Gandhis ausgewählte Werke in 5 Bänden (Buchbesprechung)
von Ulrich Holbein, erschienen in Ausgabe #28/2014
Das heutige Indien fragt sich öfters: »Wie indisch war Gandhi überhaupt?« Gandhi-Kritiker behaupten: »Gandhi hat keines seiner Ziele erreicht.« Wer seine Werke aufschlüge, würde mitreden können. Eine opulente Gelegenheit ist vorhanden – eine schöne Edition, eine wohlfeile Geschenkkassette. Wer sich als Leser daran stört, dass es nicht heißt »Sämtliche Werke«, sondern bloß »Ausgewählte«, kann trotzdem in der breiten Palette dieser profunden Auswahl versinken, als wäre es das Gesamtwerk. Indien hat etwas derart Allumfassendes an sich, dass Gandhi auch dann, wenn er ein anderer Typus gewesen wäre, dem Wort »indisch« hätte genügen können. Wie unendlich konträr Inder sein oder auch nur aussehen können, zeigen Rabindranath Tagore und Mahatma Gandhi auf ihren gemeinsamen Fotos. Kann man Gandhi anlasten, dass Indien heute den globalen Technikfetischismus, Drogen- und Fleischkonsum mitmacht, steigert und in ein landesweites Bollywood übergeht? Am unpopulärsten dürfte im PornTube-Zeitalter Gandhis »Brahmacharya« (Keuschheit) sein. Hier einige Blendlichter, die aus dem Querschnitt seines Themenspektrums hervorschießen: 1894 schrieb er an Dadabhai Naoroji: »Die Verantwortung, die ich übernommen habe, geht weit über meine Fähigkeiten hinaus.« 1920 schrieb er, die englische Nationalhymne sei unchristlich. 1924 versicherte er in »Warum ich kein Christ bin«: »Meine Zuneigung zu Jesus ist wirklich groß« – dann kommt aber bald ein Aber. 1938 verfasste er den Artikel: »Wenn ich ein Tscheche wäre.« Seine Panazee »Ahimsa« (Nichtverletzen) bzw. »Satyagraha« (gewaltloser Widerstand) konnte nur vor dem Vaterland des Gentleman-Ideals funktionieren. Unzivilisiertere Diktatoren hätten sich von fastenden Demonstranten kaum beeindrucken lassen. 1940 konfrontierte ihn ein islamischer Interviewer mit dem Gedankengang, er müsse aufhören, ein Muslim zu sein, wenn er Gandhis allzu extreme Gewaltlosigkeit bejahe. 1942 grübelte Gandhi nach, was wohl geschähe, wenn Deutschland den Krieg gewönne, und wusste es aus dem »Mahabharata« heraus zu prognostizieren. Dem Alten Testament (AT) brachte er weniger Verehrung entgegen als dem Neuen Testament (NT). Kali Ziegen zu opfern, hielt er nicht für Hindupflicht, und die Institution der »Shudras« (»depressed classes«) geißelte er unaufgeregt als gottlosen Auswuchs: »Die Hindus werden die Freiheit nie erlangen und auch nicht verdienen, wenn sie es zulassen, dass ihre edle Religion durch die Beibehaltung des Makels der Unberührbarkeit entehrt wird.« Warum beugen sich Millionen diesem Argument nicht? Etliche Hindus, einschließlich Gandhis ältestem Sohn, warfen ihm vor, er verbreite unter dem Hindu-Deckmantel buddhistische Lehren, obwohl er in den Nirwana-Begriff doch wieder Gott einschmuggelte. Das Beste Buddhas sah er nicht im Exil auf Ceylon, Burma oder Tibet; vielmehr sei der ganze Hinduismus durchtränkt damit, zumal Buddha selbst ein Hindu gewesen sei. Eine Parallele aus heutiger Zeit ist, dass die Grünen behaupten, grüne Ideale seien längst umfassend in den Mainstream eingesickert. Wer noch nie Anlass hatte, über »Italien und Indien« nachzudenken, kann bei Gandhi einen Text mit diesem Titel lesen. In seinem Kapitel »Was Gewaltfreiheit bedeutet« grübelt er über Zusammenhänge zwischen Freiheit und Feigheit. Gandhi schrieb Briefe nicht nur an Tagore und Tolstoi, an Chiang Kai-shek, an Vizekönige und »an alle Japaner«, sondern sogar zweimal an Hitler, den er mit »Lieber Freund« anredete; die indische Regierung hielt die Briefe zurück. Die archetypische Konstellation ist bekannt seit Jesus und Pilatus und wurde später variiert vom 14. Dalai Lama und Mao. Weiterhin wird der große Name des kleinen bescheidenen Manns nicht kleiner. Das britische Joch schüttelte er furios ab, aber am Kastensystem, an dem schon Buddha vergebens gezupft hatte, rüttelte auch er, bei aller medialen Breitenwirksamkeit, arg umsonst. Sein hart errungenes Keuschheitsgelübde auch gegenüber seiner Ehefrau blieb genauso ohne Effekt auf die Bevölkerungsexplosion wie vormals Buddhas Askese.
Ausgewählte Werke In fünf Bänden Mohandas Karamchand Gandhi Wallstein Verlag, 2011 2098 Seiten ISBN 978-3835306516 59,90 Euro
(Der Schuber enthält: Band 1: »Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit«, Autobiografie; Band 2: »Satyagraha in Südafrika«; Band 3: »Grundlegende Schriften«; Band 4: »Die Stimme der Wahrheit«, Reden und Zeitungsartikel; Band 5: Ausgewählte Briefe.)