Isabelle Hafner porträtiert den Münchener Allmende-Aktivisten Daniel Überall.von Isabella Hafner, erschienen in Ausgabe #35/2015
Daniel Überall hat nicht viel Persönliches in seinem Büro in einem Rückgebäude im Münchener Stadtteil Sendling. »Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.« – der Spruch aus Samuel Becketts »Worstward Ho« hängt an der Wand – direkt im Blickfeld des langen Mannes, wenn er in Kapuzenpulli und Jeans am Schreibtisch sitzt. »Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.« Seine Öko-Turnschuhe spitzeln unter dem Tisch hervor und berühren fast die grüne Gemüsekiste, auf der ein leeres, rundliches Mini-Gewächshaus steht – nein: ein durchsichtiger Bassverstärker. Anders als die Leute in Becketts berühmtestem Theaterstück, die auf die Ankunft eines heilbringenden Erlösers warten, zögert Daniel Überall nicht, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Der Münchener wartet nicht auf Godot, er macht einfach. »Weil ich an Selbstüberschätzung und Größenwahn leide.« Andere mögen sagen: »Der nimmt sich ganz schön wichtig.« Ihm ist’s egal.
Daniel Überall, heute 38, hat mit 30 Jahren die Internetplattform »Utopia« zur Förderung grüner Lebensstile mitgegründet, dann eine Initiative von Münchener Stadtimkern, vor drei Jahren mit Simon Scholl das »Kartoffelkombinat« – eine solidarische Landwirtschaft; seit 2012 macht er die Öffentlichkeitsarbeit für die »anstiftung«; seit letztem Jahr ist er als Vorstand für den Verein »Taste of Heimat« tätig und neuerdings auch für das Münchener »Netzwerk Klimaherbst«; soeben hat er die Organisation »Intereuropean Human Aid Association« gegründet, um Flüchtlinge zu unterstützen. Muss Überall überall mitmischen? Ist er ein Gründungssüchtiger? Das iPhone vibriert vergeblich. – Er widerspricht vehement: »Ich habe ein gutes Gespür für Momente, für das, was Leute umtreibt. Wenn das identisch ist mit dem, was mich selbst umtreibt, will ich aktiv werden.« In der Zeit, als sich die Plattform Utopia formierte, war »ethischer Konsum« ein solches Zeitgeist-Thema. »Wir wollten signifikant viele Menschen dazu bewegen, ihr tägliches Kaufverhalten zu ändern«, erklärt Daniel die Mission von Utopia, die er nach wie vor für richtig hält. Aber die mediale Breitenwirkung des Projekts blieb aus, die Supermarktregale des Landes wurden nicht leerer, sondern eher noch voller, und Daniel hatte den dringenden Wunsch, tiefer an den Wurzeln der Krisen anzusetzen. »Artenschwund, Klimawandel, Pestizide und Zerstörung von Ökosystemen – du kannst jedes ökologische Problem heranziehen und erklären, welche Konsequenzen es für die Biene hat. Mit dem kleinen Tier kann jeder etwas anfangen.« Diese Einsicht war der Initialfunke für das Netzwerk Stadtimker, um Nachwuchs für den aussterbenden Imkerberuf zu gewinnen und Umweltbildung zu betreiben. Mit Tieren zu kooperieren und ein Nahrungsmittel herzustellen – das sei eine starke, prägende Erfahrung. Daniel wird immer deutlicher: »Nachhaltigen Wandel erreichen wir nicht mit dem Kauf von Dingen, sondern durch die Veränderung unserer Lebensweisen und der Infragestellung oder – noch besser – Abschaffung des Kapitalismus.« Heute steckt Daniel die Hälfte seiner Arbeitszeit ins Kartoffelkombinat – ein Beispiel dafür, wie sich Menschen von der industrialisierten Wachstumsökonomie unabhängig machen können. Etwa 1600 Münchener in 750 Haushalten sind Teil einer Genossenschaft, die eine Bio-Gemüsegärtnerei trägt. Deren Erzeugnisse gehen nicht auf den Markt, sondern direkt an alle Mitglieder. Daniel Überall spricht viel von der Commons-Perspektive. Gemeinschaftliche Produktion sei ein Schritt hinaus aus dem bisherigen System. Bei der Nahrung fängt der Wandel an, aber es soll noch weitergehen, hin zu einer unabhängigen, selbstverwalteten Grundversorgung mit allem, was für den täglichen Bedarf notwendig ist. »Heute wird der Commons-Gedanke nicht mehr nur in Nischen gelebt wie in der Ökobewegung der 1980er Jahre. Er hat das Zeug, gesellschaftsfähig zu werden.« Wirklich? Nachhaltigkeit ist Trend – ein Wachstumsmarkt. Erneuerbare Energien, nachwachsende Rohstoffe, eine moderne Bioökonomie sollen dafür sorgen, dass die heutige Konsumgesellschaft ungestört weiterexistieren kann. Daniel Überall nickt; er kennt sie gut, diese Diskussion. Neben ihm türmen sich Yogi-Tee-Schachteln. Darüber hängt der Spruch: »The Only Good System is a Sound System.« Dann sagt er: »Es ist unmöglich, Wachstum von Ressourcenverbrauch zu entkoppeln. Die Landflächen dieser Erde sind endlich; wir können diesen Lebensstandard der westlichen Zivilisation – wenn wir ihn nicht für Industrienationen allein beanspruchen – nicht mehr aufrechterhalten. Der Weg muss ganz klar sein, weniger zu verbrauchen. Allein die technischen Anlagen herzustellen, um den heutigen weltweiten Energiebedarf auf erneuerbarer Basis zu decken, wäre viel zu ressourcenintensiv.« Aber wenn sich alles in geschlossenen Kreisläufen bewegte, im Sinn des Cradle-to-Cradle-Prinzips? »Der Grundgedanke ›von der Wiege bis zur Wiege‹ – also vom Rohstoff über Herstellung und Verbrauch bis zum Kompost oder zum Recycling – ist alles richtig, aber mich persönlich erreicht die Marketingstrategie, mit der Cradle-to-Cradle zur Zeit kommuniziert wird, nicht mehr. Sie läuft ein bisschen darauf hinaus: ›Wenn wir in Kreisläufen denken und keinen Müll mehr hinterlassen, können wir tolle Produkte industriell herstellen, und unsere schöne Welt läuft weiter wie bisher.‹ Das wird nicht funktionieren. Nachhaltiges Wirtschaften entsteht erst durch Genügsamkeit.« Drr, drr, drr – das Smartphone meldet sich erneut zu Wort und erinnert an die globalen Ressourcenströme, die in dem kleinen Objekt zusammenlaufen.
Gemeinsam produzieren Das Kartoffelkombinat ist ein Anfang: ein Angebot für alle, die keine Lebensmittel mit Weltreise-Vergangenheit wollen, die genug haben von Skandalen und Massenproduktion. Alle sollen mitmachen können, auch Menschen mit wenig Geld. Der Genossenschaftsanteil kostet 150 Euro, der halbjährliche Beitrag im Schnitt 400 Euro für Saatgut, Gärtner, Technik und die Buchhaltung. Nicht nur Kartoffeln bauen eine Gärtnerei und mehrere Landwirtschafts-Familienbetriebe im Umland an, sondern alles, was die Jahreszeiten hindurch in Deutschland so wächst. Das Solidarische: Diejenigen, die Landwirtschaft und Gartenbau betreiben, unterliegen nicht dem Preisdruck des Markts; ihnen wird die Abnahme garantiert, und sie erhalten einen fairen Preis. Eine schlechte Ernte fangen die Mitglieder auf. Diese Art des Wirtschaftens irritiert. Die Vertragsbauern konnten anfangs nicht glauben, dass sie keine Preise mehr verhandeln müssten. Es wirkt fast revolutionär, wenn Landwirte sich gegenseitig helfen, statt sich zu verdrängen. Beispiel: Ein Landwirt, der nicht Teil des Kombinats war, meldete sich und klagte, seine Kartoffeln hätten Silberschorf, eine Pilzerkrankung der Schale. Simon Scholl und Daniel Überall recherchierten: Das ist ein rein optischer Makel. Sie fragten »ihren« Kartoffelbauern, ob er ein Problem hätte, wenn man dem anderen Landwirt die Ernte abkaufe. »Er stimmte zu, weil er wusste, dass auch er bei Missernten unterstützt werden würde.« Die Mitglieder waren ebenfalls dafür. Überall wirkt stolz, wenn er von ihnen spricht. »Ich bin mir sicher: Wenn man vernünftig mit dem Verbraucher redet, trifft er auch vernünftige Entscheidungen. Der ist bestrebt, sich gut, vernünftig und empathisch zu verhalten.« Doch so paradiesisch ist die Kartoffelwelt nicht immer. Aktuell gehen die Ansichten der Beteiligten auseinander; ein Teamtreffen steht an. Es geht darum, wer welche Perspektive aufs Kombinat hat. Daniel muss aushalten, dass ihm die eigenen Leute kritisch gegenübertreten: »Für manche bin ich ein betriebswirtschaftlich denkender Marketing-Fuzzi. Ich meine eben, wenn du Faszination für etwas erzeugen willst, brauchst du eine Sprache, die viele Leute gut verstehen.« Runden, in denen viel diskutiert wird, behagen ihm nicht. »Ich schaffe in der Zeit lieber Realität.« Neulich hat er kurzerhand drei Hilfskonvois organisiert und Flüchtlingen, die auf Äckern an der ungarisch-serbischen Grenze ausharrten, Zelte, Medikamente und Kleidung gebracht.
Radikal-Öko und Marketingmensch Wenn er unter Freunden und Bekannten ist, wird ihm gerne mal die Rolle des Radikal-Ökos zugedacht. Der »Öko-Terrorist« bekommt dann zu hören: »Von dir lass ich mir nichts vorschreiben. Du würdest die Welt durch Verbote regieren. Dein Ziel ist die Ökodiktatur.« Er lächelt. Wer das Wort »Genügsamkeit« auch nur in den Mund nimmt, scheint in dieser Welt schon bedrohlich zu wirken. Daniel Überall ist ein Kind aus München-Neuperlach, fünfte Etage von neun; die Mutter Kindergärtnerin, die Freunde aus Jugoslawien oder der Türkei. Nur er geht aufs Gymnasium. Der Traum, Chirurg zu werden, ist mit Abi-Note und »Nicht-Streber-Dasein« unvereinbar. Er studiert Kommunikationswirtschaft in München und gründet bald mit Freunden einen Bio-Online-Shop. Seine Frau kommt aus einer anderen Welt als er: »Bruder, Vater – alles Ingenieure. In solchen Kreisen lautet das Ziel, in einem großen Unternehmen zu landen, mit Sicherheit und Zusatzrente.« Dass hier ein Paar aus unterschiedlichen Kulturen zusammengefunden hat, ist bis heute spürbar. Manchmal sagt seine Frau zu ihm im Streit: »Du brauchst nicht so zu tun, als wärst du heilig. Du bist auch nach Korfu in den Urlaub geflogen.« Zwischen Konsequenz und Kein-Spielverderber-Sein zu balancieren, ist immer eine Gratwanderung. Daniels Aufgehen in seinen beruflichen Aufgaben, die ihn 60 Stunden pro Woche fordern, stellt seine Familie vor Belastungsproben. Der Sohn ist fünf Jahre alt, die Tochter ein Jahr. Würde seine Frau Vollzeit arbeiten, ginge es nicht. »An ihr bleibt viel hängen. Wir haben da eine klassische Rollenverteilung.« Drrr, drrr, drrr – das Handy klingelt schon wieder, aber Daniel lässt es tapfer auf dem Schreibtisch liegen. Neben seinem Einsatz für das Kartoffelkombinat verlangt die Pressearbeit bei der »anstiftung« von Daniel viel Zeit. Hier geht es um Eigenarbeit: Selbermachen statt kaufen, reparieren statt wegwerfen. Dieses Jahr wurde ein bundesweites Netzwerk von Reparaturprojekten aufgebaut. Der Junge aus dem Neuperlacher Hochhaus ist zu einem Mann geworden, der an die Kraft der Gemeinschaft glaubt. Aufgewachsen ohne Garten, träumt er heute davon, die Stadt München zu überzeugen, hinter dem Rathaus einen Gemeinschaftsgarten anzulegen. »Dort könnten Touristen und Münchener zusammen gärtnern, ernten, kochen und essen – und über ›gutes Leben‹ nachdenken.« •
Isabella Hafner (31) freie Journalistin, arbeitete als Redakteurin bei der Südwest-Presse und absolvierte den Studiengang »Journalismus und Nachhaltigkeit« an der Leuphana Universität Lüneburg.