Titelthema

Fass ohne Boden

Oya-Redakteur Jochen Schilk sprach mit dem Wiener Autor und Filmemacher Rudi Palla über die Hintergründe seines Buchs »Verschwundene Arbeit«.von Jochen Schilk, Rudi Palla, erschienen in Ausgabe #33/2015
Photo
© pivat

Herr Palla, beim Studium Ihrer Bücher über alte Berufe habe ich mich gefragt, wie Sie all diese Informationen recherchiert haben. Einige Einträge sind ja sehr detailliert, ich denke da zum Beispiel an den Landkartenmaler, über den ich sieben Seiten lang enorm Interessantes erfahren konnte.

Sehr schwierig war die Recherche eigentlich nicht. Es gibt doch ziemlich umfangreiche Literatur zu den verschiedenen Berufen. Ich bin vor allem in die technischen ­Museen in Wien, München, Berlin und Hamburg gegangen und habe dort nach ­Literatur und sonstigen Quellen gesucht. Freilich war es langwierig; für »Verschwundene Arbeit« habe ich mir zwei Jahre Zeit genommen.

Was hat Sie als Filmemacher an diesem Thema fasziniert?

Mein erstes Studium war Maschinenbau. Erst danach bin ich auf die Hochschule für Film und Fernsehen gewechselt. Durch den Maschinenbau habe ich eine Liebe zu Material und Werkzeugen entwickelt. An altem Handwerk fasziniert mich die unglaublich große Kenntnis der Materialien und Verarbeitungstechniken. Für das Buch war ein Gedicht von Hans Magnus Enzensberger ausschlaggebend: »Die verschwundene Arbeit«. Als ich ihn einmal zufällig in Wien traf, haben wir darüber gesprochen. Er fragte mich: »Wollen Sie nicht ein Buch über verschwundene Arbeit schreiben?« Zuerst war ich skeptisch; ich hatte das Gefühl, das sei ein Fass ohne Boden. Aber letztlich habe ich mich doch entschlossen, das Buch zu schreiben – im Bewusstsein, dass es nie vollständig sein würde, sondern immer nur ein Bruchstück aus dem Kosmos menschlicher Fertigkeiten abbilden kann.

Der Brandstätter Verlag hat das Buch im vergangenen Jahr neu aufgelegt. Das Inter­esse daran ist also seit der Erstausgabe vor 20 Jahren noch nicht erloschen. Haben Sie in der Zwischenzeit weiteres Material zusammengetragen?

Nein, der Verlag und ich haben uns entschlossen, nur ein neues Vorwort und Illustrationen zu ergänzen. An den kontinuierlichen Verkäufen sehe ich, dass sich Menschen immer noch für die alten Berufe interessieren.

In unseren Zusammenhängen allerdings fragen wir uns, was mit der gegenwärtigen Fremdversorgungsgesellschaft passiert, wenn bestimmte Säulen, von denen sie gestützt wird, wegbrechen: zum Beispiel die Versorgung mit billiger Energie. Welche heute verschwundenen Berufe würden dann wohl als erste wieder reaktiviert werden?

Leider wird es mit dem Erdöl nicht so bald zu Ende sein. Heute gräbt man in der Tiefsee, was sehr gefährlich ist. Sollte es zu Versorgungskrisen kommen, wird geschehen, was in der Geschichte immer geschehen ist, wenn ein Werkstoff rar wurde: Die Menschen weichen auf andere Stoffe aus, entwickeln neue Tätigkeiten und Fähigkeiten. Das Schöpferische im Menschen wird ja nicht erlöschen; insofern habe ich hier keine große Sorge.

In verschiedenen Ländern der west­lichen Welt gibt es Bewegungen, wo sich Menschen fragen, wie sie ihren Stadtteil oder ihre Region zukunftsfähig machen können – weniger abhängig von einer Zuliefer-Industrie aus aller Welt. Sie möchten auch ohne Not wieder mehr Produkte handwerklich aus regionalen Ressourcen herstellen.

Auch in Österreich kümmern sich immer mehr Menschen um den regionalen Anbau von Lebensmitteln. Mit der Selbstversorgung in den großen Städten wird es allerdings schwierig, alles ist zubetoniert. Doch es ist wichtig, an diese Dinge zu denken. Die Naturzerstörung schreitet ja rasant vor­an. Gerade schreibe ich ein Buch über die erste deutsche Tiefsee-Expedition im Jahr 1898/99. Damals waren die Meere ökologisch noch einigermaßen intakt. Im letzten Kapitel beschreibe ich die Zerstörung des Lebensraums Meer, da stellen sich bei mir alle Haare auf! Gestern habe ich gelesen, dass die USA dem Energiekonzern Shell erlaubt haben, im Polarmeer vor der Küste Alaskas nach Öl zu bohren …

Genau diese ausbeuterische Industrie wollen viele Menschen nicht mehr, so dass sie sich wieder dem Handwerk und dem Selbermachen zuwenden. Ich denke aber, dass sich nur wenige einen Begriff davon machen, wie anstrengend diese Arbeit ist.

Ja, traditionelles Handwerk bedeutete früher Knochenarbeit, die oft mit Krankheiten und Tod verbunden war. Ich denke zum Beispiel an einen ganz harmlos wirkenden Beruf, den des Hutmachers. Die Hutmacher haben ihre Appreturen mit Quecksilber versetzt und den ganzen Tag diese Dämpfe eingeatmet – so sind sie schlichtweg verrückt geworden. Oder die Lederer, die in ewigem Gestank arbeiten mussten. Auch Flößer zu sein, war hochgefährlich, viele sind ertrunken oder vom Holz erschlagen worden. Ich könnte reihenweise Berufe aufzählen, die lebensgefährlich waren.

Heute verunglücken Menschen, die Hüte herstellen, in den Kleiderfabriken in Bangladesch. Gefährlich ist vielleicht weniger der Beruf an sich – vielmehr sind es die politischen Umstände, unter denen die Tätigkeit ausgeführt wird. Mangelnde Sicherheitsvorkehrungen sind oft den Herrschaftsverhältnissen geschuldet. Wenn wir uns lebensfreundliches Handwerk in der Gegenwart vorstellen, würden sich die Arbeitsbedingungen sicherlich von denen der Vergangenheit unterscheiden. Kennen Sie ein traditionelles Handwerk, das in Ihren Augen für »gutes Leben« in der Gegenwart steht?

Da fallen mir die Bootsbauer an unseren Seen ein – hochspezialisierte Leute, die Boote aus Holz bauen. Sie haben sehr viel Wissen über ihr Material und arbeiten mit hoher Präzision. Voriges Jahr habe ich einen solchen Bootsbauer im Salzkammergut besucht. Es war faszinierend, ihm zuzuschauen. Wer heute so ein Boot besitzt, kann stolz darauf sein.

Wer kauft diesen Handwerkern denn heutzutage ihre Arbeiten ab?

Die meisten Fischer an den Seen nutzen so ein Boot; auch die Hotels, die damit Ausfahrten für Touristen anbieten. Die Bootsbauer erfinden keine neuen Formen, sondern bauen, was sich lange bewährt hat – was schon der Großvater so hergestellt hat. Solches Handwerk ist für mich wirklich nachhaltig, es ersetzt Schiffe aus glasfaserverstärktem Kunststoff. Plastik ist schlicht eine Katastrophe. Wir können uns gar nicht vorstellen, welche Mengen davon täglich in die Weltmeere gelangen.

Auch einige Handwerksberufe haben die Umwelt vor 300 oder mehr Jahren schon strapaziert. An welche denken Sie da insbesondere?

An die Färbereien, die die Flüsse so verpestet haben, dass die Fische farbiges Fleisch bekamen; und an die Köhlerei oder die Betriebe zur Glasfabrikation, die ganze Wälder für die Herstellung von Holzkohle verbraucht haben. Mein Vater war Schriftsetzer. Selbst in seinem Gewerbe gab es giftige Stoffe; er hat immer Milch gegen die Bleivergiftung getrunken. Als umweltfreundlich fällt mir am ehesten das Weben und Spinnen ein. Dort war die Schattenseite eher die Ausbeutung der Menschen. Die Weber gehörten ja einem niederen Stand an, der extrem ausgebeutet wurde; man denke an die diversen Weberaufstände.

Wie können wir Ihrer Meinung nach dafür sorgen, dass wesentliches Handwerkswissen lebendig bleibt?

Selbstverständlich ist vieles verlorengegangen, aber ich denke, wer wirklich etwas lernen möchte, kann es sich wieder aneignen. Wenn der Bootsbauer im Salzkammergut seine Zillen baut – das sind die für diese Gegend typischen flachen Boote mit spitzem Bug –, kann jemand zu ihm in die Lehre gehen und die Tradition weitertragen.
Das Wissen aus Büchern zu rekonstruieren, ist freilich erheblich schwieriger. Das Interesse an meinem Buch kommt, so meine ich, größtenteils aus Nostalgie, aber auch aus einer Sehnsucht danach, mit den Händen etwas schaffen zu können. So schwierig die Arbeit früher war, so hat sie doch sicherlich auch ein Gefühl von Zufriedenheit mit sich gebracht, wenn jemand sein fertiges Werkstück betrachtet hat. •


Rudi Palla (74) studierte am Technologischen Gewerbemuseum in Wien Maschinenbau und später an der Filmakademie Wien. Er ist Gründungsmitglied des »Syndikats der Filmschaffenden Österreichs«. Seine Filme und Bücher behandeln Kunst im öffentlichen Raum, die Arbeiterbewegung, Pädagogik, Narren, Natur, Schamanen und vieles mehr.


Buchbesprechung:

Was gibt es nicht alles zu tun!
In vielen Diskussionen über eine Wirtschaft, die nicht mehr wächst, hört man das Schlagwort »Deindustrialisierung«. Dabei breitet sich oft das ungute Gefühl aus, niemand wisse so recht, wovon da die Rede sei. Ein Blick in das Buch »Verschwundene Arbeit« kann Abhilfe schaffen. Es ist spannend, dieses Lexikon von A wie Ameisler über F wie Feilenhauer, M wie Mühlenbauer, S wie Schwammstoffkrämer bis Z wie Zinngießer nicht nur mit historischem Interesse zu lesen, sondern mit der Frage, welche schon damals ausbeuterischen Tätigkeiten im Mottenschrank der Geschichte bleiben dürfen und welche vielleicht einen zukunftsfähigen Beruf in einer sich gesundschrumpfenden Ökonomie abgeben könnten. Möchten Sie zum Beispiel Siebmacherin werden und damit ein Gewerbe aus dem 13. Jahrhundert wiederbeleben? »Die Haarsieber flochten Siebböden aus Pferdehaaren, aber auch aus Draht und aus Holz, die zum Durchsieben von Farben, Mehl, Gries, Gips, Schießpulver, Gewürzen und Apothekenwaren sowie auch als Formen für Papiermacher dienten«, erklärt Rudi Palla. Haben Sie schon einmal über ein regional gefertigtes Küchensieb nachgedacht? Solche Gedankenexperimente rufen oft die klassische Ablehnungsfloskel »Wir können doch nicht ins Mittelalter zurück!« hervor. Ja, völlig richtig – beruhigen Sie diesen Gedanken wie einen kleinen Hund, der jetzt mal still unter dem Stuhl sitzen soll. Und dann lesen Sie weiter und erlauben sich versponnene Ideen: Verbinden Sie beispielsweise den Ölmüller, den Leimsieder, den Blechschmied oder welchen anderen Beruf auch immer Sie bemerkenswert finden, mit zukunftsfähigen Strategien, wie ökologischem Stoffstrom-Management, solidarischen Finanzierungsmodellen, Upcycling etc. Um das Dogma aufzubrechen, eine erstrebenswerte Zivilisation sei genau das, was wir heute in der westlichen Welt vorfinden, ist buntes Spielmaterial für visionäre Gedankenausflüge ­äußerst nützlich! ◆ LM

Verschwundene Arbeit
Das Buch der untergegangenen Berufe.
Rudi Palla
Brandstätter Verlag, Neuauflage 2014, 272 Seiten
ISBN 978-3850338264
35,00 Euro

weitere Artikel aus Ausgabe #33

Photo
Gemeinschaftvon Simone Thalheim

Gewaltfreie Kommunikation und ihr Nutzen in Gemeinschaften

In vielen Gemeinschaften haben sich über die Jahre egalitäre und achtsame Kommunikationsstile entwickelt. Seit langem stellt die »Gewaltfreie Kommunikation« (GfK) nach Marshall Rosenberg grundlegende Methoden zur Verfügung, die – auch in vielfältigen Abwandlungen – zum ­Basiswissen lebendiger Gemeinschaften gehören.

Photo
von Maria König

Beständig frei im Sattel

André Maetzel ist Sattler, Seiler, Tüftler und Lebenskünstler. Seit frühester Kindheit begleiten ihn die Pferde und die Kunst, das Leben – der eigenen Triebkraft folgend – frei und selbstbestimmt zu gestalten. Auf seine eigene Art eignete er sich das ­Sattler- und das Seilerhandwerk an und trug viele Jahre mit einem Handwerksstand zur Inszenierung von Mittelaltermärkten bei. Heute ermöglicht der 41-Jährige interessierten Menschen eine authentische ­Begegnung mit seiner Handwerkskunst ohne Verkleidung und Verklärung.

Photo
von Alex Capistran

Heiße Blasen

Alex Capistran fuhr an die bayerisch-böhmische Grenze, wo in der beeindruckenden Halle der Glasbläserei Lamberts Fensterglas noch auf die alte Art und Weise hergestellt wird.

Ausgabe #33
Überlebenswichtig

Cover OYA-Ausgabe 33
Neuigkeiten aus der Redaktion