Die Aktion »Boats4People« setzt sich für die Rechte von Migrantinnen und Migranten an den südlichen Grenzen der Europäischen Union ein.von Christian Jakob, erschienen in Ausgabe #17/2012
Lange hatten sie debattiert, was sie tun würden, wenn der Kapitän die Küstenwache riefe. Würde er eine Demonstration gegen das europäische Grenzregime, an Bord einer Fähre zwischen Sizilien und Tunesien, mitten im Einsatzgebiet der EU-Grenzschutzagentur Frontex dulden? Es war die erste Aktion dieser Art, als Anfang Juli Aktive des »NoBorder«-Netzwerks auf dem Mittelmeer daran erinnerten, dass im vergangenen Jahr fast 2000 Menschen bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen, ertrunken sind. Am Morgen hatten sie sich mit einer mobilen Lautsprecheranlage, Flugblättern und Transparenten auf Französisch und Arabisch im Hafen von Palermo auf die »Zeus Palace« eingeschifft, zwischen Hunderten Tunesierinnen und Tunesiern, die in Europa leben und den Sommer in ihrer Heimat verbringen wollen. Die Fähren seien »Symbol der Ungleichheit«, sagt Christoph Arndt, der die Aktion mitorganisiert hat: »Europäer können damit reisen, wann sie wollen. Für Menschen aus Afrika ist die Überfahrt keineswegs selbstverständlich.«
Ein Schiff mit Mission Der Plan für eine transnationale Protesttour namens »Boats4People« (B4P) wurde von Migrantenorganisationen aus Italien, Deutschland, Frankreich, Österreich, den Niederlanden, Mali, Libyen und Niger im Frühling 2011 gefasst – in jener Zeit, als Europas Politiker die »Arabellion« zwar bejubelten, die vielen jungen Tunesier und Libyer, die auf der Suche nach Arbeit das Mittelmeer überquerten, aber auf keinen Fall in Europa haben wollten. Viele Afrikaner ertranken in dieser Zeit, andere landeten in italienischen Internierungslagern. »Die EU hatte auf den Arabischen Frühling vor allem eine Antwort: Abschottung«, sagt Arndt. Eilig seien Grenzschutzabkommen mit den neuen Regierungen geschlossen worden. »Auch ein Jahr nach den Aufständen in Nordafrika können die Menschen sich nicht frei bewegen.« Anfangs hatte die Idee für B4P noch anders ausgesehen: 100 000 Euro sammeln, Boote mitsamt Crew chartern und damit der Frontex im zentralen Mittelmeer auf die Pelle rücken. Wie ein antirassistisches Walschützerkommando wollte B4P den Seenotdramen und den Menschenrechtsverletzungen durch die Küstenwachen praktische Solidarität entgegensetzen. Doch trotz eines stetig gewachsenen Trägerkreises waren diese Pläne am Ende nicht realisierbar: zu teuer, zu komplex, zu risikoreich. Zuwege brachte B4P schließlich Folgendes: Ein für drei Wochen gecharterter Motorsegler, die »Oloferne«, fuhr vom italienischen Festland über Sizilien und Tunesien nach Lampedusa. »Für die Medien«, sagt Nicanor Haon aus Frankreich, der die Bootsfahrt koordinierte. »Wir brauchten etwas Symbolisches, um auf uns aufmerksam zu machen.« Parallel dazu waren etwa 80 Menschen auf derselben Route mit Aktionen unterwegs, die an jene von antirassistischen Grenzcamps angelehnt waren. Am Vorabend der »Assamblea« auf der »Zeus Palace« hatten sie an der Hafenpromenade von Palermo eine Gedenkfeier abgehalten. Sie breiteten eine Liste mit den Namen von rund 16 000 Menschen aus, die seit 1993 beim Versuch der illegalen Einreise nach Europa gestorben waren. Beäugt von Zivil- und Bereitschaftspolizisten, wurden die Namen ertrunkener »Boatpeople« verlesen und Kerzen angezündet. Am Hafen von Palermo dauert es derweil Stunden, bis die Zeus Palace ablegt. Auf dem Oberdeck, zwischen dem trockenen Swimmingpool und der Bar, bauen die Mitreisenden von B4P ihre Lautsprecheranlage auf und hängen Ausstellungstafeln an die Reling. Sie verteilen Flugblätter und laden die Passagiere zu einer Versammlung ein. »Europa übt eine wahnsinnige Anziehungskraft auf die jungen Tunesierinnen und Tunesier aus. Sie wollen es entdecken, aber schon der Versuch wird kriminalisiert«, sagt Ben Ammar. Viele applaudieren. Auch die Sicherheitsleute auf der Fähre zeigen sich wohlwollend: »Ihr dürft nur keine Beschäftigten der Reederei filmen.« Immer wieder melden sich Passagiere zu Wort, das Thema ist niemandem fremd. Eines der Ziele nach der Ankunft in Tunesien ist das Camp Choucha an der libyschen Grenze. Dort sitzen über 3000 Flüchtlinge aus Ländern wie Eritrea, Somalia und Äthiopien fest – bei Temperaturen von über 40 Grad und rationiertem Trinkwasser. Viele von ihnen müssen mit einer Abschiebung rechnen. Immer wieder brechen deswegen Boote aus Choucha auf und versuchen, Italien zu erreichen. Just an diesem Tag sind 54 Eritreer, die Ende Juni in Libyen in See gestochen waren, auf dem Meer gestorben. Eine Delegation von B4P besucht den einzigen Überlebenden im Krankenhaus von Zarzis in Süd-Tunesien.
Vernetzung verwirklicht sich Am nächsten Tag beginnt in der Hafenstadt Monastir ein Vorbereitungstreffen für das Weltsozialforum, das Anfang 2013 in Tunesien stattfinden wird. Hunderte Gewerkschafter und Delegierte aus der ganzen Welt sind dafür hergekommen. Migration ist einer der Themenschwerpunkte. Unter den Zuhörerinnen von B4P sind viele Mütter der »Harraga«, der Boatpeople, die auf der Fahrt nach Europa verschwunden sind. »Eure Kinder könnten noch leben, aber sie sind tot, denn es wird ein Krieg gegen die Armen geführt, die aus dem Süden kommen«, sagt ein aufgebrachter Algerier. »Wir müssen uns organisieren und diese Art von Neokolonialismus bekämpfen«, ruft er. Damit spricht er genau das aus, was auch B4P im Sinn hat: »So heterogen und teilweise unverbunden, wie die verschiedenen sozialen Bewegungen in Nordafrika und Europa noch sein mögen, es gibt vielversprechende Bemühungen, eine unmittelbare Gemeinsamkeit der Kämpfe herzustellen«, hatte die Vorhut von B4P nach einer ersten Reise im Mai 2011 formuliert. Eine langfristige Vernetzung von Basisgruppen gegen das europäische Grenzregime – das war die Agenda. Dass diese politisch auf der Höhe der Zeit ist, bezeugt auch François Crépeau, Sondergesandter der UNO-Flüchtlingshilfe UNHCR. Er hatte Tunesien erst kurz zuvor besucht und zeigte sich besorgt, weil auf den Druck Europas hin die unerlaubte Ausreise in Tunesien nach wie vor als Straftat gilt. »Dies widerspricht grundlegenden Prinzipien der Menschenrechte, einschließlich des Rechts, sein Land zu verlassen«, schreibt Crépeau. Sowohl Tunesier als auch Ausländer säßen deshalb im Gefängnis. Selbst Minderjährige würden zur Abschreckung in Haftanstalten interniert, die der Staat zynischerweise als »Zentren für Aufnahme und Orientierung« etikettiert. Solche Berichte entmutigen die Aktivistinnen von B4P nicht – im Gegenteil: »Eine aufrüttelnde, Kraft und Entschlossenheit gebende Reise« war die Zeit mit Boats4People, sagt die Französin Charlotte Bomy. »Die Konfrontation mit den Realitäten vor Ort hat mir gezeigt, wie dringlich das Problem ist«. Wesentlich war für die in Berlin lebende Theaterwissenschaftlerin die Begegnung mit Aktivisten aus Nord- und Westafrika: »Es war sehr wichtig für mich, dass wir Europäer nicht unter uns blieben.« Bis heute hält sie per E-Mail Kontakt zu Flüchtlingen aus dem Lager Choucha. »Ihre Lage ist ziemlich verzweifelt. Ich hoffe, wir können etwas für sie tun.« Für Marc Eichberg war die Reise vor allem deshalb faszinierend, weil sie so wenig vorhersehbar war. »Wir mussten eigentlich immer einem ›Plan B‹ folgen, aber am Ende hat alles gut funktioniert«, sagt er. Die Erfahrung, gemeinsam auf Unvorhergesehenes zu reagieren, macht für ihn den Reiz von B4P aus. »Es gab kein fest vorbestimmtes Ziel, sondern nur den Prozess – es ist eben eine soziale Bewegung.« Für beide waren auch die künstlerischen Projekte prägend für die Tour. »Viele junge Tunesier nutzen Kunst als Ausdrucksform für politische Inhalte«, sagt Bomy. Über das in Tunesien allgegenwärtige Thema der Reisefreiheit hätten sich schnell Verbindungen zu Künstlergruppen gebildet, die mit Performances auf B4P Bezug genommen haben. Ebenfalls an B4P angedockt hat sich das Projekt »Watch the Med«, das wie ein ziviler Wachturm über dem Mittelmeer Informationen zu Schiffsvorfällen von verschiedenen Quellen sammelt. Eine neue Online-Plattform soll anhand einer Karte auf Menschenrechtsverletzungen und den drohenden Tod von Flüchtlingen an den EU-Seegrenzen aufmerksam machen. Im Dezember kommen die Geowissenschaftler nach Berlin, um mit Boats4People über die Weiterentwicklung zu diskutieren. Zeitgleich sind einige junge Tunesier eingeladen, um mit B4P einen »Globalen Aktionstag für die Rechte der MigrantInnen« zu begehen: In einer koordinierten Aktion soll es in Deutschland, Spanien und Tunesien Aktionen zum Gedenken an die Vermissten und Toten an den Grenzen geben. Das Motto: »Migrieren, um zu leben – nicht, um zu sterben.«
Christian Jakob (33) ist Redakteur im Schwerpunkt-Ressort der Tageszeitung (taz). Er beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Migration.