Was für ein packender Reisebericht! Dreißigjähriger, preisgekrönter Journalist von F.A.Z. und Süddeutscher Zeitung besucht im reichlich kühlen Sommer 2010 lauter Menschen, »die ein einfaches Leben wagen«: Das Selbstversorger- und das Mittelalterpärchen, den Waldschäfer, den auf Gastronom umgesattelten Ex-Banker von Lehman Brothers, den Hausbootbewohner sowie den Barden aus dem Zirkuswagen oder auch Pavlik, den Elfen, einen jungen Mann, der ganz auf den Gebrauch von Geld verzichtet, und mit dem er zwei Tage lang obdachlos durch München streift. Autor Jan Grossarth – er war mir bereits ein Begriff durch seine F.A.Z.-Reportage über den Muskelkraft-Selbstversorger-Bauern »Gottfried der Habenichts« (einfach googeln, Bilderserie ansehen nicht vergessen!) – klopft aber auch an die Türen von Gemeinschaften: So ist er jeweils für einige Tage zu Gast in einem Kölner Kloster, in einer Kommunität von Jesuiten-Novizen in Nürnberg sowie bei mehreren – der aufmerksamen Oya-Leserin nicht unbekannten – Gemeinschaften und Ökodörfern. Das Reizvolle an der Sache ist dies: Jan Grossarth ist ein aufgeschlossener Bildungsbürger, ein »Normalo«. Die Lebenswelten, die Weltsichten seiner – aus dem bürgerlichen Blickwinkel oftmals reichlich schrillen – Gastgeber sind ihm bei allem Wohlwollen zunächst einmal ziemlich fremd. Er weiß wenig von Peak Oil oder Esoterik, er ist weder ein gärtnerndes Landei noch praktizierender Christ, und so prallt Grossarth häufig irgendwie unvorbereitet auf mehr oder weniger radikale Aussteiger-Lebenskonzepte. Der Reisebericht ist, wie sollte es anders sein, stark subjektiv verfasst: Der Autor lässt nicht nur die Exoten von nebenan zu Wort kommen, er teilt immer auch die eigenen Gefühle, Gedanken und Erkenntnisse mit. Diese Prozesse als Leser mitzuerleben, macht Spaß: Seine in zahlreichen Begegnungen gewonnenen Bewusstseinserweiterungen, aber auch das ständige Wundern über Absonderlichkeiten und Widersprüche seiner Feldforschungs»gegenstände«, die Grossarth jeweils mit feiner Ironie kommentiert, führen regelmäßig zu schöner Heiterkeit. Dazwischen reflektiert er seine Selbstversuchs-Reiseerlebnisse anhand von Michel Foucaults Überlegungen zum Verhältnis von Wahnsinn und Vernunft, die sich dem Philosophen zufolge gegenseitig bedingen. »Schnell zu sagen, irgendwas sei verrückt«, schreibt Grossarth angesichts einer weiteren schwerverständlichen alternativen Weltsicht auf seiner Tour, »war eine sehr bürgerliche und bequeme Lösung, auf diesen Reflex wollte ich auf meiner Reise verzichten.«
Vom Aussteigen und Ankommen Besuche bei Menschen, die ein einfaches Leben wagen. Jan Grossarth Riemann, 2011 320 Seiten ISBN 978-3570501238 18,95 Euro