Lebensunternehmung »Marke Eigenbau«.von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #6/2011
Erinnern Sie sich noch an Lotta? Sie wissen schon, die kleine Schwester von Jonas und Mia-Maria aus der Krachmacherstraße. »Mit mir ist es komisch«, lässt Astrid Lindgren ihre kleine Heldin sagen, »ich kann so viel.« Je länger sie darüber nachdenkt, desto gewisser ist sie sich, dass sie alles kann, oder besser: fast alles. Denn einmal übernimmt sie sich – und plötzlich ist der Schweinsbär weg, während sie den Müllbeutel noch in der Hand hält … Aber darum geht es hier gar nicht, es geht ums Können und Selbermachen.
Selbermachen? Selbermachen! Es wird wieder selbergemacht, oder zumindest wird viel darüber geredet und geschrieben: 2008 rief Vivienne Westwood ihrem Publikum bei der Pariser Modewoche zu: »DIY – do it yourself! – kauft nicht meine Kleider … Macht selbst welche. Mixt Second-Hand- und Retroklamotten mit Ethno-Stoffen, verwendet Taschentücher als Schlüpfer, mischt Sicherheitsnadeln mit Schmuck. Aber vor allem: Macht was!« Im selben Jahr prognostizierte das Zeitgeist-Manifest »Marke Eigenbau« den »Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion«. So viel Selbermach-Optimismus sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir noch in einer fremdversorgten Gesellschaft leben, in der sich viele kaum daran erinnern, dass, geschweige denn, wie Dinge des alltäglichen Bedarfs selbstgemacht werden können. Oberflächlich betrachtet, mag die absolute Fremdversorgung, in der wir leben, wie ein Schlaraffenland, wie die Erfüllung eines Menschheitstraums anmuten. Und doch verhungern wir an gedeckten Tafeln, wenn schon nicht physisch – das überlassen wir anderen –, so doch seelisch und geistig: Burn-out, Depression und Sinnverlust sind zu Volkskrankheiten von endemischem Ausmaß geworden. Der scheinbare Wohlstand unserer industriell gefertigten Warenwelt kann sich schnell als Armut entpuppen, wenn man nur einmal versucht, eine Drucksache, deren Größe geringfügig über dem DIN-Maß liegt, in einen industriell normierten Briefumschlag zu zwängen. Die beste und schnellste Abhilfe schafft da: Selbermachen. Selbermachen kann uns Tränen der Freude und der Verzweiflung in die Augen treiben – je nachdem, ob wir etwas selbermachen wollen oder selbermachen müssen, und ob das Selbermachen durch äußeren Mangel erzwungen oder durch innere Fülle beflügelt wird.
Selbermachen ermächtigt Eine, die selbermacht, weil sie möchte und zunehmend auch kann, ist Lea. Die zwanzigjährige Studentin lebt in »einer zauberhaften Kleinstadt irgendwo in Deutschland«. Unter dem Pseudonym »Simplicita« unterzieht sie sich gerade einem Selbstversuch, den sie in ihrem Blog dokumentiert: Hundert Tage will sie konsumlos leben und nur für Miete und die Essenskasse ihrer Wohngemeinschaft Geld ausgeben. Da es mit Konsumverweigerung alleine nicht getan ist, begann sie, selberzumachen, was geht – was nicht geht, tauscht sie ein: zum Beispiel selbstgebackenen Kuchen gegen Schuhreparatur. Dabei entdeckte Lea ganz neue Qualitäten an sich: Beim Einwecken, Backen, Schneidern habe sie ein tiefes Vertrauen in das Zusammenspiel ihres Körpers mit ihrem Kopf entwickelt. Als schriebe sie in Lottas Nachfolge, erklärt sie selbstbewusst: »Wenn ich nur will, kann ich alles. Diese Selbstermächtigung ist das Geschenk des Selbermachens. Menschen mit Kreativität und Zeit sind weitaus weniger Grenzen gesetzt als jenen mit einem Haufen Geld.« Sicherlich gab und gibt es radikalere Versuche von Konsumverzicht. Doch als ich mich mit Lea am Telefon unterhalte, habe ich das Gefühl, sie spricht nicht für sich allein, sondern stellvertretend für die größer werdende Schar jener, die nicht in autarken Einödhöfen, sondern in Stadtwohnungen leben und dennoch nach Auswegen aus einer lebensfeindlichen Konsumgesellschaft suchen. Auch für Andrew Wagner, Mitherausgeber des »American Craft Magazine« ist das Entscheidende am Selbermachen die Selbstermächtigung: »Haben sich Menschen erst einmal selbstermächtigt, gibt es kein Zurück mehr«, erklärt er in dem Dokumentarfilm »Handmade Nation«, in dem die jüngste Selbermachbewgung in den USA beleuchtet wird. Wie wohl junge Menschen wie Lea die Städte verändern werden? Werden die Städte der Zunkunft bunt schillernd sein, so wie sie vielleicht Friedensreich Hundertwasser entworfen hätte? Grün und energieautark, wie die »Transition Towns« in Rob Hopkins’ Energiewende-Handbuch? Oder lebensfördernd und gemeinschaftlich wie die Stadt, in der die Subsistenzforscherin Veronika Bennholt-Thomsen gerne leben möchte (siehe Seite 47)?
Selbermachen ist subversiv Menschen, die schon heute Farbkleckse in die Städte zaubern, sind »yarn bomber« oder »urban knitter« genannte Street-Art-Guerilleros, die nicht mit Spraydosen, sondern mit Stricknadel und Wollknäuel ausgerüstet sind. Sie machen Stadtlandschaften individueller, farbenfroher und fröhlicher, indem sie Gegenstände wie Laternenmasten, Zäune oder Straßenschilder einstricken. Das Spektrum des Stadt-Strickens reicht von der kuscheligen Stadtverschönerung über Guerilla-Marketing bis hin zu subversiver Konzeptkunst mit eingeplanten Funktionsstörungen, etwa durch eingestrickte Türen, Telefonzellen oder Panzer, wie in Dänemark als Protest gegen den Irak-Krieg geschehen. Neben solcher offen zur Schau getragenen Gesellschaftskritik ist das Selbermachen an sich bereits ein politisches Statement. Selbermachen unterwandert die Mechanismen der globalisierten Produktion. Man braucht nur einmal die Reise eines industriell gefertigten Kleidungsstücks mitzuverfolgen, das buchstäblich um den halben Erdball flattert, bevor es beim Textildiscounter oder in der Edelboutique hängt, um sich vor Augen zu führen, dass nichts so ökologisch, ressourcenschonend und fair ist wie Dinge, die lokal in kleinteiliger Produktion gefertigt wurden. Ähnlich wie Simplicita tauscht auch »Miss Elmlid« Selbstgebackenes gegen Naturalien. Neben ihrem Brotberuf bei einem dänischen Modeunternehmen bäckt die dreißigjährige Wahl-Berlinerin mit schwedischen Wurzeln Brot. Da das garantiert hefefreie Sauerteig-Weißbrot, das sie von zu Hause vermisst, in Deutschland nicht zu bekommen war, begann sie kurzerhand, selbst mit Sauerteig zu experimentieren. Zeitweise blubberten in allen Ecken und Winkeln ihrer Wohnung Sauerteigkulturen vor sich hin, schreibt sie auf ihrem Blog. Nach einem Jahr des Versuchens, Ausprobierens und Hospitierens bei Meisterbäckern war sie mit ihrem Backwerk zufrieden. Um ihren immer größer werdenden Brotausstoß loszuwerden, begann sie zu tauschen: Brot gegen Dinge, die mit Hingabe gemacht wurden, die in guter Absicht gekauft wurden, die wertlos für deren Besitzer, aber wertvoll für jemand anderen sind. Sie verkaufe ihre Sauerteigwecken deshalb nicht, weil diese ohnehin unbezahlbar seien: »Wie wollte man sie auch bewerten? Mein Sauerteig muss mindestens vierundzwanzig Stunden gehen, zu Beginn knete ich ihn alle zwanzig Minuten, manchmal stelle ich mir sogar nachts den Wecker. Außerdem interessieren mich neue Erfahrungen mehr als Geld. Alles ist eben nicht käuflich.«
Selbermachen macht unabhängig Ihre in liebevoller Handarbeit gefertigten Puppen und Kinderklamotten zu verkaufen, fand zunächst auch Kerstin Brömmer befremdlich. Inzwischen hat die dreiundreißigjährige Mutter auf ihrem Hof in der Nähe von Hamburg einen Laden eröffnet und ist stolz auf das Geld, das sie dort verdient, da es »aus den Ideen meines Herzens und der Arbeit meiner Hände entstanden ist«. Immerhin könne sie davon die Biokiste für die Familie und die Kleidung aus Naturmaterialien für die Kinder bezahlen, meint Kerstin. Ihre damals noch ungeborene Tochter war es auch, die für die gelernte Bankkauffrau den Anstoß gab, sich auf das zu besinnen, was ihr am meisten Freude bereitet – »das Verwirklichen von Ideen mit meinen Händen und schönen Materialien«. Während der Schwangerschaft sei in ihr der Wunsch herangereift, eine »Schutzengelpuppe« für die damals noch ungeborene Tocher zu machen. Gelernt habe sie das Handarbeiten von ihrer Großtante und habe sich als Kind einen regelrechten Strickvirus eingefangen. Das Selbermachen ist für viele Menschen der Einstieg in die finanzielle Unabhängigkeit. So auch bei meiner Schwester Regina: Vor drei Jahren, als das Erziehungsgeld auszulaufen drohte, stand sie vor der Wahl, Hartz-IV zu beantragen oder ihren Lebenstraum zu verwirklichen – sie entschied sich für die Selbständigkeit. Schon seit längerer Zeit hatte die gelernte Keramikmeisterin ihre Liebe zum Schneidern entdeckt, hatte auf Flohmärkten Recyclingstoffe aufgespürt und mit farbenfrohen, aktuellen Stoffen kombiniert, um daraus Unikate für kleine Rebellen und Blumenkinder zu nähen. Diese vertreibt sie erfolgreich, wie viele andere Selbermacherinnen auch, über die Online-Plattform DaWanda. Diese 2006 nach dem amerikanischen Vorbild Etsy gegründete Plattform hat die Vertriebswege für Selbstgemachtes revolutioniert. Hier werden nicht uniforme Produkte, sondern handgearbeitete Unikate gehandelt. Die individuelle und ungezwungene Anmutung sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei Etsy und DaWanda längst Großkonzerne wie Holtzbrinck oder Burda eingestiegen sind.
Selbermachen ist gelebte Meditation Beim Selbermachen habe sie ein Gefühl des »Ganz-bei-sich-selbst-Seins«, es sei für sie eine Art gelebter Meditation, erzählt Regina. »Eine Verankerung in der greifbaren Realität« ist auch für den Soziologen Richard Sennett eine der Belohnungen für den Erwerb handwerklicher Fähigkeiten. Als Handwerk bezeichnet er dabei nicht nur klassische Gewerke, sondern jede Arbeit, die um ihrer selbst willen gut gemacht wird und bei der praktisches Handeln und Denken im ständigen Dialog stehen. Ähnliches berichtet auch Bloggerin Simplicita. Es scheint, als könne uns das händische Arbeiten in unsere Mitte bringen und erden, in einem konkreten und auch in einem umfassenden Sinn. In der Ergotherapie wird Handarbeit eingesetzt, um Menschen dabei zu unterstützen, zu ihren ureigenen Bedürfnissen zurückzufinden. Regina berichtet von einer weiteren Ebene: Seit sie so viel »bei sich selbst sein« könne, habe sich ihr Gefühl der Verbundenheit mit unserer Erde intensiviert. Seitdem ist sie auf der Suche nach mehr Nachhaltigkeit, stoße dabei jedoch an Grenzen – an die des Markts, weil lokal gefertigte Ökostoffe nur in »mauen Farben« und mit »uninspirierten Mustern« zu haben sind, und an die des Selbermachens, weil sie als Kleinstunternehmen derzeit Stoffe nicht selbst bedrucken lassen könne. Dennoch will sie ihren Wunsch nach einer Verbindung von Ästhetik und Ethik weiterverfolgen. Die Ökopsychologie beschreibt unseren räuberischen Umgang mit der Erde als kollektive Neurose. Womit wir umgehen, das hängt uns an. Würden wir klarer erkennen, dass wir ein Teil der Erde sind, und würden wir achtsamer mit unserem Heimatplaneten umgehen, wenn wir die Materialien der Erde wieder öfter sinnlich erleben würden? Immerhin formt nicht nur der Töpfer den Ton, sondern auch der Ton den Töpfer, wie die Philosophin und Handwerkskennerin Christine Ax aus Aristoteles zitiert. Satish Kumar, Friedensaktivist und Herausgeber des Magazins »Resurgence«, geht noch einen Schritt weiter: »Handarbeit und Kunsthandwerk sind spirituelle Praktiken, durch die wir die materielle Welt wertschätzen und in unserem Leben ein Gefühl für Schönheit und Großzügigkeit entwickeln.« Die vorgestellten Selbermacherinnen sind allesamt Autodidaktinnen, Amateurinnen, vielleicht sogar Dilettantinnen – dies ist keineswegs abschätzig gemeint, ganz im Gegenteil: Im ursprünglichen Wortsinn ist ein Dilettant jemand, der sich an einer Sache erfreut, ein Amateur, ein »Liebhaber«, der eine Sache aus Leidenschaft tut, und auch wer Autodidakt ist, befindet sich in guter Gesellschaft: Abraham Lincoln brüstete sich damit, kaum ein Jahr zur Schule gegangen zu sein, Rainer Werner Fassbinder und Orson Welles besuchten nie eine Filmhochschule, der Violin-Virtuose Niccolò Paganini soll sich seine Kenntnisse im Selbststudium angeeignet haben, ebenso der Komponist Arnold Schönberg. Auch Albert Einstein war Autodidakt. Dass sie anfangs nicht von offizieller Seite anerkannt wurden, hinderte diese Meister nicht daran, sich in ihrem Bereich zu meisterlichen Leistungen aufzuschwingen. Gut zehntausend Stunden Erfahrung sind vonnöten, um eine handwerkliche Fertigkeit zu erlernen, schreibt Richard Sennett. Dies entspricht etwa den fünf bis sieben Jahren, die Handwerksinnungen und Hochschulen heute noch bis zum Meister- oder Master-Titel ansetzen. Im Gegensatz zum quantitativen Aspekt der Zeit spricht Max Horkheimer in seinem Aufsatz »Begriff der Bildung« von ihrem qualitativen: »Der Sache, der ich Zeit schenke, schenke ich Liebe.« Zeitfülle und Liebe oder Hingabe an eine Sache oder an einen Meister, von dem wir lernen möchten, sind also zwei Qualitäten, die uns auf den Weg der Meisterschaft führen. Mindestens eine Sache wäre noch hinzuzufügen: der Wunsch, überhaupt Meisterschaft zu erlangen, denn »unsere Wünsche«, erinnert uns Goethe, »sind Vorboten der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden«.
Selbermachen heißt lernen »Nie habe ich so intensiv und viel gelernt wie in den Jahren meiner Selbständigkeit«, erzählt Regina. Die Lust zum Selbermachen hat vielleicht auch damit zu tun, dass uns unsere Eltern ganz bewusst hemmungslos ausprobieren und selbermachen ließen: Kochen, Schnippeln, Werken, Hämmern, Backen, Schneiden, Kleben, Möbel verrücken, Schreibmaschineschreiben – nichts war von vornherein verboten. Anders dann in der Schule, wo alles verboten war, was nicht ausdrücklich erlaubt war. Was der amerikanische Philosoph Alan Watts 1967 kritisierte, hat auch hierzulande nichts von seiner Aktualität verloren: »Unser Bildungssystem tut nicht das geringste, um uns wesentliche Kompetenzen zu vermitteln. Wir lernen weder, zu kochen, Kleidung zu nähen, ein Haus zu bauen, uns zu lieben noch andere elementare Dinge des Lebens. Die Schulbildung unserer Kinder ist vollkommen abstrakt. Sie erzieht sie zu Groß- und Einzelhändlern, zu Verwaltungsangestellten oder zu anderen verkopften Gestalten.« Dabei bekommen wir alles mit, was wir brauchen: »Jedes Kind«, schreibt Christine Ax in »Die Könnensgesellschaft«, »kommt mit dem Bewusstsein seiner Vollkommenheit auf die Welt«. Bildung müsse deshalb »auf die Förderung aller Fähigkeiten und Begabungen setzen, die ein gutes Leben braucht.« – Womit wir wieder bei Lotta wären. Die Geschichte »Lotta kommt in die Schule« hat Astrid Lindgren nie geschrieben. Sollte die patente Alleskönnerin je eingeschult werden, wünsche ich ihr, dass sie in eine Schule des guten Lebens kommt, wo sie von Meisterinnen und Meistern angeleitet wird, ihren eigenen Weg zu gehen, anstatt zum Rädchen im Getriebe eines kränkelnden Apparats zurechtgehämmert zu werden. Nein, das will ich mir nicht vorstellen – eine Lotta, die später mal im Großraumbüro, an der Supermarktkasse oder beim Amt arbeitet, die in der Pause mit den Kolleginnen über Dauerwellen und Dunstabzugshauben klönt, nach Feierabend noch schnell am Supermarkt haltmacht und vergessen hat, dass sie einmal alles konnte. »Pfui, Fransson« – wie Lotta sagen würde – »bloß das nicht!«, denke ich und möchte ihr zurufen: »Wir können fast alles, kleine Lotta ...