Offene Orte schaffen im Spannungsfeld von Zivilgesellschaft, Politik und Ökonomie.
von Felicitas Sommer, erschienen in Ausgabe #31/2015
Bananen sind die Früchte jener Republiken, in denen US-amerikanische Fruchtkonzerne im 20. Jahrhundert mehr zu sagen hatten als die Präsidenten der Länder selbst. Wer stolz auf die Westfrucht ist, huldigt dem Erfolg dieser Despotie doch irgendwie. Hat auch der Apfel eine bestimmte Regierungsform? Seit meinem Treffen mit Burkhardt Kolbmüller aus Bechstedt in Thüringen ahne ich, was Apfelpolitik sein könnte. Burkhardt setzt sich dafür ein, krisenfeste, gemeinschaftliche und regionale Strukturen zu schaffen – unter anderem als Manager eines EU-Regionalentwicklungsprogramms. Streuobstwiesen sind Teil seiner Strategie, damit Menschen sich selbst versorgen können, Zugang zur Natur erhalten und miteinander in Kontakt kommen.
Mein erstes Telefonat mit Burkhardt war ziemlich kurz. Im Hintergrund lief eine Säge, er selbst war wortkarg, aber gutgelaunt. Auf meine Frage, ob ich bei meinem Besuch jemanden mitbringen könne, antwortete er: »Wir haben zehn Betten frei!« Im Dezember verbrachten mein guter Freund Philipp und ich zwei Tage auf Burkhardts Hof. Philipp kümmert sich seit letztem Sommer um sein »Mitmachhaus« im Elbsandsteingebirge, ein schönes, altes Haus mit Tanzsaal, Bühne und Garten. Alle Menschen sind dort Gäste – ob sie Eigentümer, Dorfbewohner oder Reisende sind. So entsteht ein Geben und Nehmen zwischen dem Ort und seinen Besuchern. Auch Burkhardts Anwesen in Bechstedt ist ein offener Ort – regelmäßig gibt es hier Symposien, Konzerte, Lesungen und Gespräche über die Zukunft der Entwicklung der Region Saalfeld-Rudolstadt. An der Regionalbahn in Bechstedt holt uns ein kleiner russischer Geländewagen ab. Es ist Burkhard im Lada. Er hat Fässer dabei, die letzten Reste Apfelglühwein dampfen noch aus. Auf dem Wintermarkt der Schwarzatal-Bahn hat er mit seinem Sohn ein Wochenende lang Apfelsaft und Glühwein verkauft. Das erste Gebäude, dem wir begegnen, ist ein massiver Betonquader – der Speicher für die Holzhackschnitzel der neuen Dorfheizung. Burkhardt hatte 2012 die Energiegenossenschaft mitgegründet. Der graue Außenseiter am Dorfrand versorgt heute 30 der 51 Fachwerkhäuser mit Wärme. Wir halten vor Burkhardts Hof. An der Straßenseite hat er das Fassadenmosaik aus grauen Schieferplatten restauriert; die roten Dachziegel hat er von alten Bauernhöfen in der Umgebung zusammengesammelt. Auf der Rückseite verdeckt eine Solaranlage das Hausdach. Regionale Energieversorgung und Denkmalpflege gehen für Burkhardt gut zusammen. Drinnen ist es warm; wir sitzen an diesem Dezemberabend zwischen Kamin und Holztisch in seiner Stube und wärmen die Hände an getöpferten Teetassen. Mit im Kreis sitzt Kristine Glatzel, die in einer eigenen Wohnung ebenfalls auf dem Hof lebt. Im Lauf ihres 76-jährigen Lebens hat sie der Öffentlichkeit drei verfallene Burgen untergejubelt – deren Finanzierung und die Wiederbelebung der geschichtsträchtigen Orte. Mit Kristine sitzen nun drei Generationen Zivilengagement um den Tisch: Phillip und ich sind in den 20ern, Burkhardt ist Mitte 50. Uns eint die Suche nach Wegen für ein gedeihliches Miteinander und regionale Selbstorganisation.
Zwischen Kreistag und EU Eine Zeitung auf dem Tisch entfacht unser Gespräch. »Wir erwarten im Landkreis 40 Flüchtlinge pro Monat«, erzählt Burkhardt. »Die letzte Landrätin wurde abgesetzt, weil sie angeblich ›Shoppingtouren‹ für die ankommenden Menschen gemacht habe. Das Regionalblatt hatte eine Kampagne gegen sie hochgezogen, und schon war sie weg. Jetzt sitzt da jemand, der völlig überfordert ist. Ist das Demokratie? Ich würde niemandem raten, in den Kreistag zu gehen. Das ist Frustration.« Auch wenn Burkhardts Tun viel mit Politik zu tun hat – einen Posten dort will er nicht. »Ich möchte handeln, nicht nur reden, dort etwas tun, wo es möglich ist – mit denjenigen, die da sind.« Das tut er unter verschiedenen Überschriften, sei es im Verein »LandNetz«, im Heimatbund oder bei der sogenannten LEADER-Koordination, die EU-Fördermittel in der Region verteilt. Zuweilen fragt ihn die Politik als Experten an, wenn es um Fragen des zivilgesellschaftlichen Engagements geht – zuletzt im Zusammenhang mit dem Koalitionsvertrag der neuen Thüringer Landesregierung. Das Land ist kein Rückzugsort vom globalen Geschehen, alle müssen einen Umgang mit Veränderung finden. Das fällt vielen Menschen leichter, wenn sie dabei an Traditionen anknüpfen können. Burkhardt weiß das. »Mit der Gründung des Heimatbunds im Jahr 1993 wollten wir verhindern, dass andere den Begriff ›Heimat‹ besetzen.« Für ihn drückt er eher eine Art Beziehung als einen Anspruch aus. Neu Ankommende sollen willkommen sein. Das versucht der Heimatbund mit seinem aktuellen Projekt »PARTHNER – Für mehr Partizipation in unserer Thüringer Heimat – Nachhaltige Entwicklung ohne Ressentiments« zu unterstützen. Hier werden Menschen ausgebildet, die lokale Vereine bei Konfliktbewältigung oder Fundraising beraten und ihnen dabei helfen, die Bürgerinnen und Bürger in Projektplanungen einzubinden. Dass letztes Jahr ein Naturlehrpfad im Saaletal unter Mitwirkung verschiedenster Akteure verwirklicht wurde oder dass ein leerstehendes Gut als Lernort für alte Handwerkstechniken ausgebaut wird, geht mit auf das Konto der PARTHNER-Strategie. »Vereinsarbeit ohne Ressentiments gegen neu Zugezogene entzieht den Nährboden für Rechtsextreme im ländlichen Raum«, betont Burkhardt. Diesen Ansatz teilt auch Kristine Glatzel, auf deren Initiative es zurückgeht, dass die Schlösser Neuenburg, Querburg und Schwarzburg saniert wurden. Im letztgenannten plant sie nun Seminare und Führungen zum Thema Demokratie. An diesen Ort hatte sich Friedrich Ebert nach Gründung der Weimarer Republik zurückgezogen. Während des »Dritten Reichs« wurde Schwarzburg für ein »Führerhotel« halb abgerissen. »Burgen sind spannend. Man steht da oben und blickt auf auf die Gegenwart herab«, meint Kristine. Wie aber lässt sich eine Burgsanierung finanzieren? »Du musst einen Kristallisationspunkt finden, der die Leute zusammenbringt – bei jeder ›meiner‹ Burgen hat sich ein solcher gezeigt.« Anfangs hat Kristine vor allem mit Burgenliebhabern aus ganz Deutschland politischen Druck für die öffentliche Finanzierung geschaffen. Die Anwohner identifizierten sich meist erst später mit den Bollwerken der Geschichte vor ihrer Haustür. »Wenn ich eine Idee für einen Demokratie-Workshop entwickeln und ihn in der Burg anbieten wollte – wäre das möglich?«, fragt Philipp. »Dann müsstest du die Räume mieten; die Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten fordert Einnahmen.« Demokratie in der Burg hat ihren Preis. »In der DDR war es manchmal leichter, etwas zu veranstalten«, sagt die Kunsthistorikerin, die gezwungen war, ihre Doktorarbeit ins Feuer zu werfen, weil sie ihre Westkontakte nicht preisgeben wollte. »So einem Funktionär musste man nur einreden, etwas sei seine Idee gewesen – dann wurde es umgesetzt. Ökonomen zu überzeugen ist so viel schwieriger …« Wo gibt es noch Räume für die Zivilgesellschaft, um die das Geld keine Hürden baut? Können nicht verlassene Dorfgasthöfe wieder zu Orten des Austauschs werden? »Selbstverständlich. Manchmal reicht sogar ein Dorfplatz, um Gespräche zu führen«, meint Kristine. Burkhardt seufzt: »Gerade versuchen wir, im alten Rottenbacher Bahnhof einen Regionalwarenladen aufzubauen – wenn das nicht wieder an den regionalpolitischen Kleinkriegen scheitert.« Es gilt, an den oft intransparenten Interessen der wirtschaftlichen und politischen Akteure irgendwie vorbeizunavigieren. Gleichzeitig muss man sie mitnehmen. Auch wenn die »Zivilgesellschaft« dem Konzept nach so schön autonom neben Markt und Staat liegt, sie ist vollständig durchzogen von eben jenen Machtverhältnissen.
Die Wirtschaft der Streuobstwiese Im Winter liegen Gästezimmer und Kulturscheune auf Burkhardts »KulturNaturHof« still. Zu anderen Jahreszeiten sind hier Ferien- und Tagungsgäste, und alle zwei Jahre belebt sie die Commons-Sommerschule mit Silke Helfrich. Burkhardt zeigt uns zu später Stunde die erste Etage, und wir suchen uns zwei leere Zimmer aus. Am nächsten Morgen backen wir Brötchen auf. »Es gibt hier zwei Bäckereien, die es nicht schaffen, sich abzusprechen – sie kommen beide montags, mittwochs und freitags mit einem mobilen Stand«, beklagt Burkhardt die mangelnde Koordination. Gestärkt spazieren wir über den Hof. Zwischen Garten und Haus befindet sich die Trenntoilette. Burkhardts Kinder nennen sie »Berliner Flughafen« – sie wird nie fertig. Aber eine sorgfältig gespachtelte Lehmwand und elektrische Belüftung hat sie schon: Wir befinden uns im Luxussegment der Kompostklos. Dann stehen wir auf der erhöhten Streuobstwiese hinter dem Haus. »Da kommt der Zug nach Paris!«, scherzt Burkhardt und zeigt auf die rote Schwarzatal-Bahn, die zwischen zwei bewaldeten Hügeln dahinrollt. »Natürlich muss man in Erfurt einmal umsteigen.« Durch einen Gang geht es zum ehemaligen Schweinestall – dort steht wie ein kleiner, grüner Technosaurier die Saftpresse. Sie passt weder zum privaten Heimwerkerkeller noch in eine Fabrik. Ließe sich die Mosterei nicht als Gemeingut verwalten? Burkhardt: »Die Mosterei hätte ich schon gerne mit anderen zusammen gestartet, aber zu dem Zeitpunkt hat niemand mitgezogen. Also habe ich sie selbst gekauft.« Für ihn ist die Presse eine Einnahmequelle. Sie greift auf Ressourcen in unmittelbarer Nähe zurück. Bei der Eröffnung war das ganze Dorf da. »Seitdem sammeln die Leute überhaupt wieder Obst! Es lag früher überall nur herum.« Die meisten Streuobstwiesen in Thüringen stammen aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und wurden kaum verjüngt. Bis in die 1960er Jahre sind sie viel genutzt worden, doch als die Landwirtschaft in den 1980er Jahren zunehmend industrialisiert und zentralisiert wurde, gerieten sie in Vergessenheit. In heutiger Zeit wurden als »Ausgleichsmaßnahmen« für Bauprojekte zwar junge Bäume in der Gemeinde angepflanzt, so Burkhardt. »Meist kümmert sich dann aber niemand darum, und nach fünf Jahren sind viele schon wieder hinüber. Ich habe deshalb bei der Verwaltung angefragt, ob wir diese Bäume nicht in unsere Streuobstprojekte integrieren könnten, und siehe da: Die Amtsleute waren sogar froh darüber, dass ihnen jemand geeignete Pflanzflächen vorschlägt und für die Pflege sorgt!« Vor Burkhardt hatte sich noch niemand darum beworben, die Baumpflanzung zu organisieren. Nun plötzlich wollten sich auch die Nachbardörfer um Bäume kümmern. »Ist doch schön!«, meint Burkhardt. Manchmal muss jemand anfangen.
Spannungsfelder Wir steigen in den kleinen Lada und setzen die Unterhaltung fort; es geht nach Erfurt. »Wir haben heute das erste LEADER-Aktionsgruppen-Treffen, das nicht von oben organisiert wurde«, erklärt Burkhardt. Die Lokalen Aktionsgruppen (LAG) des EU-Förderprogramms LEADER entscheiden selbst, welche Projekte in diesem Rahmen bezuschusst werden. Wie es die EU vorsieht, sind unter den Mitgliedern sowohl NGOs, Verwaltungen und Privatpersonen. Auch wenn der Kreis prinzipiell offen ist – jeder kann mitmachen –, kommen hier typischerweise die »Macher« zusammen. Die breite Gesellschaft repräsentiert eine LAG auf diese Weise nicht. Inwiefern ist das denn demokratisch? Wenn die EU schon der Zivilgesellschaft auf möglichst direktem Weg Gelder für die Regionalentwicklung zukommen lassen wollte, müsste dann nicht ein offenerer, direktdemokratischer Prozess beginnen, bei dem möglichst viele Bürgerinnen und Bürger über die Mittelvergabe abstimmen? Burkhardt kratzt sich am Kopf und schweigt nachdenklich. Die LAG in Saalfeld-Rudolstadt hat sich als Verein aufgestellt, der 60 Euro Mitgliedsbeitrag erhebt – auch das ist eine Hemmschwelle für breite Beteiligung. Andererseits ist das Prinzip »Wer da ist, macht mit« auch förderlich für effektives Arbeiten. Es dreht sich also wieder um das Spannungsfeld zwischen Handlungsfähigkeit und breiter Legitimation – das zeigt sich bei der Organisation von Ehrenamtlichen, bei der Regionalentwicklung wie bei der Flüchtlingshilfe. Während Kommunen immer weniger selbst in die Hand nehmen können, entstehen neue Formen der Koordination. So schön »organisierte Zivilgesellschaft« klingt – die Frage ist, wer die Möglichkeit hat, Entscheidungen mitzugestalten, die jeden betreffen. Aber Regionalläden oder Streuobstwiesen bieten vielleicht den Raum, in dem politische und wirtschaftliche Entwicklungen vor Ort Gesichter bekommen. So könnte dann auch Apfelpolitik funktionieren. •
Felicitas Sommer (26) studiert Ethnologie im Masterstudiengang an der Universität Leipzig. Ihre Themen sind Postwachstumsgesellschaften, Commons und solidarische Landwirtschaft.