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Im Bann der sinnlichen Natur (Buchbesprechung)

von Caroline Claudius, erschienen in Ausgabe #18/2013
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Wir umgeben uns mit Totgeborenem, Symptom des wildgewordenen Kapitalismus. Das Nicht-Lebendige stößt besonders bitter auf, wenn unter dem zynischen Deckmantel des Organischen infertile Konsumprodukte unsere verdrängte Sehnsucht nach wirklich Nährendem befriedigen sollen: sterile Hybridpflanzen, kernlos gezüchtete Trauben, von unterbezahlten Menschen gepflückte Schnittblumen mit dem ökologischen Fußabdruck eines Tanklasters. Meist jedoch leiden wir unbewusst an der uns im Zaum haltenden Abtrennung von der Natur. Wollen wir Kapitalismus und ökologischem Kollaps noch entkommen, müssen wir eine Sensibilität für das Lebendige und unsere Verwobenheit mit ihm zurückgewinnen.
In dem 1995 auf Englisch erschienenen, nun von Matthias Fersterer und Jochen Schilk hervorragend übersetzten Buch »Im Bann der sinnlichen Natur« zeigt der Philosoph und Kulturökologe David Abram klar und nachmachbar, wie wir durch eine Versinnlichung unserer Wahrnehmung das Lebendige wieder in unser tägliches Da-Sein, unsere Sprache, unseren Körper, unser Gefühl für Raum und Zeit einlassen. Gleichzeitig ist Abrams Einladung in die »mehr-als-menschliche-Welt« eine leidenschaftliche Absage an zivilisatorische Trägheit und Ignoranz des Moments als Quelle allen Werdens.
Abram analysiert unser aller Entfremdungsprozesse philosophisch wie anthropologisch. Der größere Teil des Buchs aber ist ein Wegweiser zum Berühren und Berührtwerden von der Natur. Abram beschreibt diesen Weg autobiografisch anhand seiner verrück­enden Reisen zu indigenen Schamanen und anhand des Versuchs, die eigene Abstumpfung bei der Rückkehr in die Stadt und ins Schreiben anzufechten. Zentral ist dabei das Zulassen des Magischen als Schlüssel zu einer Ökologie des Empfindens. Abrams Entwurf des nicht Über-, sondern Mitten-im-Sinnlichen-Lebenden weckt eine in den Zehen kribbelnde Lust, sofort auf die Suche nach dem Zauber der »mehr-als-menschlichen Welt« zu gehen. Als intellektuelle Unterfütterung der dabei machbaren Erfahrungen bietet Abram eine wunderbare Einführung in das Werk des französischen Denkers Maurice Merleau-Ponty. Dessen »Phänomenologie der Wahrnehmung« verankert das eigene Sichtbarwerden durch ein neues Sehen der Welt analytisch, aber nie abgehoben.
In seinem Vorwort beschreibt Andreas Weber unsere Entfremdung von der Natur mit dem Fehlen des richtigen Ansatzes beim Versuch ihrer Erschließung, wenn er sagt, dass wir sie »nach den Gesetzen der toten Materie verstehen wollen«. Abram eröffnet uns stattdessen eine Wahrnehmungsweise, die unser ganzes sinnliches Sein zur Membran einer neuen, elementaren Erfahrung des Lebendigen, von uns selbst und unserer Beziehung zu allem Belebtem macht.


Im Bann der sinnlichen Natur
Die Kunst der Wahrnehmung und die mehr-als-menschliche Welt.
David Abram
thinkOya, 2012, 320 Seiten
ISBN 978-3927369450
29,80 Euro

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