Dörfer können nicht von Städtern geplant werden.von Juliane Rudloff, erschienen in Ausgabe #10/2011
Derzeit gibt es 24 nationale Dorfbewegungen in Europa. Sie sind in den 70er Jahren zunächst in Nordeuropa als Antwort auf die großen gesellschaftlichen Zwänge entstanden: Niedergang der Landwirtschaft, kulturelle und ökonomische Urbanisierung, zunehmende Zentralisierung, Globalisierung der Märkte sowie eine unausgeglichene Alterstruktur. Mit Beginn der 90er Jahre entwickelten sich auch in Osteuropa Dorfbewegungen – hauptsächlich beeinflusst von den nordischen Staaten und den Vorbereitungen im Zug des EU-Beitritts. Ziel solcher Bewegungen ist es, zivilgesellschaftliche Netzwerke zur Mobilisierung dörflicher Gemeinschaften zu bilden. Dorfbewegungen wollen den Wandel hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft: Sie praktizieren »ortsbezogene« Demokratien unterhalb der kommunalen Ebene – häufig mit Hilfe von Dorfvereinen. Die lokalen Bedürfnisse und Sichtweisen werden auf die regionalen, nationalen und EU-politischen Ebenen übertragen und dort mit einer gemeinsamen Stimme vertreten.
Bewegungen in verschiedenen Ländern In Osteuropa und Großbritannien sind die Dorfbewegungen als nationale ländliche Foren organisiert. Durch repräsentative Organisationen wird dort die dörfliche Entwicklung koordiniert und Einfluss auf die Politik genommen. Am stärksten sind jedoch die »echten« Dorfbewegungen, die ihre Basis auf der lokalen Ebene in den Dörfern haben. Diese finden sich vor allem in den skandinavischen Staaten und Estland. Durch gemeinsame Dorfaktionen in den Bereichen lokale Versorgung, soziales Zusammenleben oder Bewahrung des traditionellen Erbes nehmen die Menschen die Geschicke des Dorfs in ihre eigenen Hände. Die Bewohner der ländlichen Räume Estlands lernten nach Jahrzehnten des Zentralismus mit Hilfe ihres Dorfnetzwerks »Kodukant« – Heimat – zunächst, wie sie ihre eigenen Entscheidungen treffen können. Heute gibt es ein gut funktionierendes, unabhängiges Ausbildungszentrum, in dem sich Mitarbeiter des Netzwerks, Gemeindevertreter oder Angehörige von Ministerien in verschiedenen Schulungsprogrammen zu Fragen der ländlichen Regionen direkt in den Dörfern fortbilden können. In Schweden existieren heute etwa 5000 Dorfaktionsgruppen, die Dorfpläne erstellen, Schulen und Kitas organisieren oder neue Kleinunternehmen fördern. Diese Gruppen sind oft als freiwillige Bürgergemeinschaften eingetragen. Sie bilden lokale Knotenpunkte und wirken so der Zersplitterung des ländlichen Raums entgegen. Dieses Anliegen unterstützen 44 Nichtregierungsorganisationen, 24 regionale Netzwerke und 100 Gemeindenetzwerke. Alle zwei Jahre wird ein »Ländliches Parlament« durchgeführt, das etwa 1000 Dorfaktivisten und Politiker zusammenbringt. Auch in Estland und der Slowakei gibt es solche Parlamente.
Stille demokratische Revolution Die eigentliche Demokratie beginnt in jedem einzelnen Dorf, und das passiert auch in Deutschland: Die Dorfplanerin Nathalie Franzen hat in bisher 40 moderierten Dorfkonferenzen gemeinsam mit Dorfbewohnern Leitbilder und Visionen für ihre gemeinsame Zukunft sowie Schritte und Wege zu ihrer Umsetzung entwickelt. Häufig werden Generationentreffs, Dienstleistungstauschbörsen, die Organisation von Märkten, Festen und Kursen sowie Kinder-, Jugend- und Seniorenaktivitäten initiiert. Zunehmend mehr Projekte kommen auch aus den Bereichen Ökologie und Energie. Oft gründen sich Dorfvereine, die zum Teil Infrastruktureinrichtungen, wie Schwimmbäder oder Bürgerhäuser, übernehmen, wenn die Kommune sie nicht mehr finanzieren kann. In den Niederlanden haben Dorfpläne bereits eine lange Tradition. Die Dorfentwicklung war zunächst ein behördlich geplanter Prozess, bei dem die Regierung den politischen Rahmen vorgab und die Finanzierung sicherstellte. Im Lauf der Zeit übernahmen die Gemeinden selbst die Verantwortung, und heute sind es vermehrt zivile Initiativen, die mit professioneller Unterstützung Dorfpläne erstellen. Diese sind ein wichtige Symbole für Zukunftsfähigkeit, Stolz und Identität der Dorfbewohner. Diese Beispiele zeigen, dass die Dorfbewegungen Teil eines weltweiten Trends zu partizipatorischer ländlicher Entwicklung sind. Auf der Konferenz in Berlin war es einhelliger Tenor, dass Dörfer von Dorfbewohnern geplant werden müssen. Der Wunsch nach eigenmächtiger Gestaltung der Lebensräume und die Bereitschaft, dafür Verantwortung zu übernehmen, wird bei vielen Menschen immer größer. Vanessa Halhead, Soziologin und Geschäftsführerin von ERCA, sieht darin eine »stille Revolution« in ganz Europa. Das Dorf scheint eine Gegenmacht zu anderen Logiken der Gesellschaft zu sein, die der Hauptgeschäftsführer der schwedischen Dorfaktionsbewegung, Staffan Bond, mit »Wachstumsmärkten, starrer, top-down- und sektorenorientierter Politik sowie dominierenden städtischen Werten« umriss. Der Generalsekretär des Staatlichen Komitees für Ländliche Politik in Finnland berichtete, dass die politische Macht der Dorfaktionsbewegung in seinem Land in den ersten zwanzig Jahren nur sehr allmählich gewachsen sei. »Niemand gibt einem Macht, man muss sie sich nehmen.« Es gehe bei den Dorfbewegungen nicht um Volkstanz und Weintrinken, sondern um die Verantwortung lokaler Vertreter, die Probleme lösen.
Das Dorf der Zukunft Optimismus für eine Stärkung der europäischen Dorfbewegungen zogen die Teilnehmenden der Konferenz aus der Tatsache, dass die globale Knappheit an Ressourcen die Nachfrage nach alternativen, natürlichen und ländlichen Ressourcen steigern wird. Auch würden sich bei vielen Menschen die Präferenzen wieder in Richtung Nähe zur Natur, Freiraum und gesunde, regionale Lebensmittel ändern. Der Österreicher Franz Nahrada zeigte in seinem Vortrag, dass sich die industrielle Lebenswelt in einem drastischen Prozess der Schrumpfung und Transformation befindet; dadurch würde die dörfliche Lebensform wieder an Bedeutung gewinnen. Er nimmt an, dass Dörfer eines neuen Typus entstehen, bei denen es darum geht, für den Aufbau lokaler Ökonomien Bildung und Wissen regional und international zu vernetzen, um Produktion an jedem Ort und zu ermöglichen. Diese »globalen Dörfer« mit ihren vielfältigen Aufgaben der Daseinsvorsorge ließen sich sinnvoll von kleinen und dezentralen Einheiten organisieren und sollen künftig neue Heimat und Lebensmittelpunkt für große Bevölkerungsgruppen sein. Auch die Ökodörfer und »Transition Villages« könnten sich einer deutschlandweiten Dorfbewegung anschließen, für deren Anstoß sich am Ende der Konferenz eine Initiativgruppe aus Dorfakteuren, Regionalplanern, Wissenschaftlern und Politikern konstituierte. Die Gruppe will zur landes- und bundesweiten Vernetzung von Dörfern beitragen. Koordiniert wird die Initiative von Karl Martin Born von der Universität Münster, Sprecher des »Bleiwäscher Kreises«, eines interdisziplinären Netzwerks für Dorfentwicklung. Vorbild für eine deutsche Dorfbewegung könnte das »Brandenburgische Netzwerk für Lebendige Dörfer« sein, das sich als erstes regionales Mitglied Deutschlands der europäischen Dorfvereinigung ERCA angeschlossen hat. Eine der zentralen Herausforderungen zukünftiger Dorfentwicklung wird die Selbstorganisation des Dorfs im Verhältnis zur Gemeinde sein: Eingemeindete Dörfer sind meist weniger visionär als Dörfer mit eigener Planungshoheit. Auch fehlende frei verfügbare Finanzmittel hemmen die Visions- und Umsetzungskraft. Unabhängig davon ist das Engagement immer dort besonders hoch, wo die Dorfgemeinschaft gut funktioniert und sich mit ihren Projekten identifiziert. Lokale Selbstbestimmung wird damit zum Dreh- und Angelpunkt dörflicher Gestaltungsfähigkeit. Dafür braucht es einerseits politische Akteure, die dies zulassen und ermöglichen, andererseits Menschen, die das wollen.
Juliane Rudloff (32) arbeitet seit 2009 als Referentin für Modellprojekte und demografischen Wandel im Arbeitsstab des Beauftragten der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer.