Gesundheit

Suche und Sucht

Eine schamanische Therapiepraxis im Regenwald Perus heilt abhängige Menschen.von Siegfried Prumbach, erschienen in Ausgabe #5/2010
Photo

In Deutschland konsumieren 9,5 Millionen Menschen Alkohol in gesundheitlich riskanter Form, 2,5 Millionen gelten als Alkoholiker, die Hälfte von ihnen ist klinisch erfasst. 30 Millionen Menschen sind nikotinabhängig, 45 Millionen Deutsche nehmen ständig Medikamente ein, die Hälfte von ihnen, 22,5 Millionen, konsumiert dauernd Psychopharmaka. Nimmt man die substanzfreien Süchte hinzu, wie Konsumzwang, Spielsucht, Internetsucht, Fernsehsucht, Börsenspekulationssucht, ­Arbeitssucht, Genuss- und Beziehungssucht, erscheint fast die ganze Bevölkerung in der einen oder anderen Form süchtig.
Die Entstehung von Süchten liegt, psychologisch gesehen, in einer Störung der Persönlichkeit, die bereits in der Kindheit begonnen hat und die ihrerseits eine Beziehungsstörung der Gesellschaft widerspiegelt. Eine Gesellschaft der Ichbezogenheit, der Vereinsamung und der Trennung, der Beziehungsdefizite und emotionalen Verarmung dröhnt sich in der verzweifelten Suche nach Selbstinitiierung vollkommen zu.
Sucht ist auch eine Suche, eine Suche nach dem, was es in einem Alltag mit zu viel Arbeit und zu wenig Zeit nicht mehr gibt: die Hinwendung zum Eigentlichen, zum Sinn, zum Sein oder einfach in die spirituelle Dimension des Lebens. Wir wurden trainiert, um zu funktionieren und strategisch zu handeln; darin sind wir gut. Das ist vollkommen in Ordnung, nur es fehlt etwas: die Fähigkeit, mitzufühlen. Ohne Mitgefühl für den Nächsten, für Tiere und Pflanzen, für die Erde und ihre Lebewesen, ohne Vertrauen in das Leben, haben wir keine Chance, die Sackgassen gesellschaftlicher Entwicklungen zu verlassen. Empathie oder Mitgefühl ist aber genau das, was bei uns Süchtigen verschüttet ist.

Im peruanischen Regenwald
Der Gedanke liegt nahe, dass aus einer Gesellschaft, die die Ursache des Problems ist, nicht auch dessen Lösung kommen kann. An diesem Punkt der Erkenntnis befand ich mich, als ich zum ersten Mal in den Amazonas reiste. Mein Ziel war ­Takiwasi, das Haus der Gesänge, im perua­nischen Regenwald. Hier leitet der Arzt Jacques Mabit ein gemeinnütziges Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige. Man arbeitet mit den Heilweisen der indigenen Stämme, mit westlichen medizinischen und psychotherapeutischen Methoden und dem Leben in Gemeinschaft als Grundpfeiler zur Resozialisierung der Patienten. In Takiwasi traf ich auf das älteste vom Menschen entwickelte Heilsystem, in dem sich spirituelle Erfahrung, rituelle Handlungen und das Heilen mit Pflanzen verbinden: den Schamanismus. Das schien mir nahe an meiner eigenen Arbeit zu liegen. Als Geotherapeut befasse ich mich mit den Heilwirkungen der energetischen Ökologie. Die Einladung nach Takiwasi war als beiderseitiger Austausch von Wissen und Erfahrung gedacht, und so war ich neugierig, die Methoden dort selbst kennenzulernen.
Jacques Mabit, der mit »Ärzte ohne Grenzen« als junger Mann nach Peru gekommen war, entdeckte in den traditionellen Heilmethoden das fehlende Glied im therapeutischen Umgang mit Drogenabhängigen. Seiner Meinung nach »zeigt Drogensucht einen fast immer unbewussten Versuch, die Grenzen des individuellen Universums zu durchbrechen. Sie drückt eine tiefe Sehnsucht aus, den Sinn der Existenz wiederzufinden.« Diese Suche ist legitim, nur sucht der Drogenabhängige am falschen Ort und auf die falsche Art und Weise.
Neben der Behandlung von Marihuana-, Kokain-, Heroin- und Alkoholabhängigen bietet Takiwasi auch Selbsterfahrungs­wochen für Menschen an, die mit den »weichen«, nicht substanzgebundenen Süchten zu tun haben oder die sich auf ihrem Weg zu diesem Schritt entschlossen haben. Bisher stand diese Möglichkeit nur Spanisch und Französisch sprechenden Menschen offen, doch wird es im kommenden Winter die erste deutschsprachige Gruppe geben, die Takiwasi besuchen kann.
Die Behandlung besteht aus vier Grundsäulen: die Reinigung durch Heilpflanzen, die Bewusstseinserweiterung mit Ayahuasca, einem psychedelischen Getränk, Retreats im Dschungel mit Heilpflanzen und eine strenge Diät. Es mag paradox anmuten, Drogenabhängige oder andere Süchtige mit psychoaktiven Pflanzen behandeln zu wollen, aber in Takiwasi blickt man auf eine Heilungsquote von 67 Prozent zurück. Das ist im Vergleich zu westlichen Therapien enorm. Heroinabhängige bleiben trotz Methadon-Substitution nur zu 9 bis 21 Prozent abstinent. Es gibt nicht einmal verlässliche Zahlen.

Reise ins Unbewusste
Im Schamanismus spricht man von zwei Welten, einer sichtbaren, wie wir sie alle wahrnehmen, und einer unsichtbaren. Die unsichtbare Welt liegt im Unbewussten, in der Welt der Träume, der inneren Visionen oder tiefer Empfindungen, die im Westen als Projektionen, als Scheinwelten gelten. Im Schamanismus sind beide Welten Wirklichkeit. Danach beeinflusst die Welt des Unsichtbaren unseren Alltag in hohem Maß, so wie die unter Wasser liegende Masse eines Eisbergs die Richtung vorgibt, in die er sich bewegt.
Ayahuasca, ein Gemisch aus der Liane Ayahuasca (Banisteriopsis caapi), die dem Getränk den Namen gibt, und den Blättern von Chacruna (Psychotria viridis), öffnet die unbewusste Wirklichkeit. Der Schlüssel des Getränks heißt DMT, Dimethyltriptamin, eine Substanz, die überall vorkommt, in Blumen, Bäumen, Tieren und im Menschen. Die Zirbeldrüse im Zentrum des Gehirns produziert DMT in hohem Maß, wenn der Embryo am 40. Tag der Schwangerschaft zum Menschen wird, im Augenblick der Geburt, bei tiefer Meditation, in Psychosen, bei Nahtod­erfahrungen und in der Stunde unseres Todes. In diesen Momenten betreten wir einen überwältigenden Raum, der, wie der Mediziner Rick Strassmann sagt, geistig-seelische Zustände hervorruft, die als »spirituell« angesehen werden. Das sind Gefühle außergewöhnlicher Freude, Zeitlosigkeit und der Gewissheit, dass unser Erleben »wirklicher als die Wirklichkeit« ist. »Eine solche Substanz (DMT) kann uns dahin bringen, das gleichzeitige Bestehen von ­Gegensätzen zu akzeptieren, beispielsweise von Leben und Tod, Gut und Böse. Sie vermittelt ein Wissen von der Kontinuität des Bewusstseins nach dem Tod, ein tiefes Verständnis der grundlegenden Einheit aller Erscheinungsformen.«
Drogenabhängige und andere Süchtige betreten mit Hilfe von Ayahuasca eine Wirklichkeit, die sie schon immer gesucht haben. Für den Mediziner Strassmann ist es das DMT-Molekül, das die Wirkung hervorruft. Für den Mediziner Mabit ist es darüber hinaus die Art und Weise, wie Ayahuasca verabreicht wird und wie die Erfahrung ins Leben integriert wird. Die Heiler steuern die Ayahuasca-Erfahrung durch ein minutiöses Ritual. Mit ihren heiligen Liedern lotsen sie die Reisenden durch die Wogen der außerordentlichen Erfahrungen und weben mit den Gesängen ein neues (Körper-)Bewusstsein. Die Erfahrungen sind so hyperrealistisch, dass sie nach der psychologischen Bearbeitung der archetypischen Bilder ins Alltagsleben integrierbar sind. Das anschließende Fasten im Dschungel, ohne Kontakt zu Menschen, ist Teil der traditionellen amazonischen Medizin. Der Prozess wird durch »Meisterpflanzen« unterstützt, die nicht halluzinogen sind. Sie dienen der weiteren körperlich-psychischen Reinigung.

Im anderen Raum
In einem aufwendigen Ritual, das die ganze Nacht dauerte, trank ich gemeinsam mit den Patienten, Psychologen, Ärzten, Schamaninnen und Schamanen und dem katholischen Priester des Zentrums Aya­huasca. Ich hatte immer geglaubt, die Anderswelt in meinen beruflichen Erfahrungen und Wahrnehmungsprozessen bereits betreten zu haben. Ein Irrtum. Diese Bilder damals waren vergleichsweise dünn gegenüber der Allmacht »Mutter Ayahuascas« wie die Einheimischen die Pflanze nennen, mit der sie mich in die tiefste Erfahrung meines Lebens stürzte. Ich begegnete in einem Raum-Nicht-Raum einer Qualität, die ich nur als »Liebe Gottes« bezeichnen kann. Sie war weder lieb noch süß, weder männlich noch weiblich, weder hell noch dunkel. Sie war geologisch, gewaltig wie Plattentektonik, und sie zermalmte alles in mir, was noch versuchte, sich irgendwo festzuklammern. Diese Liebe war ein Frontalangriff auf das Ich, und damit meine ich jenes Ich, das die materielle Wirklichkeit für die einzige hält.
Viele Menschen, denen ich in Takiwasi begegnet bin, teilten mir ähnliches mit. Mir wurde klar, dass eine tragfähige Gemeinschaft, wie ich sie in Peru erlebt habe, gelingen kann, wenn ein jeder zu seinem Wesenskern vordringt. Die Folge wäre, das leben zu können, was wir sind, und nicht das, was wir meinen, zu sein.
Der Aufbruch der Kulturkreativen, die Entwicklung neuer Gesellschaftsstrukturen, sollte nicht mit den alten Mängeln starten. Sonst werden nur wieder neue Konzepte von getrennten Ichs erdacht, die weitere Tabus nach sich ziehen, statt dem Raum zu geben, was eine neue Kultur am meisten braucht: Authentizität, Wahrhaftigkeit.


Siegfried Prumbach ist Diplom-Designer und Kunstschmied. Er gehört zu den Pionieren einer modernen Geomantie und Ökotherapie.

Literatur
• Jacques Mabit et al.: Ayahuasca in the treatment of addictions, in Hallucinogens and Health. Greenwood Publishing Group, 2007 (als Übersetzung zu finden bei der Anima Mundi Akademie)
• Frank Pfitzner: Amazonische Heilkunde in der Behandlung der Drogensucht. VDM Verlag 2008
• Strassmann, Dr. med. Rick: DMT, das Molekül des Bewusstseins. AT Verlag, 2004

weitere Artikel aus Ausgabe #5

Bildungvon Jochen Schilk

Wenn dich der Koyote mit Fragen löchert

Der Kalifornier Jon Young versteht sich darauf, Menschen gründlich mit ihrer natürlichen Umwelt zu verbinden. Die Trennung, ­unter der wir modernen Menschen leiden, hält Young für ein mentales ­Konstrukt. Auf der körperlichen Ebene – vor allem durch unsere fünf Sinne, die wir mit den Urahnen aus der Steinzeit und allen Säugetieren gemein haben – seien wir Natur. Deshalb bedient sich Youngs Methode dieser Sinne als Schlüssel zur Rückverbindung.

Gesundheitvon Petra Steinberger

Die Erde in uns

Die Ökopsychologie erforscht die heilende Wirkung von Naturerfahrung und die krankmachende Wirkung zerstörter Natur. Inzwischen findet diese Richtung auch hierzulande Beachtung.

Permakulturvon Ulrike Meißner

»Permafest« zeigt die Vielfalt der Bewegung

Ende August 2010 wurde der kleine Ort Nethen in der belgischen Gemeinde Grez-Doiceau zum Schauplatz des zehnten europäischen Permakulturtreffens (European Permaculture Convergence EUPC) sowie des zweiten französischsprachigen Permakulturfestivals – ein »Permafest«.

Ausgabe #5
Ungezähmt

Cover OYA-Ausgabe 5Neuigkeiten aus der Redaktion