Die Kraft der Vision

Fordernde Allmende

Was uns der Weg zu einer gemeingüterbasierten Wirtschaft abverlangt.von Elinor Ostrom, erschienen in Ausgabe #10/2011
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Die meisten Menschen verbinden mit Gemeingütern (englisch: commons) ­Ressourcen, die wir gemeinsam nutzen: Bewässerungssysteme, Fischbestände, Weideflächen oder Wälder. Fehlen klare Vereinbarungen für den Umgang mit solchen Ressourcen, so laufen sie Gefahr, übernutzt, überweidet und ausgeplündert zu werden. Viele denken auch, bei Gemeingütern ginge es um gestrige Formen gemeinschaftlicher Selbstorganisation und Selbstverwaltung von natürlichen Ressourcen. Die Gemeinschaften, von denen dann die Rede ist, bekommen aus dieser Perspektive einen archaisch-exotischen Zug. Andere glauben, Commons würden allmählich verschwinden – wie Relikte, die durch moderne Institutionen ersetzt werden. Doch auch heute existieren und gedeihen zahlreiche Commons-Institutionen. Dabei geht es beileibe nicht nur um die Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen: Auch das Internet ist ein Gemeingut. Die Allmende ist aktuell und keineswegs nur von historischem Interesse.
Politikerinnen und Politiker neigen dazu, die Marktordnung nach Adam Smith für alle privaten Güter und den Hobbes’schen »Leviathan« – den wir heute als »souveränen Staat« kennen – für alle gemeinschaftlich genutzten Güter zu empfehlen. Doch diese Gegensätze – privat gegen öffentlich, Markt gegen Staat – greifen zu kurz. Das Denken in Gegensätzen rührt auch daher, dass sich die politische Ökonomie gespalten hat: in die Politik- und die Wirtschaftswissenschaft. Wissenschaftliche Spezialisierung bringt gewisse Vorteile, aber Überspezialisierung birgt Gefahren. Zum bedauer­lichen Erbe dieser Überspezialisierung gehört auch, dass in der Politik weitreichende Vorschriften gemacht werden, die oft auf sehr stilisierten Vorstellungen über die Wirkmächtigkeit von Institutionen beruhen.
Selbstverwaltung als Schlüssel zu Gemeingütern
Lokale, selbstorganisierte Institutionen sind ein wichtiger Bestandteil des Institutionengefüges einer Gesellschaft, und ich bin davon überzeugt, dass es sie auch im 21. Jahrhundert geben muss. Viele Institutionen ­indigener Gemeinschaften haben bewiesen, dass sie es den einzelnen ermöglichen, ­Gemeinressourcen über lange Zeiträume hinweg sehr intensiv zu nutzen. ­Einige überdauerten Jahrhunderte, manche Jahrtausende, ohne die empfind­liche Ressourcenbasis zu zerstören, auf die die Menschen angewiesen sind.
Im Namen der Umwelt haben internationale Geber, Nichtregierungsorganisationen, Regierungen und Hilfsorganisationen vieles auf den Weg gebracht – und dabei oft unwissentlich jenes Sozialkapital der Nutzer zerstört, das entscheidend für den Erhalt natürlicher Ressourcen ist: Beziehungsnetze, Normen, Wissen und Vertrauen. Der Schutz der biologischen Vielfalt darf aber nicht die Zerstörung institutioneller Vielfalt zur Folge haben. Wir müssen deshalb noch viel mehr über die enorme Vielfalt von Regeln in Erfahrung bringen, die sich Menschen über Jahrhunderte in aller Welt und unter verschiedensten Bedingungen erarbeitet haben, um lebenswichtige Ressourcen schützen.
Ein robuster Gemeingutsektor ist von enormer Bedeutung für unser Leben. Wenn wir keine Wege finden, die Verfasstheit der Gemeingüter zu verbessern, wenn wir nicht lernen, besser mit unseren kollektiven Ressourcen umzugehen, dann werden fehlende Commons-Institutionen im 21. Jahrhundert zu tiefgreifenden sozialen und wirtschaftlichen Problemen führen. Noch einmal: Commons-Institutionen sind keine Relikte der Vergangenheit. Je mehr wir über sie lernen, umso besser können künftige politische Entscheidungen auf der Kraft der Gemeingüter aufbauen und Fehler der Vergangenheit vermieden werden. Dabei hilft zunächst ein Abgleich der üblichen Modelle und Metaphern mit dem, was im Leben wirklich geschieht. Feldstudien in aller Welt belegen, dass lokale Nutzergruppen, alleine oder mit Unterstützung von außen, vielfältige Regeln für die kooperative Nutzung ihrer Ressourcen entwickeln.
In zahlreichen Studien über nepalesische Bewässerungssys­te­me konnten wir beispielsweise zeigen, dass Anlagen, die von den Bauern selbst errichtet und gepflegt werden, im Durchschnitt besser in Schuss sind und mehr Wasser für die Landwirtschaft liefern als jene, die staatlich verwaltet werden. Auch die Wasserzuteilung ist in den traditionellen, selbstverwalteten Zusammenhängen gerechter als in moderneren, von Behörden kontrollierten Systemen. Wie ist es möglich, dass »primitive« Bewässerungssysteme eindeutig mehr leisten als moderne? Immerhin wurden letztere durch unverwüstbare Stahlbeton-Konstruktionen stabilisiert, wurden durchfinanziert und von professionellen Ingenieurbüros gebaut. In den selbstverwalteten Bewässerungsanlagen bestimmen die Ressourcennutzer, also die Bauern, ihre Regeln selbst. ­Diese selbstbestimmten Regeln können für Außenstehende nahezu unsichtbar sein, vor allem, wenn sie von den Nutzern sehr gut angenommen werden. Sie halten sie dann einfach für nicht weiter bemerkenswert.
Akademiker, Entwicklungspolitiker, Geldgeber, internationale Organisationen, Regierungen und die Bürger selbst müssen sich immer wieder vor Augen führen: Keine Regierung der Welt kann die ganze Palette an Wissen, Instrumenten und Sozialkapital entwickeln, die nötig ist, um nachhaltige Entwicklungsprozesse zu fördern. All diese Dinge müssen ständig an die kulturellen und ökologischen Verhältnisse vor Ort angepasst werden. Das ist eine gewaltige Aufgabe, weshalb ich Folgendes zu behaupten wage: Jeder noch so umfassende Maßnahmenkatalog, der in einem großen Territorium Anwendung finden soll, ist zum Scheitern verurteilt. Denn großräumige Gebiete haben immer ökologische Nischen. Die Bedingungen innerhalb solcher Territorien können stark variieren.
Eine wesentlich erfolgreichere Strategie ist es, die Fähigkeiten der Menschen zur Selbstorganisation und Kooperation zu stärken. Es sind nämlich die Nutzer selbst, die vor Ort den besten Einblick in die konkreten Bedingungen haben. Dieses Vorgehen ist sinnvoller, als nach theoretisch optimalen institutionellen Lösungen zu suchen.
Gemeingüter brauchen Institutionen
Der Staat kann viel tun, um Selbstverwaltung zu unterstützen. Er kann effiziente, faire rechtsstaatliche Verfahren gewährleisten, kann wirksame Eigentumsrechte durchsetzen oder Infrastrukturprojekte durchführen, wie den Bau von Bundesstraßen, die den lokalen Rahmen sprengen. Wer Institutionen für Gemeingüter gestalten will, muss die Nutzerinnen und Nutzer in den gesamten Prozess einbeziehen. Das Wort »gestalten« deutet darauf hin, dass es dabei um eine Kunst geht: die Kunst, Institutionen zu formen, die einerseits das einzigartige Zusammenspiel der vielfältigen Faktoren berücksichtigen, die jedes System prägen, und die sich andererseits an die stete Veränderung dieser Faktoren anpassen.
Die direkte Einbindung der Nutzer und die Berücksichtigung ihrer Interessen erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Institutionen gut auf das lokale physische, wirtschaftliche und kulturelle Umfeld abgestimmt sind. Die Erfahrung zeigt: Es genügt nicht, Menschen einfach Blaupausen in die Hand zu drücken und zu erwarten, dass sich ihre Handlungsmotivationen und ihr Verhalten ändern.
Es geht auch nicht darum, Menschen, wie die nepalesischen ­Bauern, einfach »fremdzuorganisieren«. Wenn Nachhaltigkeit und ­soziale Organisation nicht gelingen, so ist dies meist Ausdruck des Unvermögens, sinnvolle Institutionen zu gestalten und dabei den ­Geberorganisationen und dem Staat die richtigen Rollen zuzuweisen.
Kooperation, eine erlernbare Kunst
Gefördert werden muss die Fähigkeit lokaler Gemeinschaften zum gemeinsamen Handeln. Sie müssen sich selbst bewegen, selbst organisieren und selbst miteinander kooperieren. Sie müssen auf lokaler Ebene regelrecht unternehmungslustig sein. Schließlich ist unternehmerisches Handeln nicht nur privaten Unternehmen vorbehalten. Wird es durch das Umfeld erleichtert, sich zu organisieren, aktiv zu werden und in öffentliche Belange zu investieren, so ist es für lokale Entrepreneure leichter, mit typischen Problemen kollektiven Handelns umzugehen.
In der Vergangenheit wurde oft kurzfristig in die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an lokalen Projekten investiert. Dass dies vergeblich ist, ist nicht weiter verwunderlich, denn Probleme des kollektiven Handelns zu überwinden, ist kosten- und zeitaufwendig. Soll dies gelingen, so müssen auf verschiedenen Ebenen – lokal, regional und national – neben der konkreten Projektarbeit auch solide Institutionen entstehen. Viele sogenannte Partizipationsprogramme von Gebern, Regierungen oder Nichtregierungsorganisationen bestehen vorwiegend aus Sitzungen. Sie zielen kaum darauf ab, die Verantwortung wirklich an die Betroffenen zu übertragen. Aber nur an Sitzungen teilzunehmen, ist langweilig, teuer und wenig lohnend!
Daraus können wir für die Politikgestaltung zweierlei lernen: Erstens, Menschen können Probleme kollektiven Handelns auf sehr kreative Weise lösen und benötigen dafür nicht unbedingt einen »­Leviathan«. Zweitens, Selbstverwaltung ist kein einfacher Prozess, und es gibt kein universell gültiges Patentrezept für ihr Gelingen.
Nach besseren Wegen, Institutionen und Regelwerken zu suchen, ist alles andere als einfach. Es gibt unfassbar viele Kombinationsmöglichkeiten von Regeln, die sich in verschiedenen ökologischen und sozialen Umgebungen sehr unterschiedlich auf einzelne Aspekte der Lebensrealität auswirken. Doch für viele Wissenschaftler ist das Konzept »Organisation« eng mit der Vorstellung verbunden, dass eine Leitung die Organisation entwickelt und voranbringt. Folglich sind selbst­organisierte Systeme für sie nicht selten unsichtbar.
Selbstorganisierte Systeme lassen sich treffender als »komplexe adaptive Systeme« beschreiben. Sie bestehen aus zahlreichen Komponenten mit zahlreichen Interaktionsmöglichkeiten, und ihre Eigenschaften lassen sich nicht durch die Analyse der Eigenschaften der Einzelteile vorhersagen. Solche Systeme bestehen aus Regeln und Akteuren, die in vielfachen Beziehungen zueinander stehen und die durch Erfahrung lernen, sich immer wieder neu den permanentem Wandel unterliegenden Bedingungen anzupassen.
Angesichts der Komplexität von Regelsystemen und der Welt, die wir zu regeln versuchen, sind Bemühungen, wirksame Regulierungsformen zu entwickeln, vor allem eines: scheinbar endlose Runden von Versuch und Irrtum. Und das ist alles andere als trivial.
Wir alle müssen verstehen, dass jeder einzelne an der permanenten Gestaltung eines regelbasierten Gemeinwesens teilhat. Die Bürgerinnen und Bürger müssen wieder die Kunst und Wissenschaft erlernen, sich zusammenzutun. Wenn dies nicht gelingt, dann ist ­alles theoretische Bemühen vergebens.

 

Bearbeitete Fassung eines Exzerpts aus: Elinor Ostrom: Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter. Heraus­gegeben und übersetzt von Silke Helfrich. Oekom Verlag, 2011.

Elinor Ostrom (78) ist Professorin für Politikwissenschaft an der Indiana Universität in ­Bloomington. Gemeinsam mit ihrem Mann Vincent begründete sie dort den »Workshop in Political Theory and Policy Analysis« sowie die »Bloomington School«, eine Denkschule der Ökonomie und Politikwissenschaft, die kollektives Handeln und Selbstorganisation jenseits von Markt und Staat erforscht. Sie gilt als eine der weltweit bedeutendsten Forscherinnen auf dem Gebiet der Gemeingüter, ist Mitglied der Natio­nalen Akademie der Wissenschaften der USA und wurde mit vielen internationalen Auszeichnungen bedacht. 2009 erhielt sie als erste Frau den Wirtschafts­nobelpreis. In der Begründung schrieb das Nobelpreiskomitee, sie habe die »herrschende Meinung herausgefordert«, indem sie aufzeigte, »wie gemeinschaftliches Eigentum ohne Regulierung durch zentrale Autoritäten oder Privatisierung erfolgreich von Nutzerorganisationen vor Ort verwaltet werden kann.« Ihre empirische Forschung hat Fragen im Blick, die bis in den Bereich der Staats- und Moralphilosophie hineinreichen: Wie können einzelne Einfluss auf die Regeln nehmen, die ihrem Leben Struktur geben? Wie gelingt es fehlbaren Menschen, selbstverwaltete Institutionen zu unterhalten und ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen?

www.ostromworkshop.indiana.edu

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