Das Persönliche ist politisch!
Gibt es eine Therapieform ohne Therapeuten und Hierarchien? Die Antwort gibt die »Radikale Therapie«, die seit den 1960er Jahren entwickelt wird.
»Es passiert genau das, was ich will, wie ich es will, mit wem sich das passend anfühlt und solange ich mag. Alle Anwesenden bezeugen das, und dennoch sprechen nur die darüber, denen ich das gestatte. Radikale Selbstermächtigung.«
Alles, was da ist, darf sein. Das klingt luxuriös? Ist es auch. Hier ist ein Schutzraum, den wir füreinander halten, der uns trägt. Denn du bist okay – und ich bin okay.
Radikale Therapie – »RT« – ist selbstorganisiert und kostenlos: Finden sich genügend Menschen (etwa acht bis zwölf Personen) zusammen, werden in der Regel an zwei Wochenenden die wichtigsten Bestandteile des Konzepts in Theorie und Praxis von schon länger Praktizierenden vermittelt. Am Ende des zweiten Wochenendes schließt die Gruppe einen internen Kontrakt, der die Teilnahme an den wöchentlichen Sitzungen über ein Jahr definiert. Diese werden von jeweils zwei Teilnehmenden vorbereitet und geleitet, wobei die Leitungsfunktion wöchentlich rotiert.
Die Struktur der Sitzungen besteht aus mehreren Runden, welche sich mal auf das Gute und das Neue in unserem Leben beziehen, mal auf das, was uns aktuell bewegt. Eine Runde dreht sich darum, wie wir momentan empfinden, eine andere darum, was es organisatorisch zu tun gibt. Thematisiert werden auch die Unsicherheiten mit den anderen Teilnehmenden, gruppeninterner Groll oder die Anerkennung für uns gegenseitig und für uns selbst. Diese thematischen Rederunden stellen eine feste Vorgabe dar und sollten in jeder Sitzung durchlaufen werden.
Daneben können von den Leitenden Massagen, Spiele, Tanzen, Körperarbeit, Singen und Pausen eingeplant werden oder auf Wunsch der Teilnehmenden spontan Platz finden.
Alles, was in der RT stattfindet, geschieht mit der Unterstützung anderer und in einem definierten Zeitrahmen. Das gibt sowohl den Einzelnen als auch der Gruppe Sicherheit. Um einen vertrauensvollen Schutzraum zu schaffen, bedient man sich zudem einiger Regeln: In der RT sollten alle Achtsamkeit für sich selbst und für die anderen üben. Es gilt, wohlwollend zuzuhören und Seitengespräche zu vermeiden. Alle schenken sich selbst und einander ihre volle Aufmerksamkeit. Die Gruppe ist bemüht, wahrzunehmen, wenn eine Person nicht aufmerksam sein kann, und ihr Raum zu geben, über den Grund für die Ablenkung zu sprechen. Eigenverantwortung heißt hier, dass alle für sich selbst verantwortlich sind und selbst entscheiden, was gut für sie ist. Das Miteinander beruht auf Gleichberechtigung. Alle sind gleich wichtig und haben das gleiche Recht auf ein Stück der vorhandenen Zeit.
RT zu praktizieren, kann für Prozesse der Gemeinschaftsbildung jeglicher Art hilfreich sein, denn gerade im Alltag des miteinander Wohnens oder Arbeitens schenkt man sich oft gegenseitig nicht genug unabgelenkt Zeit.
Ein Raum ohne Hierarchie
Therapie ohne Unterdrückung meint: keine Bewertungen, keine Ratschläge, kein Zwang, keine Diskussion, keine verbale oder körperliche Gewalt. Sicherheit wird dadurch erzeugt, dass nichts, was während einer Sitzung geschieht, nach außen dringt. In der Radikalen Therapie spielt Verbindlichkeit eine große Rolle: Teilnehmende sind dazu aufgefordert, pünktlich zu sein und regelmäßig an den Sitzungen teilzunehmen.
Zu RT passen keine Drogen; es gibt deshalb keinen Kaffee und keinen Alkohol während der Sitzungen oder der Pausen. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass alle mit ihrer Aufmerksamkeit bei sich, ihren Gefühlen und den anderen Teilnehmenden sind.
Eine Teilnehmerin erzählt: »Es geht dabei um mich. Ich muss gedanklich nicht bei den anderen sein, wenn ich mit mir arbeite. Ich kann ich sein, und das ist in Ordnung. Wir pflegen einen wertschätzenden, ehrlichen, wohlwollenden Umgang – selbst in der Groll-Runde!«
Als Arbeitsgrundlage für RT dienen Skripte, welche die einzelnen Runden, Unterstützungsregeln, theoretische Grundlagen und ein wenig die Geschichte der Methode darstellen. Im Skript von »Frauen organisieren Radikale Therapie« (FORT) aus dem Jahr 1996 heißt es: »Die Radikale Therapie ist in den 1960er Jahren im Rahmen der Antipsychiatriebewegung in den USA entstanden. Kritisiert wurde, dass seelisch verletzte Menschen lediglich entmündigt, etikettiert und verwahrt werden. Im Gegenzug dazu basiert die RT auf der Grundhaltung der Humanistischen Psychologie. Ihr zufolge ist jeder Mensch in seinem Wesen konstruktiv, kreativ, intelligent und wertvoll – und somit selbst in der Lage, die eigenen Konflikte zu lösen und sich zu heilen. Es bedarf dafür jedoch der Zuwendung und Unterstützung durch andere. Mit RT wurde ein Selbsthilfe-Therapiekonzept erschaffen, das darauf ausgerichtet ist, die aktive Selbstheilung anzuregen und zu fördern.«
Traditionell findet RT in Frauengruppen (FORT) und Männergruppen (MRT) statt. Man geht davon aus, dass sich die Teilnehmenden wegen ihrer unterschiedlichen Gender-Sozialisation in zweigeschlechtlichen Runden weniger gut öffnen können. Jedoch gibt es auch gemischte Gruppen sowie »Trans*offene« und queere, in denen es Raum für Identitäten jenseits von Frau und Mann gibt. Manche verstehen sich explizit emanzipatorisch und politisch links stehend. 1976 entstand in den Niederlanden eine starke, von Feministinnen getragene FORT-Bewegung mit einem großen Netzwerk aus Selbsthilfegruppen, die eine modifizierte Form der amerikanischen RT verbunden mit »Co-Counseling« nach Harvey Jacksin und »Transaktionsanalyse« nach Erik Berne und Claude Steiner praktizierten. Etwas später gründeten sich in den Niederlanden auch MRT-Gruppen, und 1986 gelangte das Konzept nach Deutschland; inzwischen existieren sehr viele Gruppen. Seit 1992 findet jährlich ein bundesweites Ostertreffen mit Möglichkeiten zum Austausch und Workshops statt. Daneben gab es seit 2003 mehrere explizit linke MRT-Treffen und seit 2013 auch queere Treffen.
Wie wirkt RT? »Mir tut es richtig gut, zu sehen, dass ich mit meinen Themen nicht allein bin, dass auch andere Menschen ähnliche Ängste, Filme und Macken haben. Das lässt mich etwas wohlwollender mit mir – und dadurch auch mit anderen – umgehen.«
Mit Absicht wurde hier Wichtiges unkonkret gehalten, denn dieser Text soll keine Gebrauchsanweisung darstellen, mit der sich in Eigenregie experimentieren ließe. Er soll aber dazu ermutigen, RT auszuprobieren. •
Jascha Baruch (55), Soziologin, Cana Frühling (28), Psychologin, und Niko Mono (30), vielschichtig, leben in und um Berlin und nehmen an unterschiedlichen Gruppen, die regelmäßig Radikale Therapie praktizieren, teil.
Selbst radikal werden?
www.radikale-therapie.de
www.fort-frauen.de
www.mrt-gutesundneues.de
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