Willkommen in der Mildnis?
Wir haben es mit der Muttermilch aufgesogen: Kultur definiert sich als Gegensatz zur wilden Natur. Das läge in der Natur der Sache. Wird uns genau diese Haltung heute zum Verhängnis?
Im Frühjahr 2009 unterbreitete Ihnen eine »wohlbeleumundete Kulturinstitution« das Angebot, in den argentinischen Nebelwald zu reisen. Wie war ihre spontane Reaktion?
Zunächst ist man erfreut und überrascht und fragt sich: »Passt das überhaupt in das Konzept deines Lebens? Was hast du zu tun mit Argentinien und dem argentinischen Nebelwald?« Ich bin nicht einmal imstande, Spanisch zu sprechen. Es gibt jedoch Einladungen, die man nicht ablehnen kann. Ich wollte mir später nicht vorwerfen, es aus Kleinmut oder Angst nicht getan zu haben. Und so ließ ich mich darauf ein.
Haben Sie die Entscheidung manchmal bereut?
Manche Stationen waren unglaublich strapaziös oder gefährlich, weil wir zeitweise mit Führern unterwegs waren, die der Aufgabe nicht gewachsen waren und so elementare Dinge wie Wasser nicht dabei hatten. Hätte ich das gewusst, hätte ich mich vielleicht dagegen entschieden. Je weiter die Reise zurückliegt, desto weniger möchte ich sie jedoch missen, nicht weil ich eine Neigung für abenteuerliche Erfahrungen habe, sondern weil man sich dabei selbst von neuen Seiten kennenlernt – und das sind wahrlich nicht nur positive Seiten – und sich einiges aus dem alltäglichen Leben relativiert. Manchmal dachte ich etwas dramatisch: »Wer weiß, ob ich überhaupt wieder nach Hause komme« – mit Abstand denke ich: Gott sei Dank, habe ich diese Reise unternommen.
Sie gingen als Schriftstellerin in den Wald. In Ihrem Buch stellen Sie sich immer wieder selbst die Aufgabe: »Beschreibe den Wald«. Wie fanden Sie die richtigen Worte, um die Wildnis zu beschreiben?
Da sprechen Sie das größte Problem eines Menschen an, der über Natur schreibt. Wenn Sie nicht als Biologe oder Naturwissenschaftler reisen, die ihr eigenes Vokabular haben, sondern als Autorin in die Natur gehen und die Erfahrung beschreiben wollen, als Mensch der Natur gegenüberzutreten, können Sie in der deutschen Sprache eigentlich nur zu Metaphern greifen. Es liegt in der Natur der Sache, dass Sie den Wald dadurch verlebendigen, vermenschlichen und einen gewissen hochtrabenden Ton in die Texte legen. Wenn man schon hinter die Oberfläche guckt, dachte ich mir, dann sollte man auch sprachlich das Risiko eingehen, manches ins Poetische oder ins Lyrische zu überhöhen. Ich weiß nicht, ob mir das gelungen ist. Die größte Aufgabe war es tatsächlich, eine Sprache für den Wald zu finden.
Sie berichten, der Wald habe ein Gefühl des Erhabenen in Ihnen erzeugt. Wie kann ich mir das vorstellen?
Ganz schlicht und banal: Wenn Sie als Deutscher mit der Erfahrung unseres deutschen Waldes nach Argentinien reisen, dann machen Sie zunächst eine Erfahrung, die Sie nicht wieder vergessen werden: die eines unglaublich großen Landes, in dem man viele Stunden unterwegs sein kann, ohne einem Menschen zu begegnen. Sie machen die Erfahrung von Landschaft und Natur, bei der Sie den Eindruck haben, hier sei noch nie ein Mensch gewesen. Im deutschen Wald, der erschlossen ist durch Spazierwege, Waldlehrpfade oder Jäger, können Sie solche Erfahrungen nicht machen. Das große Wort des »Erhabenen«, das wir ja aus der deutschen Philosophie kennen, beschreibt dieses interessenlose Wohlgefallen und Staunen angesichts der Natur. Das ist keine Vokabel, die ich für gewöhnlich im Munde führe. Sie machen jedoch die Erfahrung, dass Sie vor Landschaften stehen und sich tatsächlich vorstellen können, der erste und der letzte Mensch zu sein, der das sieht. Sie machen die Erfahrung, wie klein Sie selbst sind angesichts der Größe der Natur und dass es dem Wald ganz furchtbar egal ist, ob Sie wieder herauskommen oder nicht. Diese Erfahrung packt einen ziemlich tief.
Hat Sie der Wald etwas gelehrt? Sind Sie um Erfahrungen reicher, vielleicht sogar weiser zurückgekehrt?
Das wäre mir zu viel! (lacht) Um Erfahrung reicher, gewiss. Man lernt sich auf eine andere Weise kennen. Dass einen das Reisen mit dem eigenen Ich konfrontiert, das ist so banal wie wahr. Gerade wenn man ganz in der Fremde ist und einem auch die eigene Sprache nicht zur Verfügung steht, wenn es nur noch dieses kleine, schäbige Ich ist, das da unterwegs ist, dann merken Sie plötzlich, dass Sie in der Bewegung der Reise eine merkwürdige innere Ruhe haben, in der sich auch die Bereitschaft, zu schreiben, einstellt. Ich bin kein religiöser, auch ganz und gar kein esoterischer Mensch, aber dass ich reicher an Erfahrungen zurückgekehrt bin, kann man wohl sagen.
Einmal schreiben Sie, »Nicht die Natur ist das Problem. Die Zivilisation ist es.« Welche Probleme bereitet uns die Zivilisation?
Ich fand es absurd, wie ein Soldat, der für einen Feldzug gewappnet ist, in die Natur zu ziehen mit »intelligenter Kleidung«, die besonders künstlich ist und deshalb besonders geeignet für die Natur sein soll. Es besteht ein geradezu groteskes Missverhältnis, zwischen dem, was der Mensch braucht, und dem, was er glaubt, zu brauchen, wenn er in die Natur geht. Man kann auch fragen: »Was wollen wir überhaupt dort?« Der Wald braucht Sie nicht, aber vielleicht brauchen wir den Wald, um eine Erfahrung zu machen, die wir in der Zivilisation nicht machen können.
Sie sprachen vom Gegensatz zwischen Mensch und Natur. Andererseits ließe sich auch argumentieren: Der Mensch ist Natur. Es scheint mir interessant, was passiert, wenn unsere gezähmte, zivilisierte Natur auf die ungezähmte Natur trifft.
Das ist richtig. Wir waren auch in einigen Dörfern, wo indigene Bevölkerung zu Hause ist. Das Verhältnis zur Natur dieser Menschen lässt einen sehr still und beschämt werden, weil es einem viel natürlicher erscheint. Es macht auch demütiger, um noch so eine große Vokabel zu gebrauchen, wenn Sie hören, dass Mutter Natur oder Pachamama ein Schluck des Trinkens oder ein Bissen des Essens geopfert wird, um dafür zu danken, dass einem die Natur dies ermöglicht, oder dass die Bewohner im Wald nur so viele Früchte sammeln, wie sie für sich persönlich brauchen, weil sie überzeugt sind, dass alles, was sie darüber hinaus nehmen, die Rache des Waldes zur Folge hat. Dort gehört die Natur den Menschen nicht. Die Menschen sind völlig natürlich in den Naturzusammenhang eingebunden – im Gegensatz zu uns Europäern, denn unser Verhältnis zur Natur ist normalerweise eines der Ausbeutung oder der Sentimentalität, bei dem man glaubt, man könnte dort seine »Seelentiefe« erfahren.
Die Reise stand unter dem Motto »Seelenlandschaften«. Unter anderem ging es dabei um die Suche nach den einheimischen Waldgöttern. Haben Sie die gefunden?
Nein, die habe ich nicht gefunden. In dem Buch habe ich das etwas pointiert ausgedrückt, denn die Waldgötter gibt es tatsächlich in den Legenden der indigenen Menschen. Im Wortlaut der Einladung kam tatsächlich der Begriff »Seelenlandschaften« vor. Dass man in der Natur so etwas wie eine Seelenlandschaft erfahren könne, ist wieder eine typisch deutsche Vorstellung der Romantik – den argentinischen Mitreisenden waren solche Caspar-David-Friedrich-Vorstellungen fremd. Ich entdeckte bei mir eine große Neugierde auf die Naturvorstellung der einheimischen Menschen, aber Götter haben wir nicht gefunden.
Das mag auch an den Begrifflichkeiten liegen. Ich denke da an einen Bericht von David Abram: In einem balinesischen Dorf wurde den »Geistern des Hauses« vor der Türe allmorgendlich gekochter Reis dargeboten. Abends war der Reis verschwunden. Am Morgen darauf legte er sich auf die Lauer – und siehe da: Der Reis wurde Korn für Korn von Waldameisen abtransportiert. Die indigenen Bewohner machten keinen Unterschied zwischen Ameisen und Geistern! Einerseits handelt es sich um eine Opfergabe, andererseits um einen Schutz, der die Ameisen davon abhält, ins Haus einzudringen. Indigene Vorstellungen von Geistern und Göttern stimmen nicht unbedingt mit den unseren überein.
Das ist ein gutes Beispiel. In den Gesprächen, die ich mit indigenen Dorfbewohnern führen durfte, bemerkte ich uns unglaublich schön und poetisch vorkommende Vorstellungen, die aber immer auch einen ganz pragmatischen Sinn haben, der mit dem alltäglichen Leben der Menschen zu tun hat. Wenn wir von Göttern sprechen, landen wir sofort in der Philosophie, im Transzendenten in einem engeren Sinn von Religion. Das ist bei dem, was sich verkürzt als »Naturreligionen« bezeichnen lässt, etwas ganz anderes. Es ist viel näher am eigentlichen Leben und hat deshalb wahrscheinlich auch so viel Plausibilität. Deshalb braucht man auch gar nicht so viele Erklärungen, um das zu interpretieren und zu deuten.
Vielen Dank für das interessante Gespräch, Frau Küchler.
Sabine Küchler (45) studierte Germanistik und Theaterwissenschaft. Die Wahl-Kölnerin ist als Rundfunkredakteurin und Autorin von Prosa, Lyrik und Hörspielen tätig.
Mehr aus dem argentinischen Nebelwald
Sabine Küchlers lyrisch verdichteter, im Stil eines Einklebealbums gestalteter Reisebericht »Was ich im Wald in Argentinien sah« ist soeben im Arche Verlag erschienen.
Wir haben es mit der Muttermilch aufgesogen: Kultur definiert sich als Gegensatz zur wilden Natur. Das läge in der Natur der Sache. Wird uns genau diese Haltung heute zum Verhängnis?
Wenn heute etwas wild und gefährlich ist, dann der Versuch der Zivilisation, totale Kontrolle über jegliche Wildnis zu erlangen. Wir brauchen eine neue Kultur der Wildnis, die nichts mit Zügellosigkeit, sondern mit Einsicht in das Notwendige zu tun hat.
Matthias Fersterer sprach mit der Schriftstellerin Sabine Küchler über ihre Erfahrungen im argentinischen Nebelwald und über ihr Ringen um Worte für die Wildnis.