Bildung

Da schmeckt sogar Mangold!

Schülerinnen und Schüler gärtnern auf ihrem Acker.von Christiana Henn, erschienen in Ausgabe #33/2015
Photo
© www.ackerdemia.de

Die Tatsache, dass derzeit ein Drittel unserer Nahrungsmittel auf dem Müll landet, hat sicherlich auch mit der weitverbreiteten gesellschaftlichen Entfremdung von landwirtschaftlichen Prozessen zu tun. Der urbanisierte Mensch hat kaum eine Beziehung zur Natur. Ihm fehlt das Wissen darüber, wie »grüne« Lebensmittel auf eine für Mensch und Natur förderliche Weise angebaut werden können und wieviel Einsatz dies erfordert. Unser Anliegen ist, anknüpfend an die alte Tradition der dörflichen Schulgärten diesem Mangel entgegenzuwirken. Der gemeinnützige Verein Ackerdemia hat dafür das Bildungsprojekt »GemüseAckerdemie« ins Leben gerufen. Schulen haben für einen Garten nur selten Platz, so unterstützen wir sie bei der Suche nach geeigneten Flächen für einen Gemüseacker und beraten sie bei dessen Einrichtung, beim Bestellen von ökologischem Saatgut sowie bei Aussaat und Bepflanzung. Dazu bieten wir Lehrern und ehrenamtlichen Mentoren Kurse zur Fortbildung an und versorgen sie für ihre Arbeit mit Materialien und dem erforderlichen Hintergrundwissen. Zusätzlich sprechen wir die Schüler unterschiedlichen Alters persönlich über ihre Interessen an – beispielsweise über ein Online-Ackerspiel, in dem die Kinder ihr Wissen testen können, und über einen Blog, wo sie über ihre Erfahrungen schreiben und Fotos hochladen können, etwa von ihrer größten Möhre oder dem längsten Regenwurm.
Viele Kinder in der Stadt haben kaum Bezug zur Natur. Sie wissen nicht, woher ihr Gemüse kommt und wie wichtig es für unsere Ernährung ist, und viele konnten noch nie in der Erde wühlen. Doch während der zwanzig Wochen, über die sich ein GemüseAcker-Projekt erstreckt, verlieren die Schülerinnen und Schüler bald den Ekel vor Regenwürmern und legen mit der Zeit auch die Sorge ab, sich die Hände schmutzig zu ­machen. Es ist leicht, das Interesse der Kinder für die Natur zu wecken. Ihnen Zugang zu Erde, Tieren und Pflanzen zu verschaffen, reicht bereits aus.


Wie schmecken blaue Kartoffeln?
Im Rahmen unserer GemüseAckerdemie haben die Kinder mindestens zwei Stunden pro Woche Zeit für die Gartenarbeit, wobei sie viel Neues entdecken. Zu Beginn erforschen sie, was sich auf ihrem Acker im Vergleich zur vorherigen Woche getan hat. Sind einige Gemüsepflanzen besonders stark gewachsen? Warum ist das so? Da lassen einige die Köpfe hängen. Sind Schädlinge am Werk? Was tun? So lernen sie, was die Kleinstlebewesen in der Erde bewirken, welchen Einfluss das Wetter auf ihre Pflanzen oder auf die Schädlinge hat, welches Gemüse wie gepflegt werden will und wann es erntereif ist. Jedes Kind kann auf dem Schul­acker seinen persönlichen Interessen folgen. Da sie sich in kleinen Teams für eine Parzelle des Ackers zusammen­tun, lernen die Kinder in der Praxis Kooperation und Verantwortlichkeit. Wenn sie dann zum Beispiel darüber staunen, dass eine Möhre bis zu 26 ­Wochen benötigt, bis sie erntereif ist, fördert das auch ihr Verständnis für organisches Wachstum.
Haben die Schülerinnen und Schüler von April bis Oktober ihr eigenes Gemüse angebaut und es selbst verarbeiten oder verkaufen dürfen, haben sie – fast nebenbei – die gesamte Wertschöpfungskette kennengelernt, von der Aussaat bis zur Vermarktung. So gewinnen sie ein tieferes Bewusstsein für gesunde Ernährung und den Wert unserer Nahrung. Eine Lehrerin berichtete begeistert, wie ein Schüler sein Pausenbrot aufklappte, ein Salatblatt vom Schulacker pflückte, es auf seinen Aufschnitt legte und genüsslich hineinbiss. »Wenn man in den Laden geht und Gemüse kauft, denkt man gar nicht darüber nach, wieviel Arbeit die Bauern damit haben, das zu ernten«, stellte ein Mädchen aus Nordrhein-Westfalen nach seiner ersten Ackersaison fest.
Die Kinder stören sich nicht daran, dass ihr Gemüse optisch oft nicht den Vermarktungsnormen der EU entspricht. Es kann ihnen gar nicht verrückt genug aussehen, wie etwa die blauen Kartoffeln, die gelben Tomaten oder Mangold mit regenbogenfarbenen Stielen. In einer Schule in Kreuzberg wurden dieses Jahr an die 15 verschiedene Kartoffelsorten gepflanzt. Als in einer Projektgruppe das Gespräch darauf kam, dass in der GemüseAckerdemie ausschließlich ökologisch gedüngt wird, wobei alles prächtig gedeiht, staunte ein Schüler aus Berlin: »Ich hätte nie gedacht, dass unser Gemüse, obwohl es nie gespritzt wurde, so groß wird wie das im Supermarkt.«
Sehr gerne nehmen die Eltern das Gemüse ab. Eine Mutter meinte dazu: »Mein Sohn hat danach Sorten gegessen, die er vorher ablehnte, wie etwa Mangold. Nachdem wir es gemeinsam zubereitet haben, hat es ihm durchaus geschmeckt. Schon alleine das ist ein Erfolg.« Weitere Kunden sind die Schulmensa, das Lehrerkollegium und die Nachbarn.
Nach dem Start des Bildungsprogramms 2014 in Berlin, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen ist 2015 auch Niedersachsen mit von der Partie. Insgesamt beteiligen sich dieses Jahr 19 Bildungseinrichtungen – vornehmlich Schulen, aber auch Kindertagesstätten und ein Sportverein – an der GemüseAckerdemie. Für 2016 sind eine bundesweite Ausdehnung und die konzeptionelle Erweiterung geplant. Vielleicht wird es bald selbstverständlich sein, dass jede Schule ihren Gemüsegarten hat. •

 

Christiana Henn (26) ist für die Betreuung der Acker-Schulen in Berlin und Brandenburg zuständig. Sie ist fasziniert von der Neugier der Kinder auf dem Acker, ihrem Teamgeist und den leuchtenden Augen bei der Ernte.

Der Ackerdemia e. V. freut sich über jeden neuen Kooperationspartner:
www.gemüseackerdemie.de

weitere Artikel aus Ausgabe #33

Photo
Bildungvon Irmgard Wutte

Selbstvertrauen stärken

Spenden können Lebensbedingungen in Slums nicht wirksam verbessern, solidarökonomische Netzwerke hingegen sehr. Schülerfirmen helfen bei der Gründung.

Photo
von Sabrina Blaesing

Geht es ohne Erziehung? (Buchbesprechung)

Die Frage, ob es auch ohne Erziehung gehe, stellt Eberhard Schulz, Sozialpädagoge und Theaterthera­peut, nicht nur sich selbst, sondern auch seinen Leserinnen und Lesern. Für seinen »Versuch einer Verständigung« zieht er zahlreiche Geschichten und Zitate namhafter

Photo
von Johannes Heimrath

So einfach ist es nicht!

Ich besaß mal einen kleinen Hobel, einen sogenannten Kantenbestoßhobel, mit dem man die Kanten von Massivholzbrettern und sogar von furnierten Platten mit einer extrem feinen Fase brechen konnte. Fase? Das ist eine schmale Abschrägung im Winkel von 45 Grad zu den

Ausgabe #33
Überlebenswichtig

Cover OYA-Ausgabe 33
Neuigkeiten aus der Redaktion