Menschen, die in Deutschland Asyl suchen, erhalten medizinische Hilfe nur bei akuten Krankheiten und Schmerzzuständen. Eine Würzburger Initiative setzt sich für eine umfassende Gesundheitsversorgung in Flüchtlingsunterkünften ein.von Melanie Klimmer, erschienen in Ausgabe #35/2015
In der lokalen Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber und Flüchtlinge in Würzburg hat die Missionsärztliche Klinik »Missio« bereits im Jahr 2008 eine regelmäßige Gesundheitssprechstunde ins Leben gerufen. Die Krankenschwester Christine Wegener hat das Pilotprojekt von Anfang an mit aufgebaut. Im Juli hatte ich Gelegenheit, sie für zwei Tage bei ihrer Arbeit zu begleiten. An der Eingangspforte der ehemaligen Kaserne erwartet mich der Einrichtungsleiter Orhan Demircan. Ich zeige ihm die behördliche Genehmigung, die ich einholen musste, um Christine Wegener hier zu treffen. Das Gebäude, in dem die Krankenstation untergebracht ist, befindet sich am anderen Ende des großen Geländes. Unter den Nationalsozialisten hieß die Anlage Adolf-Hitler-Kaserne, die Amerikaner tauften sie in Emery-Barracks um. Bis 1992 waren dort Einheiten der amerikanische Luftwaffe stationiert. Der Stacheldraht wurde mittlerweile entfernt, doch deutet noch ein hoher Zaun auf die Geschichte des Platzes hin. Kaum einer mag ihn als Schutz erleben. Rund 500 Flüchtlinge aus 40 Ländern kamen bis vor einem Jahr in den Gebäuden unter. Mittlerweile reicht die Kapazität nicht mehr aus. Auf meinem Weg über die öden, asphaltierten Freiflächen des weitläufigen Areals passiere ich eine Reihe von Zelten und Containern mit Dusch- und Toilettenanlagen, die den sogenannten Transitflüchtlingen als vorübergehende Unterbringung dienen. Im Schatten der wenigen Bäume liegen vollgepackte Rucksäcke und Bettbezüge. Zwei dunkelhäutige Frauen ruhen wie apathisch auf dem ausgedorrten Gras. In ihrer Nähe sitzen zwei Kinder. Die Julisonne brennt. Es ist mindestens 35 Grad im Schatten. Nach einem fast zehnminütigen Fußweg erreiche ich die Krankenstation. Sie befindet sich im ersten Stock, gleich neben einer Zweigstelle des Sozialamts.
Eingespielte Kooperationen »Gemeinschaftsunterkunft, Schwester Christine, hallo?« – Orhan Demircan kündigt am Telefon ein kurdisches Mädchen mit schweren Verbrennungen an. Die Zwölfjährige aus Aleppo kommt – zur Entlastung ihrer verzweifelten Mutter – in Begleitung einiger anderer Männer und Frauen aus Syrien in die Sprechstunde. Ihr Anblick ist erschütternd: Oberkörper und Gesicht sind in Folge eines Bombenangriffs verbrannt und durch Verwachsungen entstellt. Einzelne Wunden nässen noch. Die linke Hand ist aufgrund von Narbensträngen in ihrer Funktion eingeschränkt. Das Mädchen hat aber sein Lächeln nicht verloren – die Solidarität seiner Landsleute ist von unschätzbarem Wert. Einer der Begleiter spricht Englisch und übersetzt das Gespräch. Christine Wegener organisiert sofort einen Termin beim Hautspezialisten an der Würzburger Uniklinik sowie einen ehrenamtlichen Dolmetscher zur Begleitung. Die erforderlichen Formalitäten klärt sie direkt mit dem Sozialamt nebenan. Morgen wird die syrische Familie ihre erste Geldleistung erhalten, so dass sie die Fahrt zum Klinikum bezahlen kann; Christine Wegener erklärt die Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln. »Es hat Jahre gedauert, ein funktionierendes Versorgungsnetz aufzubauen«, erklärt sie. Zum Team gehören derzeit fünf Krankenschwestern, einige Ärztinnen und Ärzte sowie Medizinstudentinnen und -studenten. Die Erfahrungen, die Christine Wegener bereits vorher in der Tropenmedizin gesammelt hatte, erleichtern ihr heute die Beobachtung und Deutung von Symptomen. Die Geflüchteten bringen die unterschiedlichsten gesundheitlichen Probleme mit; entscheidend für die Vertrauensbildung sind aber auch interkulturelle und fremdsprachliche Kompetenzen. Das Pilotprojekt begann 2006 mit zweiwöchigen Gesundheitskursen, die vom Europäischen Flüchtlingsfonds unterstützt wurden. Für die Finanzierung des weiteren Aufbaus einer medizinischen Versorgung musste Prof. Dr. August Stich, Chefarzt der tropenmedizinischen Abteilung an der Missio, bei der Landes- und Bezirksregierung einiges an Überzeugungsarbeit leisten. Schließlich konnte Christine Wegener 2008 als erste und einzige hauptamtliche Krankenschwester eingestellt werden. Einige engagierte Studentinnen und Studenten unterstützten sie. »Wir haben bei Null angefangen. Einen Notfallkoffer, Computer und Labormaterial bezogen wir über die Klinik«, erinnert sich Christine Wegener. Inzwischen ist das Team gut eingespielt. »Wir versuchen, möglichst viel eigenständig zu behandeln. Morgens ist kein Arzt hier, den man schnell was fragen kann. Es müssen aber Entscheidungen getroffen werden – beispielsweise, ob jemand in die Klinik muss oder nicht.« Diejenigen, die dringend ärztlich untersucht und behandelt werden sollten, kommen in die Sprechstunde am Nachmittag oder werden zur Weiterbehandlung überwiesen. Auch die Ärztinnen und Ärzte, die in den Nachmittagsstunden mit den Krankenschwestern zusammenarbeiten, werden von ungewohnten Situationen herausgefordert: Ein Lungenspezialist klärt unklare Bauchschmerzen ab, inspiziert die Nabelschnur eines Neugeborenen und führt eine Wundreinigung durch. Die Versorgung gelingt hier nur durch die Zusammenarbeit auf Augenhöhe.
Bürokratische Hindernisse Ihre vielfältige Erfahrung lässt Christine Wegener gelassen und ruhig erscheinen. Doch es gibt auch Dinge, die sie aufbringen. Die Zusammenarbeit mit den Behörden verläuft keineswegs immer unkompliziert und zufriedenstellend. Auch wenn es ein Menschenrecht auf »den besten erreichbaren Gesundheitszustand« gibt, hängt die medizinische Versorgung in Deutschland – wie in vielen anderen EU-Staaten – vom rechtlichen Status der Betroffenen ab. Das steht im Widerspruch zur UN-Menschenrechtskonvention. Bei einer durch das Asylverfahrensgesetz vorgeschriebenen Gesundheitsuntersuchung innerhalb der ersten drei Tage wird die Lunge geröntgt, eine Blutuntersuchung durchgeführt und gegebenenfalls eine Stuhlprobe genommen. Darüber hinaus gibt es nur einen beschränkten Zugang zu gesundheitlicher Versorgung. Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz muss für jede medizinische Behandlung eine behördliche Genehmigung erteilt werden. Auch ist für Personen ohne anerkannten Aufenthaltsstatus keine Traumatherapie vorgesehen. Dass viele Neuankömmlinge eine ausführliche Behandlung benötigen oder gesundheitliche Beschwerden gerade dann aufkommen, wenn in Momenten der Stille schlimme Erinnerungen und existenzielle Ängste aufflammen, ist noch nicht im Bewusstsein aller Verantwortlichen in den zuständigen Behörden angekommen. Wenn beispielsweise eine Operation oder eine psychologische Begleitung angezeigt ist, prüft das Gesundheitsamt – meist anhand der Aktenlage – die Dringlichkeit oder Aufschiebbarkeit. »Häufig werden solche Anträge abgelehnt«, weiß Christine Wegener. »Die Betroffenen müssen dann Widerspruchserklärungen abgeben, für die sie jedesmal medizinische Expertisen und Dolmetscher brauchen.« Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen werden daher oft mehrfach begutachtet. Gerade in einem so sensiblen Bereich bedeutet dies jedoch eine zusätzliche Belastung. »Am Ende erhält das therapiebedürftige Kind, das vier Begutachtungen hinter sich hat, gerade einmal zwölf Therapiesitzungen ohne Dolmetscher.« Ein anderes Mal lehnte das Gesundheitsamt die Operation einer beschnittenen Äthiopierin, die unter wiederkehrenden Entzündungen litt, ab, da eine plastische Operation aufschiebbar sei. Mühsam angebahnte Untersuchungen oder Behandlungen können von den Behörden kurzfristig untersagt werden, obwohl die scheinbar vermiedenen Kosten auf das Gesundheitssystem doch irgendwann zukommen – häufig wird es dann viel teurer. »Manchmal ist man so nah dran! Es ist einfach zum Heulen.« Für Christine Wegener sind diese Umstände sichtlich bedrückend.
Die Lage spitzt sich zu Im September schreibt mir Christine Wegener: »In den Notunterkünften finden sich nun viele Menschen mit Verletzungen, die sie auf der Flucht erworben haben: Wunden vom ungarischen Grenzzaun oder kaputt gelaufene Füße, die behandelt werden müssen. Durchfallerkrankungen und Unterkühlungen häufen sich.« Sechs Krankenschwestern betreuen jetzt über 1000 Geflüchtete und Asylsuchende an vier Standorten in Würzburg. »Täglich gibt es unzählige Anrufe von haupt- und ehrenamtlich engagierten Menschen aus der Umgebung«, berichtet sie weiter. »Sie schicken auch Behandlungsbedürftige aus anderen Unterkünften zu uns oder in die Tropenambulanz der Missio.« Waren es im Juli noch 40 Menschen pro Tag, müssen nun 75 behandelt werden. Einmal in der Woche fährt Christine Wegener in die Erstaufnahmeeinrichtung nach Schweinfurt, um dort den Aufbau einer Station nach dem Würzburger Modell zu begleiten. An zwei weiteren Tagen packt sie ihr Handwerkszeug und fährt zum großen Flüchtlingszelt im Stadtteil Zellerau, wo 170 Männer aus Syrien und Afghanistan vorübergehend untergebracht sind. Zwischen Kisten im beengten Container der Security, ohne Krankenliege oder PC, versorgt sie die Patienten. Draußen ist es herbstlich kalt geworden. Wenn das Heizungssystem wieder einmal ausfällt, liegt die Temperatur in den Zelten höchstens noch bei 12 Grad.
Weniger Versorgung verursacht mehr Kosten Wäre Christine Wegener in Bremen tätig, müsste sie nicht unzählige Überstunden anhäufen und könnte unter besseren Bedingungen arbeiten, denn dort erhalten Asylsuchende eine Chipkarte, mit der sie ohne weitere Formalitäten eine ärztliche Praxis ihrer Wahl aufsuchen können. Für das sogenannte Bremer Modell schlossen die Sozialbehörden als Kostenträger bereits 2005 einen Vertrag mit der AOK ab. Seit 2012 hat auch die Stadt Hamburg dieses Vorgehen übernommen. In anderen Städten und Bundesländern vermitteln ehrenamtlich organisierte »Medibüros« oder »Medinetze«, »Praxen ohne Grenzen« oder Einrichtungen wie die »Malteser Migranten Medizin« kostenlose und anonyme medizinische Behandlungen unabhängig vom Aufenthaltsstatus. Dass eine gute Gesundheitsversorgung für alle Beteiligten von Vorteil ist, zeigt eine aktuelle Studie, in der anhand von repräsentativen Daten des Statistischen Bundesamts die Gesundheitskosten für Flüchtlinge ausgewertet wurden. Die Ausgaben bei Asylsuchenden mit eingeschränktem Zugang zu medizinischer Versorgung liegen demnach rund 40 Prozent höher als bei denen, die die Regelleistungen der Krankenkasse in Anspruch nehmen können! Als Grund wird der bürokratische Aufwand für die Antragstellung genannt, der hohe Kosten verursache und häufig zu einer Verzögerung von Behandlungen und damit zu weiteren Ausgaben führe. In Würzburg geben Christine Wegener und ihr Team trotz aller Widrigkeiten nicht auf: »Es ist uns ein Herzensanliegen, dass eine gute Versorgung auch an anderen Orten entstehen kann.« •
Melanie Klimmer (41) ist Ethnologin und Krankenpflegerin. Als Journalistin, Dozentin, Bildungsplanerin, Moderatorin und Konfliktberaterin widmet sie sich Tabu-Themen. www.kurzlink.de/trauma-und-flucht