Revolutionäres Gemüse
Wie fühlt sich eine Wirtschaft jenseits des Wachstumszwangs an? Ein Forumtheaterprojekt machte sich auf den Weg, das Leben in diesem Gefühl zu erproben.
Wie ließe sich das Leben der Obdachlosen in Wien erleichtern? Zu dieser Frage hatte der Kulturwissenschaftler Wolfgang Zinggl im Jahr 1993 sieben Künstlerinnen und Künstler in das ehrwürdige Ausstellungsgebäude der »Wiener Secession« eingeladen. Der Platz vor der Galerie war ein stadtbekannter Treffpunkt von Menschen, die auf der Straße lebten.
Wenn die Politik kläglich scheitert, kann stattdessen eine künstlerische Intervention Missstände beheben? Zum Beispiel jenen, dass die Wohnsitzlosen ohne Meldeschein von der gesundheitlichen Grundversorgung ausgeschlossen sind? Das war keine leichte Frage. Sie verlangte nach Zeit, sich ihr in aller Ernsthaftigkeit zu widmen. Diese Zeit konnte Wolfgang Zinggl ermöglichen: Im Rahmen einer Ausstellung organisierte er einen Galerieraum in der Wiener Secession, die er mit seinen neugewonnen Mitstreiterinnen und Mitstreitern in ein Projektbüro umgestalten durfte. Von dort aus wollte die Gruppe ihre Visionen Wirklichkeit werden lassen: »11 Wochen in Klausur« hieß die erste Intervention – die Künstlergruppe »WochenKlausur« war geboren. In diesen elf Wochen, so das ehrgeizige Ziel, sollte eine mobile Ambulanz für Wiens Obdachlose aufgebaut werden. WochenKlausur gab in einer einschlägigen Ärztezeitung eine Annonce auf, und binnen weniger Tage meldeten sich 30 Bewerberinnen und Bewerber, die bereit waren, eine Zeitlang ehrenamtlich in einer fahrenden »Ordination« – wie in Österreich Arztpraxen genannt werden – tätig zu sein. Ein ausreichend großer Bus konnte über Sponsoring durch lokale Firmen erworben und umgebaut werden. Die Künstlergruppe taufte ihn auf den Namen »Louise«. 70 000 Euro und zahlreiche Materialspenden organisierte sie in ihren elf Wochen. Seither betreut die mobile Ambulanz monatlich mehr als 600 Patientinnen und Patienten, ohne Kosten für die Betroffenen.
In allen gesellschaftlichen Bereichen, seien es Ökologie, Wirtschaft, Stadtplanung oder soziale Aufgaben, gibt es Probleme, die auf herkömmlichen Wegen nicht lösbar erscheinen. Hier können Künstlerinnen und Künstler ansetzen, dürfen sie es sich doch erlauben, das Unmögliche möglich zu machen, statt sich von Sachzwängen beeindrucken zu lassen. Kunst kann mit ihren vielen Ebenen der Darstellung Wege bahnen oder den Fokus auf Herausforderungen richten, die leicht übersehen werden.
Diesen Ansatz machte sich die WochenKlausur zu eigen und fuhr – jeweils auf Einladung einer Kulturinstitution – mit ihrer Arbeit vor. In Zürich baute das Team eine Pension für drogenkonsumierende Frauen auf. In Civitella d’Agliano gründete WochenKlausur ein Café mit Bocciabahn für die älteren Bewohnerinnen und Bewohner. In Graz konnte sieben Asylsuchenden zum legalen Aufenthalt in Österreich verholfen werden. Mehr als 30 Projekte in immer wieder neu zusammengewürfelter Besetzung rund um ein Kernteam konnte das Kollektiv inzwischen verwirklichen und kam dabei bis Fukuoka, Stockholm und Chicago.
Wochen in Klausur – die Projekte setzen den vollen Einsatz der Künstlerinnen und Künstler für eine klar begrenzte Zeit voraus. Das bündelt die Energien, die normalerweise auf Monate verteilt werden.
Nicht immer tragen die politischen Entscheidungsträger die Interventionen mit. Die langfristige Finanzierung der Arbeit in der mobilen Ambulanz lehnte die Stadt Wien zunächst ab. Da bat WochenKlausur einen Korrespondenten des Magazins »Der Spiegel« darum, ein Interview mit der betreffenden Stadträtin zu führen und nachzufragen, wieso dieses sinnvolle Projekt nicht finanziell unterstützt werde. Negative Presse scheuend, lenkte sie ein.
Kreative Wege finden, um Gutes zu tun – das ist hohe Kunst. •
Wie fühlt sich eine Wirtschaft jenseits des Wachstumszwangs an? Ein Forumtheaterprojekt machte sich auf den Weg, das Leben in diesem Gefühl zu erproben.
»Vier Tage alleine in der Wildnis, fastend und ungeschützt. Nur ein Schlafsack als Unterschlupf. Eine dünne Isomatte und ein paar Plastikkanister voller Trinkwasser.« Das ist der Kern des Initiationsrituals, welches Geseko von Lüpke und Sylvia Koch-Weser in ihrem Buch
In der ehemaligen gotischen Kirche standen 23 Tische aus Sperrholzplatten bereit, darauf Wasserflaschen, Pappbecher, Stifte und Aufnahmegeräte. Jeden Tisch hüteten ein oder zwei Mitglieder lokaler Initiativen, darunter die Migrationsgruppe No Lager, der Umsonstladen Mimmis Tauschrausch