Im ehemaligen Jugoslawien verbinden sich Frauen in starken Netzwerken.von Marijana Grsak, erschienen in Ausgabe #17/2012
»Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass die Frauen ihre Männer nicht lieben! Wie soll ich es mir anders erklären, dass ich erlebt habe, wie die Frauen stolz waren und ihre Männer in den Krieg ziehen ließen. Damals war ich schockiert, wie dieselben Frauen von sich sagten, sie liebten ihre Söhne und Ehemänner. Doch ich fragte mich, wenn sie sie lieben würden, dann könnten sie doch nicht zulassen, dass sie gingen, um andere Menschen zu töten und selbst ihr Leben gefährden. Was für eine Liebe ist das?! – Ich glaube, wir Frauen hätten damals die Macht gehabt, den Krieg zu verhindern.« Diese Fragen treiben Ljupka Kovačević (60), Begründerin und Koordinatorin des Zentrums für Frauen- und Friedensstudien »Anima« in Montenegro 17 Jahre nach den letzten Kriegen auf dem Balkan noch immer um, »weil alles noch viel schlimmer geworden ist«, sagt sie. Hier in dem alten Steinhaus, dem »Haus der freien Gedanken«, verborgen in den Bergen nahe der Bucht von Kotor, wird über Regional- und Europapolitik diskutiert, Versöhnung, Freundschaft und Gemeinschaft praktiziert und friedliches Einschreiten und Mitgestalten geplant. Den Weg in diese Oase finden Frauen aus der ganzen Region: Aktivistinnen, mutige Rentnerinnen, junge Mütter, wache Arbeiterinnen, politische Künstlerinnen. Ljupka hat das Haus ihrer Großeltern der Frauenorganisation geschenkt. »Nein, Besitz interessiert mich nicht.« So machen sich viele Frauen das Haus zu eigen und beleben es, während sie selbst immer wieder nach Energie und Hoffnung sucht. Während wir kochen und gemeinsam essen, diskutieren wir über die aktuelle Politik und vergangene Ereignisse, die in die Zeit gehören, als Jugoslawien zerbrach. Es wird deutlich, dass der Zerfall nicht nur ein geografischer, sondern auch ein innerlicher war, der Angst, Gewalt und auch Trauer, Wut und Protest hinterließ. Der Schock des Kriegs, die Gefühle der Ohnmacht sind noch heute spürbar, ebenso wie der unermüdliche Drang, diese in konstruktive Handlungen zu wandeln. Die Frauen im Haus der freien Gedanken identifizieren sich mit unnachgiebigen, autonomen Menschenrechtsbewegungen, die einer von Machtinteressen geprägten Politik nicht die Neugestaltung ihres Landes überlassen wollen. Doch die Politik ist unterwegs in Richtung EU und will von kleinen Organisationen nicht aufgehalten werden. Diese suchen unabhängige Finanzierungsformen, weil sie nicht als Schmuckstücke der heimischen Partei- und Regierungspolitik für EU-Projekte herhalten wollen. Ein steiniger Weg für die Aktivistinnen in Ländern ohne finanzielle Sicherheit – ein Leben im Hier und Jetzt.
Fürsorge kennt kein »Mein« Die Frauenorganisation Anima gründete sich 1996, inspiriert von der »Gewaltfreien Kommunikation« nach Marshall Rosenberg, mit dem Ziel, Frieden, Gewaltfreiheit, Selbstermächtigung und persönliches Wachstum zu kultivieren. Die Erfahrungen der Kriege in den 1990er Jahren riefen Ljupka Kovačević und andere Frauen auf die Straße. Ihr Vorbild war die pazifistisch-feministische Bewegung »Frauen in Schwarz« aus Belgrad, die dadurch bekannt wurde, dass jeden Mittwoch schwarzgekleidete Frauen auf dem Platz der Republik unter dem Motto »Nicht in meinem Namen!« schweigend eine Mahnwache gegen Krieg und jegliche Form von Diskriminierung hielten. »Solche Art des kreativen Ausdrucks ist für uns sehr bedeutungsvoll, er ist eine Art politischen Handelns, um sichtbar zu werden und die verschreckten Frauen durch unsere Präsenz im öffentlichen Raum zu erreichen – damit schaffen wir bis heute zumindest kleine Kreise der Freiheit in Montenegro«, erzählt Ljupka, und mein Blick fällt auf die Plakate, die im Haus verteilt sind und entschlossene, mutige Frauen mit Transparenten oder eine Performance abbilden. Noch immer versammeln sie sich auf öffentlichen Plätzen, beziehen Position, sprechen sich gegen blinden Gehorsam aus, fordern zu verantwortungsvollem Handeln für den Frieden auf und dazu, in eigenem Namen zu sprechen, statt andere für seine oder ihre Belange entscheiden zu lassen. Dieses Jahr konnte Anima erstmalig das Büro in der Stadt nicht mehr finanzieren, und so zogen die Frauen mit ihrer täglichen Arbeit in Ljupkas altes Steinhaus. »Die Menschen denken nur an ihren Besitz, sie denken, das ist mein Kind, mein Partner, meine Nation, und für diese wollen sie sorgen«, höre ich Ljupka aufgebracht reden. »Fürsorge kennt kein ›Mein‹. Wieviel Kraft hätte ich, mich für die Gesellschaft zu engagieren – nicht später, nicht erst, wenn meine Kinder groß sind, sondern jetzt? Dieses ›Mein‹ verstellt uns den Blick für das, was getan werden muss, für die Nachbarin, die vielleicht Unterstützung braucht. Mein Sohn, meine Tochter – sie dürfen mir doch nicht wichtiger sein als die Unversehrtheit der Erde, der Städte, als andere Menschen. Wie würden wir handeln, wenn wir alle Kinder, Männer, Städte als ›Unser‹ begreifen würden?« Ja, wie wäre das, schwingen die Worte in mir nach, suche ich ja gerade selbst nach einem Leben in Gemeinschaft.
Versöhnung auf neuen Wegen Ich staune über die gute Vernetzung der Frauen und Aktivistinnen hier und in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens. Beispielsweise treffen sie sich regelmäßig innerhalb des Frauen-Friedens-Netzwerks, das die Frauen in Schwarz aus Belgrad initiierten. Über ihr Programm zur Friedensbildung organisieren sie zahlreiche Seminare und Trainings, in denen sie sich unter anderem mit Feminismus, Pazifismus, Gewaltfreiheit und einer alternativen Globalisierung beschäftigen. In mir entsteht das Bild einer bunten, lebendigen Gemeinschaft, die scheinbar unsichtbar in Montenegro ein Netz von friedlichem Aktivismus spinnt. Die Frauen besuchen sich gegenseitig oder fahren zu Veranstaltungen des Netzwerks, die sie über Ländergrenzen hinweg zu Frauen und Männern in kleine und große Orte führen. Mit dem Anliegen, nicht nur als Konsumentinnen der Shoppingwelt aus den westlichen Ländern zu agieren, bilden diese Frauen einen starken Kontrast zur allgemeinen Entwicklung. Das erlebe ich hautnah, wenn ich durch die Straßen gehe, sei es wie diesen Sommer in Kotor oder zu einer anderen Zeit in Belgrad, Zagreb, Sarajevo oder in einer ländlichen Region. Während die junge Frau an der Kasse im Supermarkt ausdruckslos und mechanisch die Waren in die Plastiktüte, die es zu Jugoslawienzeiten nicht gab, packt, frage ich mich, wie wohl ihre Arbeitsbedingungen aussehen. Der Zusammenbruch Jugoslawiens verhalf einigen zu neuem Reichtum und brachte viele in Arbeitslosigkeit und Armut. »Mit Staša Zajović, der Initiatorin und Koordinatorin der Frauen in Schwarz in Belgrad, diskutieren wir über eine neue Ethik der Verantwortung und Fürsorge, die wir verbreiten möchten«, erzählt Ljupka. Daraus könnte sich, so die Frauen, eine aktive Politik der Solidarität, des Vertrauens und des Friedens entwickeln. Diese Vision ist Teil des ehrgeizigen Projekts, ein Frauengericht für das ehemalige Jugoslawien aufzubauen. Mitten zwischen den vielen Stimmen komme ich kaum zu Wort. Vielleicht liegt es auch daran, dass hier die Gespräche parallel zu laufen scheinen. Fragen, Antworten, Kritik wirbeln gleichzeitig im Raum. Aufregung liegt in der Luft, Wut, Enttäuschung und dann, wie aus dem Nichts, Ljupkas Fragen und Perspektiven, die mich tief bewegen, beeindrucken und auch anstacheln, meinen eigenen Horizont zu erweitern. Nein, sie erzählt nicht nur von Montenegro, sie erzählt von uns allen, von Frauen, Männern und dem Traum, sich zu engagieren, um eine Welt zu hinterlassen, die menschlicher ist als die, die uns unsere Eltern vererbt haben. Die Idee, ein Frauengericht zu etablieren, besteht schon seit über zehn Jahren. Es soll den Stimmen der Frauen Gehör schenken, ihrer alltäglichen Erfahrung von Unrecht während und nach dem Krieg sowie von häuslicher und öffentlicher Gewalt. In ehrenamtlicher Zusammenarbeit zwischen Frauenorganisationen aus Serbien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro und Kosovo fand im Oktober 2010 ein vorbereitender Workshop mit Gästen aus Mexiko, Südafrika, dem Irak und aus Kambodscha statt. Die Frauen sprachen über ihre Erfahrungen mit bereits bestehenden Frauengerichten, die einer anderen Gerechtigkeit folgen als das offizielle Rechtssystem auf nationalem oder internationalem Niveau. Sie möchten Verantwortung, Fürsorge und Sicherheit fördern, um einen gerechten Frieden im ehemaligen Jugoslawien aufzubauen. Erst wenn die Frauen in ihrem Schmerz gehört und angenommen wurden, kann Versöhnung beginnen. Hier scheinen mir noch viele Augen und Ohren notwenig, bevor sich nicht nur die Menschen der verschiedenen Regionen, sondern auch Männer und Frauen wieder in Vertrauen und Liebe einander zuwenden können.
Marijana Gršak (40) ist Soziologin und arbeitet mit Gewaltfreier Kommunikation, Trauerumwandlung und nachhaltiger Projektarbeit mit Dragon Dreaming. Zu den Aktivistinnen in Montenegro und Serbien www.emotionskultur.de www.protranskultur.de