Der Dichter als Kundschafter
Gary Snyder ist einer der ersten Kundschafter, die schon in den frühen 1950er Jahren in Amerika die Trampelpfade unserer Zivilisation verlassen haben.
Es gab einmal eine Postkarte, die in vielen Studentenzimmern hing. Sie zeigte einen Jungen mit kurzen Hosen und keck-melancholischem Augenaufschlag und dazu den Spruch: »Du fragst, was soll ich tun? Und ich sage: Lebe wild und gefährlich, Arthur«. Das schrieb einst Arthur Schnitzler an Arthur Rimbaud. Die Botschaft schien: Lebe dich aus. Tue, wonach es dich gelüstet, ohne Angst und Gewissensbisse. Verwirkliche dich selbst. Alles Kommende wurde so zu einem Versprechen lauter Köstlichkeiten.
Wildnis als Metapher für Schrankenlosigkeit zieht sich durch unsere ganze Zivilisation. Mal ist das Wilde libidinöse Verheißung, mal ist es abgründige Drohung – in jedem Fall aber Überwältigung. Wild ist ungeordnet, gesetzlos, geil: das Chaos in seiner produktiven wie in seiner zerstörerischen Macht.
Wer heute wild und gefährlich lebt, den trifft man nicht im Regenwald beim Erfassen seltener Arten oder bei der Unterstützung indigener Minderheiten. Die jungen Wilden sind die Helden des Nachtlebens der Metropolen, die Facebook- und Joyclub-Beziehungsjongleure. Wild treiben es die Medien und die Börsen, die Hedonisten und Egoisten, die Hedgefonds und Konzerne, und man müsste sie dringend mit Regeln zivilisieren! – Oder etwa nicht?
Die biologische Wildnis schwindet umso schneller, je mehr Menschen es zu ungebremster Wildheit und gieriger Bedürfniserfüllung drängt. Ja, Rücksicht auf die nicht-menschliche Wildnis scheint gerade darum, wie es so schön heißt, politisch nicht durchsetzbar, weil alle »wild und gefährlich« leben wollen. Haben wir uns doch gerade erst dazu durchgerungen, die moralischen Beklemmungen abzuwerfen, die Wildnisphobie des großen Zivilisierers Christentum! Und jetzt wieder asketisches Einschränken?
Wildnis ist einer der Begriffe, die heute geklärt werden müssen, wenn wir verstehen wollen, welche Optionen auf Zukunft unsere Zivilisation noch hat. Könnte es sein, dass der tiefere Sinn von »wild und gefährlich« in Wahrheit nicht »hedonistisch und ichverliebt«, sondern »großzügig über die eigene Schmerzgrenze hinaus« bedeutet? Müssen wir uns stärker zähmen? Oder noch viel wilder sein?
Wildnis als Wirklichkeit
Seit der Mensch sesshaft wurde, lebt seine Fantasie vom Gegensatz zwischen dem fragilen Besitz, den er sich aus dem reichen Bauch der Natur geschnitten hat, und dem Rest der Wirklichkeit. Der Mensch erfand die Wildnis im gleichen Zug, wie er von ihm abhängige Lebensformen kultivierte. Wild blieb das, was nicht menschlich wurde: Jene Macht, die mit Dürren und Regengüssen, mit Heuschrecken und Wölfen droht, Ernten zu vernichten und Zivilisationen auszulöschen.
Zuvor gab es nicht Wildnis und Kultur, sondern schlicht das, was war – und dessen lebensspendende oder todbringende Gesetze. Am Anfang lebten wir in der Wildnis, ohne es zu wissen, wie Adam und Eva im Paradies. Wir sind Produkte wilder Prozesse: Homo sapiens, von pflanzenfressenden Affen abstammend, in die Nische der Wölfe eingewandert, die in Gruppen große Tiere jagen, ihre Kinder gemeinsam pflegen und einander stets freudig begrüßen.
Zunächst also ist das Wilde schlicht das Lebendige. Es ist das, was von selbst wird, ohne dass wir seine Gesetze beherrschen, ja, ohne dass wir sie kennen. »Wildnis« oder »Wildheit« heißt: die Dinge, so wie sie sind. Wirklichkeit ist Wildnis. Sich auf die Wildnis einzulassen bedeutet, unsere Rolle im Ganzen der Dinge zu akzeptieren. Unsere Zivilisation folgt dem Gegenteil: Der Mensch ist die Art, die sich nicht an die Regeln der Biosphäre – eines Kosmos, der Leben hervorbringt – zu halten braucht. Keine Kultur hat jedoch jemals einen Konflikt mit der Wirklichkeit überlebt. Es ist darum essenziell, die Wirklichkeit zu kennen, bevor wir über moralische oder politische Programme nachdenken. In meinen Augen hat ein solches Kennenlernen immer noch nicht stattgefunden. Die Philosophen Adorno und Horkheimer bezeichneten unser Wegschauen schon vor mehr als 60 Jahren als »Verblendungszusammenhang«. Solange wir die Wirklichkeit nicht kennen, gibt es keine Chance zu einer Wende.
Wildnis als Teilhabe
Um die »wilde Wirklichkeit« zu erfassen, sollten wir zuerst verstehen, was immer noch als klassische Wildnis gilt: die Lebensräume der ungezähmten Tiere und Pflanzen, die Regenwälder und Tundren, aber auch die der flechtenbewachsenen Steine und der Bakterienvölker auf unserer Haut. Schauen wir, was es mit der Ökologie der Wildnis auf sich hat, bevor wir über deren Moral reden. Wildnis besteht zunächst darin, dass sich die natürliche Fülle von Arten, Stoffkreisläufen, Landschaften und Regeln des Zusammenlebens von allein einstellt, hervorbringt und steigert. Wild ist die Existenz im Netz: Kein Individuum kann ohne die anderen sein; keines gedeiht, ohne dass sich die Existenz der anderen, ihre Bedrohlichkeit, ihr Reichtum in seiner Gestalt ausdrückt und widerspiegelt. Zur Wildheit gehört, dass jeder Teil dieser Fülle andere Teile verzehrt und dass er eines Tages auch selbst – nicht stirbt – sondern Nahrung sein wird. Das Wilde ist der Ernst des Todes als Bedingung des lebenden Ganzen.
Ein Individuum besteht ja nicht aus Stoff, der exklusiv nur ihm gehört, sondern aus denselben Atomen, die seine Umgebung ausmachen. Kohlenstoff, Phosphor, Schwefel, Eisen wandern durch ein Wesen wie eine Welle durch das Wasser im Ozean. Der Körper lässt sich somit weniger als spezielle Materie verstehen, sondern eher als spezifische Form eines Zusammenhalts: als hartnäckiges Wollen, dem daran gelegen ist, sich zu erhalten.
Bisher hat die Biologie die seltsame Paradoxie übersehen, dass Lebewesen und ihr Lebensraum nicht voneinander zu trennen sind, weil deren Teile immer wieder ineinander übergehen. Sie hat zugleich übersehen, dass ein Organismus – anders als Steine oder Wasserläufe – gerade deshalb zur Freiheit befähigt ist: Für kurze Zeit zwingt er die Materie in die Form seines Begehrens.
Ein Lebewesen ist unabhängig, wie kein Sandkorn oder Tonklumpen es je sein könnte. Aber es ist dazu auf die beständige Präsenz der anderen Organismen angewiesen – als Geschlechtspartner, als Freunde, als Nahrung. Diese paradoxe Konstellation kennzeichnet die grundsätzliche Ökologie der Wildnis.
Wildnis ist ein ausgefeiltes Modell der Teilhabe: Pflanzen entwickeln Abwehrmechanismen gegen Insektenfraß und binden so bestimmte, allein an sie angepasste Insekten unwiderruflich an sich; Milliarden und Abermilliarden Larven füttern das Meer mit ihren Leibern und versorgen so ihre heranwachsenden Geschwister. Jede Freiheit ist an die Freiheit eines anderen gebunden – dadurch, dass alle Ressourcen sich vom Körper nur eine begrenzte Zeit nutzen lassen und dann in andere Körper Eingang finden. Dadurch, dass alle Produktivität der Lebewesen aus der Not, eines Tages sterben zu müssen, die Tugend der Schönheit macht.
Wildnis ist der Raum, in dem das Ganze zu Ausdruck und Selbsterfahrung kommt, weil es sich in ein Individuum verwandelt. Die Individualität, durch die das Ganze sich selbst widerspiegelt, ist jedoch bloß geliehen. Man könnte auch sagen: Sie ist geschenkt. Die Lebensgemeinschaft wächst nur, wenn diese Individualität, ihr Fleisch, ihr Körper, eines Tages wieder zurückgeschenkt wird.
Um einen Wald zu ernähren, müssen seine Blätter jeden Herbst zu Humus zerfallen. Sie dürfen nicht exportiert und auf dem Markt verkauft werden. Dass Indvidualität (»Ego«) und Ökosystem (»Community«) gedeihen, verlangt ein subtiles Gleichgewicht – eine Ökologie von Gabe und Gegengabe. Auch hier haben wir Wildnis nicht verstanden: Wir unterstellen ihr fälschlich räuberische Gesetzlosigkeit – und machen derweil nicht das Geschenktsein, sondern das lukrative Geschäft zum Grundsatz der Welt.
Wildnis als Therapie
Der wirkliche Unterschied zwischen uns und den übrigen Wesen besteht darin, dass diese sich unbewusst im ökologischen Gleichgewicht halten. Sie stellen es mit ihrem eigenen Leben her. Die Nahrungsketten der Tiere und Pflanzen, des am Himmel kreisenden Bussards und der im Boden wühlenden Maus sind die Ausgewogenheit des Lebensnetzes. Wir hingegen müssen uns für eine Balance entscheiden. Wir müssen uns explizit zur Wildnis bekennen, um im Gleichgewicht mit dem Leben zu existieren. Für uns muss Wildnis daher eine Kultur der ökologischen Wirklichkeit sein. Blickt man in die Prähistorie zurück, bis die Bilder ans Licht kommen, die Felsüberhänge und Grotten seit Zehntausenden von Jahren füllen, dann ist diese Kultur der ökologischen Wirklichkeit die erste und längste Obsession des Menschen gewesen.
Wenn Wildnis Wirklichkeit ist, dann ist Einsicht in diese Wirklichkeit die Therapie falschen Bewusstseins. In jedem seelischen Verhängnis liegt ja der Weg zur Heilung durch Einsicht in das, was der Fall ist. Der Alkoholiker etwa kann seiner Krankheit erst dann begegnen, wenn er ausspricht, dass er abhängig ist.
Was ist das therapeutische Potenzial der Wildnis? Gewiss nicht die totale Enthemmung. Im Gegenteil: Die Wirklichkeit verlangt Bescheidenheit. Und Mut. Sich auf die Wildnis dessen, was der Fall ist, einzulassen, heißt, der Lüge abzuschwören. Die Hybris ablegen, die Illusion ablegen, den Größenwahn, die Verweigerung des Todes, die Phantasie der Unverletzlichkeit, den Glauben, sich retten zu können.
In der ökologischen Wahrheit zu leben, heißt, seine Verletzlichkeit als Potenzial zu erkennen. In diesem Sinn ist unsere Zeit die am wenigsten wilde aller Epochen. Während sie ständig Tod produziert, ist ihr heimliches Ziel, den Tod abzuschaffen. In die Wildnis zurückzufinden, heißt somit, das Notwendige zu akzeptieren. Das beinhaltet, zu begreifen, dass der Tod unumgänglich ist. Wir werden durch ihn nicht aus dem lebenden System entfernt, sondern geraten auf eine andere Weise tiefer hinein – auch wenn wir diese Weise nicht verstehen. Etwas in uns versteht sie, wenn wir in einem Herbststurm die gefallenen Blätter blutig um uns aufsteigen sehen – aber was wir dabei erfassen, können wir ebensowenig aussprechen wie bei einem Kunstwerk, das uns jenseits aller Erklärungen rührt.
»Ist Ihnen wirklich klar, dass Sie ein Tier sind?« fragt der Schriftsteller Gary Snyder in seinem Buch »The Practice of the Wild«. Jeder von uns stammt nicht nur von einem Tier ab. Er ist ein Tier, mit allen unergründlichen Instanzen des Tierischen verbunden, mit dem Heulen des Wolfs, der unheimlichen Geduld des Holzbocks, der erschütternden Grazie einer Ameisenjungfer. Das alles ist nicht irgendwie mit uns verwandt; das alles ist unser Inneres.
Dieses Innere birgt einen Abgrund, der verwirrt und tröstet. Die Wildnis ist die dunkle Materie, die uns trägt. Ihre Kraft besteht darin, dass ein Schnitt im Finger von selbst heilt, ohne unser Zutun. In ihrem tiefsten Kern ist Wildnis das, was man nicht kennen kann, weil man es ist, unterhalb allen Kennens. Wildnis ist der Kennensprozess selbst. Man kann sie nicht kontrollieren, kommandieren, durchschauen, als Priester oder Guru monopolisieren, weil sie es ist, die uns wirft wie eine Welle den Ozean.
Wir sind nicht »wir selbst«, sondern Ökosysteme, in denen namenlose Subjekte entstehen und vergehen, beginnend bei den Zellen unseres Leibs, die planmäßig Selbstmord begehen, damit das Gewebeganze nicht entgleist, bis hin zu den Bakterien auf Haut und Schleimhäuten, zehn- bis hundertmal mehr als Körperzellen, ohne die wir nicht sein könnten. 20 Prozent unseres Genoms sind Viren, die sich in unserer DNA festgesetzt haben und uns erst zu dem machen, was wir sind. In letzter Hinsicht ist Wildnis das, was von uns übrigbleibt: die Minerale, aus denen unser Leib am Ende besteht; Kohlenstoff, Wasserstoff, Phosphor und Schwefel.
Wildnis als Kultur
Wildnis heißt, die Gesetze des ökologischen Ganzen zu akzeptieren. Und zugleich verlangt, ihnen zu folgen, Ungehorsam: Sich gegen das Notwendige aufzulehnen bis zum letzten Herzschlag, um die eigene Freiheit zu behaupten – die selbstherrliche Freiheit des Individuums, auf die das Lebensnetz ebenso angewiesen ist wie auf die generöse Gabe. Ein tiefer Widerspruch durchzieht die Wirklichkeit von ihrem Beginn. Die wilden Landschaften und Arten, die wir heute sehen, haben diesen Widerspruch mit ihren eigenen Körpern gelöst. Wild ist jenes Leben, das nicht allein seinen eigenen individuellen Gesetzen, sondern zugleich jenen der Lebendigkeit selbst folgt. Das aus Leben mehr Leben macht, aber nicht nur aus dem eigenen, sondern aus dem aller. Wildnis ist Selbstherrschaft. Nicht Selbstbeherrschung. Nicht Selbstverwirklichung. Eine Ethik der Wildnis wäre darum, wie es Gary Snyder sieht, auf »Achtsamkeit, Manieren und Stil« gegründet.
Nur wir Menschen schaffen es, inmitten des sich selbst schöpfenden Lebens Engherzigkeit zum zivilisatorischen Prinzip zu machen. Der Jagd nach Leistungszertifikaten, nach Effizienzgewinnen, den Vororten, die Haine und Obstgärten begraben, fehlt genau das am dringlichsten: Stil. Ebensogut könnte man sagen: Kultur.
Wir Menschen brauchen eine Kultur der Wildnis, weil wir nicht von selbst das richtige Maß an Wildheit besitzen. Auch das ist paradox: Wir müssen verstehen, wer wir sind, um es in freier Entscheidung zu sein. Eine solche paradoxe Erkenntnis ist kein Biologismus. Sie sagt nicht: So ist es, so hat es also zu bleiben. Im Gegenteil: Ökologisch inspirierte Kultur imitiert nicht Ökologie – anders als derzeit, wo ein Zerrbild des Biologischen unsere Gesellschaft bestimmt. Die Evolution gilt als großer Effizienzwettkampf, darum müsse das Soziale und Ökonomische auch ein großer Effizienzwettkampf sein. Kultur aber darf Ökologie nicht imitieren, sondern soll sie interpretieren. Als Wesen, die über ihr Geschick entscheiden können, bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere Variante der paradoxen ökologischen Beziehung selbst zu erschaffen. Dafür können wir keine biologischen Gesetze in Anspruch nehmen. Es gibt sie nicht, es gibt lediglich jenen allgemeinen Widerspruch allen Existierens, dass das Subjekt nur ist, weil das Ganze ist. Diesen ökologischen Kern aller Existenz – die Freiheit in der Notwendigkeit – zu erkennen und ihm entsprechend in Freiheit als Mensch zu handeln, das wäre Leitbild einer Kultur der Wildnis.
Bereits jetzt enthält die Kultur das Modell einer Ökologie der Wildnis. Wir nutzen es täglich: Die Sprache. Niemand hat die Sprache geschaffen. Jeder Sprecher hat an ihr teil und bereichert sie. Was der Dichter in Einmaligkeit sagt, ist einmalig aufgrund des ökologischen Zusammenhangs von Bedeutungen, den er nutzt, um seine Einsicht anderen Teilhabern der Sprache zu schenken. Sprachen sind untereinander fruchtbar – »Denglisch« ist ein Beleg; sie konkurrieren nicht um Sprecher, sondern werden interessanter, je mehr Menschen mehr von ihnen beherrschen. Ein Gedicht ist somit perfekte Wildnis. Wie die äußere Wildnis spendet es Selbst- und Welterkenntnis nicht durch Analyse, sondern durch Ergriffensein.
Wildnis als Liebe
Wenn wir von unserer eigenen Wildheit reden, so müssen wir von Liebe reden. Unsere Wildheit ist unsere Liebesfähigkeit. Aber nicht Liebe als Sucht nach Gesellschaft, nicht als Gier und nicht als Selbstvergötterung, nicht Liebe zu Dingen (das neue Notebook), Genüssen, Erlebnissen, sondern Liebe zu einem lebenden Stück Welt, das ein Mensch sein kann, eine Gemeinschaft, ein Tier, ein Teil der Natur.
Solche Liebe ist im besten Fall Kultur dieses Verhältnisses, und als diese gehorcht sie den grundlegenden Paradoxien wilder Lebendigkeit: der Steigerung individuellen Glücks durch seine Aufhebung im Strom der Wirklichkeit. Der humanistische Psychologe Erich Fromm nannte eine solche Liebe »produktiv«: Sie sucht im Geliebten nicht den Besitz, sondern die Fülle seiner Lebendigkeit – auch um den Preis des Verzichts. Dies ist die Ökologie der Liebe im rechten Maß. Nicht umsonst sieht gerade so das Ideal der elterlichen Bindungsgefühle aus. Denn was wäre das Verhältnis zwischen Eltern und Kind anderes als unser ökologischer Nullmeridian? Unsere tiefste Wildnis? Auch die Liebe zu anderen Wesen – die Hingabe des Försters, Landwirts, Naturpflegers – enthält viel von dieser paradoxalen Konstellation, weshalb sie in unserer effizienten Zeit von vielen als Energieverschwendung belächelt wird. Partnerschaftliche Liebe – lebe wild und gefährlich! – ist davon derzeit zumeist weit entfernt. Vielleicht war sie es immer schon. Sie gehorcht mehr als jede andere soziale Dimension dem biologischen Mythos vom Kampf und nicht dem fruchtbaren Selbstwiderspruch. Snyders Idee, dass die Praxis des Wilden an Achtsamkeit, Manieren und Stil zu messen sei, ist nichts anderes als die bewundernde Außensicht auf ein Gefühl, das den Tod überdauert, weil es ihn bereits einschließt.
Wildnis als Politik
Wildnis ist nicht der unbeherrschbare Raum da draußen. Wildnis ist gar kein Raum. Wildnis ist nichts, was man ausschließlich durch die Konservierung »wilder« Lebensräume bewahren könnte. Wildnis ist der Flechtenbewuchs eines Dachziegels – und Wildnis ist, wie er mich rührt. Wildnis ist innen. Wildnis ist Haltung. Das ist gut so, denn wir werden diese Haltung brauchen, um wieder wir selbst zu werden, während umher die wilden Lebensräume verlöschen. Den Weg zu dieser Haltung könnte man eine »Politk der Wildnis« nennen. Sie durchzusetzen, wäre ein humanistisches Projekt, vergleichbar in seiner Größe der Einführung der Menschenrechte – und zugleich eine ökologische Bewusstwerdung, vergleichbar Darwins »Entstehung der Arten«. Eine Politik der Wildnis wäre der Entwurf eines Handelns, welches das Leben in seine Mitte stellt.
Um mit der Wildnis ins Reine zu kommen, müssten wir unsere Kultur als eine Poesie der Wirklichkeit neu erfinden. Die Wirklichkeit ist nichts »rein Faktisches«, sie ist die Entfaltung von schöpferischer Produktivität; einfacher gesagt: von Liebe und Tod. Diese werden uns weiter begleiten, wie immer die ökologische Katastrophe endet. Sie sind Wirklichkeit im Zentrum unseres Herzens, wild und gefährlich.
Mehr von Andreas Weber zum Natur- und Menschsein
»Alles fühlt: Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften«, Berlin Verlag, 2007
Gary Snyder ist einer der ersten Kundschafter, die schon in den frühen 1950er Jahren in Amerika die Trampelpfade unserer Zivilisation verlassen haben.
Der US-Amerikaner Richard Louv provoziert mit der Diagnose eines Natur-Defizit-Syndroms bei Kindern in seinem Buch »Last Child in the Woods« (sinngemäß: Das letzte Kind, das noch im Wald spielt).
Robert Grainier lebt alleine. Der Tagelöhner wurde »irgendwann im Jahr 1886« geboren und wohnt in einer Hütte im Wald irgendwo im Nordosten der USA. Er ist ein Mann ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Seine Eltern lernte er nie kennen, und er wird keine Nachkommen