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Minima Animalia (Buchbesprechung)

von Juliane Rudloff, erschienen in Ausgabe #17/2012
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Es gibt nicht viele Wissenschaftler, die denken und schreiben wie Dichter. Letztere schreiben meist über das, was sie fühlen, erstere über das, was sie sehen. Wenn beides zusammenkommt und sich mit Gesellschaftskritik verbindet, entsteht, was wir derzeit dringend brauchen: »Kleine Beiträge zur Lebendigkeit«. Andreas Webers Buch »Minima Animalia. Ein Stundenbuch der Natur« entwickelt in 99 poetischen Prosaskizzen, was diese Lebendigkeit ist: Freude an schöpferischer Neuheit, Wertschätzung der Schönheit, Sich-Erkennen im Anderen.
Dem Aufbau eines Dramas folgend, spürt der Philosoph und Biologe Weber dem Verlauf eines natürlichen Jahrs nach, indem er seinen Begegnungen mit Schneeglöckchen, Rotkehlchen, Flechten und Blättern in einer »Poesie der Teilhabe« Ausdruck verleiht. Bereits im Vorspiel des Stücks holt der Autor den ausgeworfenen Anker des Denkens zurück in den Körper der Leserin: die kleinste biologische Einheit, die Zelle, hat nur ein Ziel: mehr von sich selbst zu erschaffen. Diesen Lebensdrang versucht Weber in seinen Naturbeschreibungen und -begegnungen zu fassen, indem er den Bewegungen der Schönheit des Lebendigen Aufmerksamkeit schenkt. Doch seine Prosa ist kein romantisches Schwelgen, sie entführt nicht. Stattdessen führt sie mitten hinein in die wahre Natur der Natur, die reine Lebendigkeit ist. Freude beim Anblick der Vögel, Staunen über die Vielfalt der Farben und Formen, Glück in der Tiefe der Augen der Tiere – wir brauchen das, um uns selbst in unserer Unendlichkeit zu erkennen. Schließlich ist es gerade der Irrglaube, wir wären endlich, der uns in die Angst vor dem Tod treibt – und damit in eine Gefräßigkeit, die uns alle sogenannten Ressourcen aufzehren lässt.
Dies ist nur einer der Denkfehler unserer Zivilisation, die Weber hier enthüllt. Er unterzieht lebensfeindliche Wissenschafts- und Kulturpositionen einer Kritik, aus der seine Trauer über den Verlust von Schönheit spricht. Sein Stück endet in der Katastrophe, die gleichzeitig Auflösung ist: Das Versprechen des Lebens, dass nach jedem Sterben ein neues Wachstum beginnt. Webers Ausweg ist, der Poesie eine eigene Realitätsmacht zuzugestehen: erst, wenn wir alles Leben als gestaltgewordenes Gefühl begreifen, werden Klimagipfel zu Resultaten führen.
Man wird dieses Buch öfter in die Hand nehmen wollen. Um Zeit zu verlangsamen, um eigene und kollektive Denkpositionen zu überprüfen, um zu entscheiden, was wahr ist. Das Gelesene hinterlässt ein Gefühl von Ganzheit und Ordnung, ein Stück mehr Verstehen und – Aufatmen: Eigentlich ist es ja doch ganz einfach!


Minima Animalia
Ein Stundenbuch der Natur.
Andreas Weber
Mit einem Vorwort von Hildegard Kurt.
thinkOya, 2012, 144 Seiten
ISBN 978-3927369689
22,80 Euro

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