Buchtipps

Pfade durch Utopia (Buchbesprechung)

von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #17/2012
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»Utopia« bedeutet bekanntermaßen »Nirgend-Ort«. Dennoch sind die von John Jordan und Isabelle Fremeaux besuchten Orte erstaunlich real: In einem Kleinbus begaben sich die Medienwissenschaftlerin und der Reclaim-the-Streets-Aktivist auf eine siebenmonatige Reise durch utopische Orte in Europa. Herausgekommen sind ein Dokumentarfilm und ein Buch, die, wie ein Hinweis in Vorspann und Vorwort informiert, jeweils nur die Hälfte der Wahrheit sind: Das Buch ist ein lebhafter, klug reflektierter Bericht einer räumlichen Reise, der Film eine gefühlte Reise durch die Zeit. Wie eine Zeitkapsel bildet er ein Bindeglied zwischen Prä- und Post-Kollaps-Epoche, zwischen der Ruhe vor und der Ruhe nach dem Sturm, zwischen Sozialutopie und Post-Apokalypse.
Die Reise beginnt mit Nachtsichtgerät, Sirenenlärm und Megaphonen inmitten eines Klimacamps auf der geplanten dritten Startbahn in London-Heathrow, dann führt uns die filmische Chronologie in eine von Arbeiterinnen besetzte Fabrik in Serbien. Danach sind die Industrie- und Kapitalwelt passé – wir bewegen uns fortan durch einen postindustriellen Maschinenwinter. Im weiteren Verlauf besuchen wir selbstorganisierte Kollektive, herrschaftsfreie Räume, Orte der fortschrittlichen Rückbesinnung. An einer Stelle des Films, in dem historischen Cevennen-Dorf »La Vieille Vallette«, schließt sich der Kreis zwischen Prä und Post: Die andauernde Gewalt und die Suche nach Nahrung, erzählt Bewohner Antoine, hätten die Menschen aus der Stadt ins bergige Umland getrieben. Was wie die Erinnerung an eine Zukunft klingt, die uns bald blühen könnte, bezieht sich auf die mittelalterlichen Erbauer des späteren Ruinendorfs, das Antoine und Kumpane besetzten und wiederbesiedelten.
Mit Ausnahme von Christiania liegen alle Stationen des Archipels jenseits der Städte. Inzwischen sind Jordan und Fremeaux übrigens selbst von London in die Bretagne gezogen, wo sie das utopische Kollektiv »La Ronce« (»die Brombeere«) begründeten. Wie alle Utopien ist auch diese einzigartig und lässt sich nicht eins zu eins auf andere Orte übertragen. »Es geht darum«, schreiben die Autoren im Nachwort, »sich Utopien eher als Akupunkturpunkte denn als Blaupausen vorzustellen.« Und die Wirksamkeit von Akupunkturpunkten bemisst sich weniger an der Quantität als an ihrer Qualität.


Pfade durch Utopia
Buch und Film von Isabelle Fremeaux und John Jordan
Edition Nautilus, 2012
ISBN 978-3894017637
25,00 Euro

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