Buchtipps

Schmerz (Buchbesprechung)

von Beata Seemann, erschienen in Ausgabe #33/2015
Photo

Das Thema des Buchs »Schmerz. Eine Befreiungsgeschichte« von Harro Albrecht lässt aufhorchen. Es gibt nur wenige Dinge, die die Menschen derart übergreifend betreffen wie das Erleben von Schmerzen. Auf mehr als 600 Seiten wird das Thema Schmerz auf verschiedenste Weise ausgelotet.
Zu Beginn stellt der Autor diverse Aspekte und Qualitäten von Schmerz vor: eine unüberschaubare Komplexität von Prozessen, denen die Wissenschaft nach wie vor ziemlich ratlos gegenübersteht. Die Erfindung unterschiedlichster Schmerzmittel sowie ihre Wirkungsweisen werden anschließend gut verständlich geschildert – etwas, das man schon immer mal verstehen wollte –, doch es stellt sich heraus, dass die Suche nach dem optimalen Wundermittel bislang immer wieder in der Sackgasse endete. Vom Phantomschmerz bis zur chronischen Schmerzpatientin, von den Anfängen der Narkosetechnik bis zur Palliativklinik zeigt das Buch spannende Zusammenhänge, die immer wieder durch geschichtliche Bezüge und interessante Fallbeispiele veranschaulicht werden.
Sehr erhellend ist auch der detaillierte Abriss über die Geschichte des Schmerzes und dessen unterschiedlicher Sinngebung im Lauf der Jahrhunderte – von der gemeinschaftlichen Akzeptanz als »gottgegeben« über das Verständnis des Schmerzes als »Räderwerk« einfacher Ursache-Wirkungs-Mechanismen bis zum Anspruch, den Schmerz mit Hilfe von Medikamenten einfach »ausknipsen« zu können.
Die moderne Forschung lässt immer kompliziertere physiologische Zusammenhänge des Schmerzgeschehens erkennen, aber auch Details, die über rein materialistische Lösungen hinausweisen. Es zeigt sich zunehmend deutlich, dass das Schmerzempfinden eng mit verinnerlichten Werten und Bewertungen, mit Emotionen sowie sozialen Bezügen verknüpft ist und somit offensichtlich mit Lernprozessen zusammenhängt – eine Erkenntnis, die ermutigende Aspekte enthält, vor allem für die Vielzahl von Menschen, denen Tabletten nicht (mehr) helfen.
»Die Medizin ist Teil der Gesellschaft, und ihre ­Praxis spiegelt die aktuellen Werte einer Gesellschaft wider«, schreibt der Autor. In diesem Sinn ist das Buch eine reiche Fundgrube, die einen Paradigmenwechsel in der Beziehung zum Schmerz geradezu ­herausfordert. An den hochkomplizierten wie spannenden Inhalten gemessen, ist es verhältnismäßig leicht zu lesen; zudem enthält es ein umfangreiches Literaturverzeichnis, das zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema animiert – eine sehr empfehlenswerte und lohnende Lektüre. ◆ 
 

Schmerz
Eine Befreiungs­geschichte.
Harro Albrecht
Pattloch, 2015
608 Seiten
ISBN 978-3629130389
24,99 Euro

weitere Artikel aus Ausgabe #33

Photo
Bildungvon Irmgard Wutte

Selbstvertrauen stärken

Spenden können Lebensbedingungen in Slums nicht wirksam verbessern, solidarökonomische Netzwerke hingegen sehr. Schülerfirmen helfen bei der Gründung.

Photo
von Veronika Bennholdt-Thomsen

Buen Vivir (Buchbesprechung)

Alberto Acosta, Professor für Wirtschaftswissenschaften in Quito, ist in Deutschland durch seine Auftritte und Beiträge zur wachstumskritischen Debatte gut bekannt. Von 2007 bis 2008 war er Präsident der verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors, durch die das entwicklungskritische,

Photo
Gesundheitvon Johannes Heimrath

Bürgermeister sind so wichtig wie Ärzte

Ellis, was sind deine Einschätzungen und Wünsche in Bezug auf das neue Gesundheitsförderungsgesetz?Ich weiß aus meiner politischen Erfahrung, dass die Welt nicht von Gesetzen, sondern von Menschen geändert wird. Das Geld vom Staat für Prävention wird auch nach

Ausgabe #33
Überlebenswichtig

Cover OYA-Ausgabe 33
Neuigkeiten aus der Redaktion