Bildung

Ich werde behindert!

Eine etwas andere Sicht auf das derzeitige In-Wort »Inklusion«.
von Anke Schäfer, erschienen in Ausgabe #31/2015
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© Privat

Als ich 1968 schulpflichtig wurde und meine Eltern mich an der örtlichen Grundschule anmelden wollten, erhielten sie eine Absage mit dem Hinweis, für körperbehinderte Kinder wie mich – ich war eines der vielen »Contergankinder« – käme nur eine Heimsonderschule in Frage. Meine Eltern waren vor den Kopf gestoßen, hatten sie doch nie den geringsten Zweifel daran gehabt, dass ich meinen eigenen Weg auch in einer »normalen« Schule finden würde.

Heute unterrichte ich an einer Hauptschule im Herzen des Ruhrgebiets, habe es also mit Kindern zu tun, deren Bildungsgrad von der Gesellschaft wenig Anerkennung erfährt. Vor einigen Jahren wurde ich zur Klassenlehrerin eines von drei neu eingerichteten fünften Schuljahren. Neben freudiger Erwartung stellte sich bei mir schnell auch eine gehörige Portion Unsicherheit und Unwohlsein ein, denn sechs meiner künftigen Schülerinnen und Schüler ­waren auf sonderpäda­gogische Förderung angewiesen, und ich wusste nicht, ob ich dies leisten könne. Ich bekam also eine »integrative« Klasse im Rahmen des »Gemeinsamen Unterrichts« (GU). Die Diskussion um Inklusion war an den Schulen zu jener Zeit noch nicht in vollem Gange. Die sechs Schülerinnen und Schüler sollten von mir und meinen Kolleginnen »zieldifferent« gefördert werden. Das bedeutet, dass wir mit diesen »lernbehinderten« vier Jungen und zwei Mädchen individuell ihre Lernziele festlegen und sie entsprechend unterstützen würden. Eine große Herausforderung – dennoch war ich zuversichtlich, hatte ich doch schon Erfahrungen im Umgang mit dem Anderssein gemacht.
Unser Schulsystem sieht vor, dass Kinder, deren Bedarf quasi amtlich ist, Unterstützung und Förderung durch eine Lehrkraft erwarten dürfen, die eigens dafür ausgebildet wurde – und ich war hoffnungsvoll, bald durch eine solche Kraft in meinem Unterricht sowie bei den Vor- und Nachbereitungen unterstützt zu werden. So zumindest die Theorie.

Anspruch und Wirklichkeit
Das Schuljahr nahm Fahrt auf. Schon im ersten Halbjahr half die Einführung eines Klassenrats, die Unterschiedlichkeiten aus dem Fokus der Kinder zu nehmen. Stattdessen lag unser Augenmerk auf dem gemeinsamen Ziel einer tragfähigen Klassengemeinschaft, in der niemand befürchten musste, ausgelacht zu werden, wenn sie oder er Fehler machte oder etwas nicht wusste.
Zunächst unterstützten mich stundenweise zwei Kollegen einer benachbarten Förderschule. Für die Kinder bedeutete dies, sich stündlich und täglich auf wechselnde Bezugspersonen einstellen zu müssen. In den fünf gemeinsamen Jahren vom fünften bis zum neunten Schuljahr summierte sich die Zahl der Förderschulkolleginnen und -kollegen auf ganze neun. Außer­dem mussten wir, die Kinder und die Regelschullehrerinnen, während dieser Zeit sogar mehrere Monate gänzlich auf kompetente Hilfe verzichten. In der Konsequenz bedeutete dies, engen Kontakt zu halten und mit Kolleginnen, die ihrerseits zwischen mehreren Schulen pendelten, individuelle Förderkonzepte zu entwickeln und zu betreuen. Erschwerend kam hinzu, dass die Klassenstärke wuchs – seit dem siebten Schuljahr auf 29, vor allem durch Schüler benachbarter Realschulen, die dem »Leistungsanspruch« dort nicht gerecht wurden. Mit ihren Misserfolgserlebnissen und Versagensängsten belasteten sie die bestehende Klassen­gemeinschaft. Den Kindern, die doch besonders auf eine Beständigkeit in der Beziehung zu den Menschen, die sie fördern und in ihrer individuellen Entwicklung begleiten sollten, angewiesen waren, muteten wir also mit diesen zusätzlichen Erschwernissen außerordentlich viel zu.
Inzwischen haben die Schülerinnen und ­Schüler dieser Klasse ihre Schulzeit beendet; viele von jenen, die von der Realschule kamen, erreichten bei uns doch noch die Fachoberschulreife, andere bekamen einen Hauptschulabschluss. Vier Schüler und eine Schülerin mit sonderpädagogischem Förderbedarf besuchten in ihrem letzten Schuljahr die »Beruf-und-Schule-Klasse«, die Jugend­liche in besonderem Maß auf das Berufsleben vorbereitet und einen Abschluss bietet. Zurückblickend denke ich, dass ein Teil der Schüler gut zurechtgekommen ist, andere hingegen oft überfordert oder, besser gesagt, »unterfördert« waren, da es keine echte Kontinuität bei der Begleitung gab. Ein Schüler hatte zum Beispiel große mathematische Stärken, konnte aber nicht im Erweiterungskurs Mathematik zurechtkommen. Für ihn war diese Art der Förderung, die mit einem Kurswechsel verbunden war, zu unflexibel.
Auf der Webseite des Schulministeriums NRW ist zu lesen: »Inklusion ist ein Schlüsselbegriff, der eine humane Gesellschaft kennzeichnet, die Verschiedenheit anerkennt und annimmt und auf einen gesamtgesellschaftlichen werteorientierten Grundkonsens zielt. In einem inklusiven Schulsystem wird das gemeinsame Leben und Lernen von Menschen mit und ohne Behinderungen zur Normalform.«
Ist das wirklich so? Meiner Meinung nach sind wir in den Schulen noch weit von einem gemeinsamen Leben und Lernen entfernt.

Selbstverständlichkeit
Ich war ein aufgewecktes Kind, das seit frühester Kindheit, beispielsweise in der Krabbelphase, die fehlenden Arme durch eine andere Art der Fortbewegung ersetzte. Meine Eltern waren langmütig genug, auch meine Fehlversuche auszuhalten. Hätte meine Mutter mich jedesmal aufgehoben, wenn ich bei den ersten Gehversuchen gefallen war, hätte ich wohl nie selbständig laufen gelernt! Viele Grundschulen verweigerten damals die Aufnahme der Contergankinder. Es fand sich jedoch eine Waldorfschule, die für uns zunächst eine »Sonderklasse« einrichtete. Dort gab es neben weiteren Lehrkräften auch physiotherapeutische Unterstützung, so dass wir neben einer guten Schulbildung auch lebenspraktische Dinge, wie das Anziehen oder das Hinfallen, trainieren konnten. Von zieldifferenter Förderung sprach damals noch niemand, dennoch haben wir sie erhalten. Von den mit mir eingeschulten Kindern haben alle einen Schulabschluss erlangt, viele haben Abitur. Die Sonderklasse wurde im Lauf der Schulzeit aufgelöst – wir wechselten in »normale« Klassen. Geholfen haben mir in jener Zeit verlässliche Ansprechpartner, die so lange an meiner Seite waren, dass sie eine Entwicklung überhaupt beobachten konnten und mir genug Raum gaben, meinen Weg zu finden.
Nach dem Schulabschluss empfahl der auf behinderte Abiturienten spezialisierte Berufsberater eine Tätigkeit möglichst ohne Publikumsverkehr. Ich entschied mich anders und begann ein Lehramtsstudium, denn ich wollte schon immer mit Menschen zu tun haben. Ausgrenzung habe ich wiederholt erfahren  – auch und gerade von besonders gutmeinenden Menschen. So wurde ich noch im Studium immer wieder gefragt, ob ich nicht doch an einer Förderschule arbeiten wolle. Dort ist jedoch meine Fächerkombination – Russisch und Englisch in der Sekundarstufe II – nicht gefragt.
Kinder gehen übrigens mit Anderssein ganz unbefangen um. Als ich einmal in einer fremden fünften Klasse eine Vertretungsstunde hatte, fragten die Kinder, warum meine Arme so kurz seien. Ich erklärte kurz, wie es dazu kam. Eine Schülerin meinte, ich könne ja dann nicht schreiben. Also zeigte ich ihr den Klassenbucheintrag, den ich gerade verfasst hatte, und erklärte, ich könne auch mit den Füßen schreiben. Natürlich musste ich den Beweis antreten. Seitdem ist meine Behinderung kein Thema mehr in dieser Klasse. Inzwischen bin ich viele Jahre im Schuldienst und dabei auch in der Lehrerfortbildung tätig – fachbezogen mit dem Schwerpunkt Englisch, aber ich gestalte auch Fortbildungsangebote im Bereich Schulkulturentwicklung und Demokratie.
Die selbstverständliche Haltung meiner Eltern und der Mut der Hibernia­schule, sich »des Problems Contergankinder« anzunehmen, haben mir einen individuellen, guten Weg ins Leben ermöglicht. Behördliche Entscheidungen und Regulationen waren dabei immer hinderlich. So musste ich zum Beispiel, um eine Fahrerlaubnis zu erlangen, eine medizinisch-psychologische Untersuchung (im Volksmund »Idiotentest«) nachweisen.
Mein Eindruck ist, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten seit meiner Einschulung kaum etwas in den Köpfen und Herzen aller an Schule beteiligten Menschen verändert hat. Immer noch suchen Eltern für ihre Kinder bestmögliche Unterstützung, immer noch stoßen sie auf Ablehnung und Ausgrenzung. Ich wünsche mir für sie und für alle anderen eine Schule, in der es normal ist, anders zu sein; in der das Betreten eines Schulgebäudes nicht allein schon deswegen verwehrt wird, weil die teure Rampe fehlt; in der das blinde Kind ein sehendes an seiner Seite hat, wenn es nötig ist; in der ein langsam lernender Schüler einem schnelleren hilft und in der sich niemand wundert, dass ein Schüler mit Trisomie 21 aufs Gymnasium geht. •


Anke Schäfer (53) lebt in Hattingen an der Ruhr, lehrt an einer Hauptschule in Bochum und ist für das Kompetenzteam Bochum in der Lehrerfortbildung tätig. Ihre Schwerpunkte sind Englisch, Schulkulturentwicklung und Demokratiegestaltung.

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