenhaft. Dennoch darf es als gelungener Versuch betrachtet werden, viele Vorurteile überzeugend zu zerstreuen. So bleibt es all jenen zu empfehlen, die – abseits stumpfer Klischees einerseits und romantisierender Beschreibungen andererseits – ihr Bild über ihre europäischen Nachbarn revidieren wollen.
Arme Roma, böse Zigeuner Was an den Vorurteilen über die Zuwanderer stimmt. Norbert Mappes-Niediek Christoph Links Verlag, 2012 208 Seiten ISBN 978-3861537533 16,90 Euro