enkeltauglich leben
Buchtipps

Der Wolkenatlas (Buchbesprechung)

von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #17/2012
Photo

Mitte des 19. Jahrhunderts trifft ein junger Anwalt in Neuseeland auf einen der letzten Überlebenden vom Stamm der Moriori. In Belgien schreibt ein knappes Jahrhundert darauf der Assistent eines genialischen Komponisten ein »Wolkenatlas-Sextett«. In den 1970er Jahren kommt eine abgebrühte Reporterin an der US-amerikanischen Ostküste einem kolossalen Komplott bei der Genehmigung eines Atomkraftwerks auf die Schliche. Im London unserer Tage gerät ein zu Erfolg gekommener Verleger in lebensbedrohliche Schwierigkeiten. In der nicht allzu fernen Zukunft wird ein weiblicher Klon des Verbrechens, Mensch sein zu wollen, angeklagt, und in einer ferneren, post-apokalyptischen Zukunft ist auf Hawaii die vielleicht letzte Friedensbastion der Menschheit bedroht.
Was wie wahllos aneinandergereihte Groschen- und Abenteuerromane klingt, ist ein einziges Buch – und es ist große Literatur. Die sechs Handlungsstränge in David Mitchells Genres und Epochen umspannendem Roman haben auf den ersten Blick nichts, auf den zweiten alles gemeinsam. Für sich genommen, sind sie mit allen Mitteln der Kunst konstruierte Genreliteratur: Seefahrergeschichte, Künstlerroman, Polit-Krimi, Cyberpunk-Thriller, post-apokalyptische Horrorvision. Zusammengenommen ergeben sie ein episches Tableau menschlicher Beziehungen, in dem alles mit allem verbunden ist und ein Flügelschlag im Pleistozän Auswirkungen aufs Post-Holozän hat. Die Wolke ist dabei die perfekte Metapher: So, wie sich dieselben Elemente – Luft und Wasser – in unendlichen Variationen immer neu formieren, wirken auch die Protagonisten wie Manifestationen der immerselben Personen.
Der teuflisch gut gestrickte Plot bedient sich filmischer Dramaturgie- und Montagetechnik. Jedes Kapitel endet mit einem filmreifen »Cliffhanger«. So war es nur eine Frage der Zeit, bis es zu der opulenten Verfilmung kam, die dieser Tage in den deutschsprachigen Kinos anläuft. Doch Mitchells Roman ist mehr als nur gut konstruiert. Zwischen narrativen Fallstricken tut sich eine Tiefe auf, die ebenso vielgestaltig ist, wie die Deutungsmöglichkeiten der seltsamen Geschicke der formwandlerischen Protagonisten zahlreich sind: Chaostheorie, ewige Wiederkunft, Seelenwanderung? Entscheiden Sie selbst! Eine mitreißende, berührende, vielschichtige Allegorie auf menschliche Wesenszüge wie Güte und Grausamkeit, Barmherzigkeit und Verrat ist dieser literarische Höllenritt allemal.


Der Wolkenatlas
David Mitchell
Rowohlt Verlag, 2006
672 Seiten
ISBN 978-3499240362
9,99 Euro

Weiterlesen: Italo Calvino: Wenn ein Reisender … • Virginia Woolf: Orlando • Richard Flanagan: Goulds Buch der Fische

weitere Artikel aus Ausgabe #17

Gerechtigkeit & Friedenvon Farah Lenser

Kein Mensch ist illegal

Flüchtlinge verließen aus Protest gegen unwürdige Zustände ihre Asylbewerberheime und zogen quer durch Deutschland nach Berlin. Was hindert uns an der Inklusion?

Gesundheitvon Beate Küppers

Systeme der ­Heilung

Florian, was verstehst du unter dem Begriff »Ethnomedizin«?Die Ethnomedizin oder Medizinethnologie ist eine wissenschaftliche Methode, dem Heilwissen fremder Kulturen zu begegnen. Dabei geht es primär nicht um Heilmittel, die bei anderen Völkern angewendet werden, sondern

Photo
Aktion & Widerstandvon Veronika Bennholdt-Thomsen

Buchbesprechung von David Graebers »Schulden – Die ersten 500 Jahre«

Es kommt ja nicht so oft vor, dass das neue Buch eines ausgewiesenen Anarchisten quasi alle großen Feuilletons dies- und jenseits des Atlantiks beschäftigt – und dann von diesen noch nicht einmal nach Strich und Faden verrissen, sondern zumeist mit echtem Interesse diskutiert

Ausgabe #17
Gewalt

Cover OYA-Ausgabe 17
ProbeheftNeuigkeiten aus der Redaktion