Die Lebensgeschichte von Marie des Brebis, aufgezeichnet von Christian Signol in seinem gleichnamigen Buch, kannte ich, bevor ich sie gelesen hatte. Meine 93-jährige Oma Else hat sie mir erzählt, während sie sich diesen Frühling von einer schweren Krankheit erholte und nach jedem Buchkapitel ein wenig gesünder wurde. Von ihr erfuhr ich, wie Marie 1901 als Findelkind von einem alten Schäfer aufgenommen wurde und unter die Schafe kroch, um Milch aus ihren Eutern zu trinken; wie sie nach dem Tod des Schäfers bei einer kinderlosen Bauernfamilie als Schafhirtin in Südfrankreich aufwuchs; wie sie im Ersten Weltkrieg um ihren zukünftigen Mann zitterte, ihn schließlich heiratete und ein bescheidenes Dorfleben führte; wie sich ihr erster Sohn im Zweiten Weltkrieg der Résistance anschloss und in den letzten Kriegstagen erschossen wurde; wie ihr zweiter Sohn Ingenieur und ihre Tochter Ärztin wurde und wie sie das Aussterben ihrer Dorfkultur erlebte. »Das Buch ist so schön, weil die Frau, von der es handelt, so lieb ist«, war Elses Resümee. »Deshalb musst du es auch lesen.« Diesen Wunsch habe ich ihr schließlich erfüllt und dabei der Qualität dieses »Liebseins« nachgespürt. Wie wenig wird sie heute gewürdigt; geradezu als altmodisch oder gar primitiv gilt es, wenn jemand »einfach nur lieb« ist – den Menschen, Tieren und Pflanzen in Dankbarkeit für alles Schöne in der Welt zugewandt, selbst nach traumatischen Erfahrungen. Christian Signol lässt Marie in der ersten Person erzählen: schlicht und direkt, ohne romantische Verklärung. Wie sie tatsächlich gesprochen haben mag, lässt sich hinter der Übersetzung des Autors erahnen – im Französischen sicherlich ungleich stärker als im Deutschen. So kam mir bei der Lektüre das Lebensgefühl ihrer Familie in dem einfachen Steinhaus im Dörfchen Couzou sehr nahe. Marie liebte die Einsamkeit der karstigen Anhöhen und Schluchten, wo sie fast ihr halbes Leben mit ihren Schafen verbrachte, genauso wie die Geselligkeit der Dorffeste oder der Waschtage – nur zwei im Jahr –, an denen sich die Frauen am schattigen Flussufer trafen, um sich gegenseitig beim Auswringen großer Laken zu helfen. Was wir heute »Wildniswissen« oder »Gemeinschaftserfahrung« nennen und in Kursen unterrichten, wuchs für sie aus ihrem alltäglichen Leben. Inzwischen kann ich verstehen, warum dies ein Buch zum Gesundwerden ist. Wir haben es bereits mehrfach verschenkt, und bisher hat es immer gewirkt.
Marie des Brebis Der reiche Klang des einfachen Lebens. Christian Signol Urachhaus 2014, 192 Seiten ISBN 978-3825175801 16,90 Euro
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