Titelthema

Schmetterlingszeit

In der Natur finden junge Menschen ihren Weg zum verantwortlichen ­Erwachsensein.von Shanti Eberhard Petschel, erschienen in Ausgabe #5/2010
Photo

Cimalmotto im Tessin, es ist Hochsommer, Zeit der Visionssuche, die Suche nach sich selbst. Ein Tag im wilden Land bricht an. Das Sonnenlicht liegt warm auf den Häuptern der felsigen Berggipfel im Westen. Das Grün der alten Tannen schimmert wie Samt. Hier unten, im Flusstal, tanzen die Elemente. Licht und Materie durchdringen sich. Fast zärtlich schweben Lichtstrahlen durch den milchigen Dunst aus staubfeiner Feuchte.
Ein junger Mann, siebzehnjährig, mit weißblonden, strähnigen Haaren und großen silbernen Ringen in den Ohrläppchen steht am Fluss, fasziniert, staunend, offen. Er lauscht hingegeben. Seine großstädtische Szenekleidung wirkt deplaziert, sein hell gestylter Schopf etwas abenteuerlich. Jetzt steht er dort in der wachen Bewusstheit eines freien Tiers. Er entkleidet sich, findet mit ruhigen Bewegungen zwischen den großen Steinen ganz zum Wasser, beginnt, sich in dem frischen Wasser zu waschen – fast andächtig. Schließlich füllt er seine Flasche mit dem köstlichen Nass und sitzt noch eine Weile still und zufrieden auf einem großen Felsen mitten im ungezähmten Fluss.
Der junge Mann ist einer von zehn Teilnehmern einer Jugend-Visionssuche. Wie die anderen hat er sich für dieses Schwellenritual entschieden, um einen bewussten Schritt ins Lebens eines Erwachsenen zu zelebrieren.

Medizin für die Krise von heute
Was könnte in Zeiten der lebensbedrohlichen Krise der Gegenwart eine wirksame Medizin sein für das offensichtlich verschobene Bewusstsein des modernen Menschen? Wie kann es sein, dass wir die Welt sehenden Auges zugrunderichten, ohne massenhaft in Verzweiflung zu stürzen, ohne unseren Kurs zu ändern, ohne nennenswerten Widerstand zu leisten? Wie können wir es als Gesellschaft schaffen, unser Denken und Handeln bis in den Alltag jedes Menschen hinein zu verändern – weg von der Mentalität der Ausbeutung und zweckdienlichen Benutzung aller lebenden und für unbelebt gehaltenen »Dinge« der Welt? Wie finden wir hin zu einer Zivilisation der human-ökologischen Empathie, wie sie etwa der Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler Jeremy Rifkin propagiert?
Kern der Bedrohung scheint mir die Unfähigkeit des Gegenwartsmenschen zu sein, irgendetwas zu fühlen, wenn »man« sich mit den bedrohlichen Tatsachen und abzusehenden Konsequenzen befasst. Die Angst vor der gefühlten Angst blockiert die Fähigkeit, die Gefahr vollständig wahrnehmen zu können. Deshalb gehen wir nicht in wirklichen Kontakt mit den Ereignissen, nehmen nichts wirklich ernst.
Die Tiefenökologin Joanna Macy sieht angesichts der selbstmörderischen Tendenzen und Konsequenzen unseres globalen Verhaltens die Verdrängung der Fragilität des Lebensnetzes als die Todsünde der gegenwärtigen Menschen an. Der verhält sich so, als könne er den Folgen seines Tuns entgehen.
Diesen von der Realität der natürlichen Welt abgepufferten Geisteszustand beschreibe ich als Delinquenz, als Nicht-Verbundenheit. Wir morden die natürliche Welt und uns selbst, ohne dass unsere Gefühle uns davon abhalten könnten. Junge Menschen unserer Zeit nehmen sehr genau die lebensbedrohliche Dynamik wahr. Sie spüren, dass sie eine tödliche Erbschaft antreten, wenn sie nicht die große Lüge durchschauen, derzufolge wir Menschen nicht zur Natur gehören sollen. Sie sehnen sich nach einem Ende des Kampfs gegen die Natur – sei sie innen oder außen. Wie also können wir uns aus dieser delinquenten ­Betäubung wecken, um in die Verbundenheit zurückzufinden?

Wieder fühlen lernen
Sich selbst fühlen und wahrnehmen lernen: Die Gruppe hat sich mit den sechs Begleitern im großen Rundzelt versammelt. Tiefer und tiefer reichen die Gespräche in die innere Dunkelheit hinein. Es ist die Vorbereitung auf drei Tage und Nächte allein im wilden Land, fastend, in der Seele nach den Wurzeln der eigenen Geschichte grabend. Wer bin ich – so lautet die Frage –, wenn alles Vertraute hinter mir gelassen ist, ich bloß und ungeschützt der wilden Seite meines Lebens gegenübertrete? Wird mir die Schönheit des Landes, der Zauber des Unberührten, die Weite des Sternenhimmels noch mehr Angst machen – oder mich spüren lassen, dass ich dazugehöre, zu Hause bin, angenommen in meiner eigenen Schönheit und Wärme? Das Holzfeuer im Mittelpunkt des erwartungsvollen Schweigens knackt, wirft zuckende Schatten auf die goldbraune Patina der Zeltwand.
Wenn der Sprechstab die Runde durch den aufmerksam lauschenden Kreis macht – die rituelle Form, um im Kreis ungestört von sich sprechen zu können –, werden die wesentlichen und im Moment fühlbaren Wichtigkeiten beherzt ins Wort gebracht. Eine junge Frau, bald Mitte zwanzig und von Zweifeln über ihre Berufsentscheidung hierher geführt, ergreift sichtlich bewegt den knorrigen Holzstab. Alle hören aufmerksam zu. Vorsichtig tastend schält sie aus ihrem Innersten namenlose Wut heraus, die ihr die Kehle zuschnürt, sie ringt nach Fassung. Längere Pausen gönnt sie sich beim Reden, fühlt, wie es in ihr zu toben beginnt; sie versucht, zu schlucken – um dann doch tief und tiefer zu atmen, sich der am inneren Horizont auftauchenden Klarheit zu öffnen: Woher kommen ihre täglich gefühlte Müdigkeit, ihre Lähmung, ihr Gefühl von Taubheit und Resignation? Warum fällt es ihr schwer, die Neugier auf das Leben zur Tat werden zu lassen?
Sie hat in den letzten Tagen durch Erfahrungen in der wilden Natur neue Einblicke gefunden: Es ist ihre in unverarbeiteter Verletztheit gefangene Mutter, die sie zu fesseln, nicht aus der Umklammerung zu entlassen scheint. Die im Alltag so oft gefühlte Lähmung und Schwere scheint aus dieser Richtung zu kommen. Hat sie eine tiefsitzende Verwechslung der Ursprünge ihrer Schwermut zur Gewohnheit werden lassen? Hat das Erlebnis der Vergewaltigung der Mutter seinen Weg in das Energiesystem der jungen Frau gefunden, ihr die Matrix der Angst vor Übergriff und Entmächtigung eingepflanzt? Und wenn es so wäre, wie kann es ihr gelingen, sich von diesem alten und fremden Schmerz mit seinen verzweigten Konsequenzen zu lösen?
»Ich bin die Frau, die ihre wilde Stimme findet, sich dem Leben öffnet und sich selbst erlaubt, glücklich zu sein!«
Diesen selbstgefundenen Kraft-Satz wird sie wie ein Mantra in sich tragen, wenn sie sich in wenigen Tagen auf den Weg zu ihrem Platz hoch oben im Wald der Riesen-Lärchen aufmacht, um dem Himmel nah zu sein und die eigenen Wurzeln zu heilen. Aus Leibeskräften wird sie schreien, Schmerz und unbändige Wut herauslassen und spüren, wie stark sie in Wirklichkeit ist, wenn sie sich nicht mehr einschränken lässt durch Regeln und Bestimmungen, die in der Dichte des urbanen Lebens scheinbar gebraucht werden, um die Enge erträglich und sicher zu machen. Hier draußen will sie die Kraft der wilden Wesen der Welt studieren, an der Quelle trinken – und in der letzten Nacht mit Feuer und Steinkreis ein Heilungsritual durchführen, ein Ritual für sich, die Mutter, den Täter – und für die ganze, verrückte Welt …

Ausweg in wilde Freiheit
Visionssuche, eine intensive Selbst- und Naturerfahrung, entfaltet ihre größte Wirksamkeit, wenn sie als zeremonielles »Gesamtkunstwerk« gestaltet wird, Schwelle eines Lebensübergangs. Sinnvoll ist sie, wenn alte Verhaltensmuster nicht mehr tragfähig sind, das Neue noch nicht geboren ist. Gerade für junge Menschen im Übergang ins eigenständige Leben bietet sie sich an, für die wütend vorwärts Drängenden, die mit den größten Potenzialen, mit der größten Lebenswut. Oft sind Menschen heute gehemmt, trauen sich selbst nichts zu, zweifeln, leiden unter dem Stau unerwünschter Emotionen. Eine existenzielle Begegnung mit der inneren und der äußeren Natur macht im urbanen Alltag eher Angst, wird verdrängt. Auch erlaubt die Hektik des alltäglichen Pflichtprogramms selten den Raum, kundige Mentoren zu finden und um Unterstützung zu bitten. Damit wir uns im »ganz normalen« Leben zurechtfinden, lehrt uns unsere Kultur vor allem den Umgang mit Techniken, die uns scheinbar vor Einflüssen der wilden Natur schützen wollen, uns ein bequem-zivilisiertes Leben erlauben. Alles ungezähmt Lebendige erscheint verdächtig.
Im Alleinsein in der Natur entsteht eine ganz andere Erfahrung. Durch die Präsenz der Gruppe und die achtsame Begleitung durch die Leiter erhalten die Suchenden ein Band des Vertrauens, das zum Bleiben im Sturm der Herausforderung und zur Überwindung der Angst verhilft.
Das Mitgefühl – in Schmerz und Freude – mit sich selbst und den anderen, die in der Gruppe einen ähnlichen Weg gehen, die Vergleichbares erleben und von sich mitgeteilt haben, führt direkt zurück in die soziale und ökologische Verbundenheit mit dem, was außerhalb von uns ist: die Welt. An der Nahtstelle zwischen innen und außen ist es, wo durch das Erleben von sinnlicher Berührung – durch Wind, Sonnenwärme, Regen, Pflanzen und Tiere – etwas jedem Innewohnendes eingeladen und aufgeweckt wird, das neuen Lebenssinn entstehen lässt: das tiefe Empfinden dafür, zur natürlichen Welt zu gehören und einen Platz unter den Menschen auf der Erde zu haben, wo ungebrochenes Lebensrecht eine existenzielle Grundbefindlichkeit unterschiedslos aller ist.
Visionssuche ist – das weiß ich aus bald zwanzigjähriger praktischer Anwendung – fähig, die unbewusste Hypnose der modernen Menschen aufzubrechen, einen Ausweg in »wilde Freiheit« aufzuzeigen, zu berühren und berührbar zu machen. Junge Menschen können im Erleben von essenzieller Bezogenheit auf­einander, mit den Begleitern aus älteren Generationen, mit Pflanzen, Tieren und kosmischen Elementen in unverstellte Berührung kommen.Sich in Kontakt erfahren, unvermittelt und intim, von Du zu Du – das ist eine unvergessliche Erfahrung von Zusammenklang mit der Welt. Empathie wird substanzielle Erfahrung und reale Befindlichkeit; Kooperation wird lebensfördernde, biologische Konsequenz. Nur wenn wir uns – wohlwollend und das Beste erwartend – gegenseitig unterstützen und fördern, werden wir genau das erfahren können.
Der weißblonde junge Mann, der sich im trinkbaren Fluss ­badete, hat sich übrigens während seiner Solo-Zeit im wilden Land dafür entschieden, die Kreisläufe des Lebens zu studieren, sie zu verstehen und das Leben in Kreisen zu feiern. 

 

Angebote und Lesestoff zu Vision Quest
www.creavista.org
www.visionssuche.net
Literatur:
• Sylvia Koch-Weser, Geseko von Lüpke: Vision Quest. Visionssuche: In der Wildnis allein auf dem Weg zu sich selbst. Drachen Verlag, 2009
• Shanti Petschel: Reifeprüfung Wildnis – Endlich erwachsen werden. Arun Verlag, 2010
• Franz P. Redl: Übergangsritualte. Visionssuche, Jahresfeste, Arbeit mit dem Medizinrad. Drachen Verlag, 2009

weitere Artikel aus Ausgabe #5

Gerechtigkeit & Friedenvon Claus Biegert

Von den weißen Wurzeln des Friedens

Vor tausend Jahren verwandelten die ­Irokesen mit Hilfe eines legendären »Friedensstifters« eine Ära der Grausamkeit in einen stabilen Friedensbund.

Naturvon Matthias Fersterer

Notizen aus der wilden Welt

Wer sich an einem heißen Sommertag mit nicht viel mehr als ein paar Fragen über Gott und die Welt im Gepäck auf einen Streifzug durch einen beinahe wilden Wald begibt, kann allerlei lernen, vor allem, wenn er den Libellen, Mücken, Farnen und Schachtelhalmen lauscht.

Bildungvon Bastian Barucker

Los! Geht raus zum Spielen!

Der US-Amerikaner Richard Louv provoziert mit der Diagnose eines Natur-Defizit-Syndroms bei Kindern in seinem Buch »Last Child in the Woods« (sinngemäß: Das letzte Kind, das noch im Wald spielt).

Ausgabe #5
Ungezähmt

Cover OYA-Ausgabe 5Neuigkeiten aus der Redaktion