Ein baufälliges Barockschloss nahe Leipzig, alleinstehend am Ortsrand, ein Wassergraben, sechs Hektar Wiesen, Gärten, Ställe drumherum – spontan erwerben es vier Familien bei einer Zwangsversteigerung. Hinter ihnen liegt ein typischer Findungsprozess: In Gruppenarbeit zu gewaltfreier Kommunikation oder Gemeinschaftsbildung nach Scott Peck hat die Erfahrung ungeahnter Nähe und Empathie füreinander in ihnen die Sehnsucht geweckt, gemeinschaftlich zusammenzuleben und dabei mehr Frieden in die Welt zu bringen, vielleicht sogar gemeinsam politisch zu handeln. Schon in den ersten Tagen zerplatzt das große Wir-Gefühl. Man streitet über das Vorgehen beim Ausbau des Schlosses. Der Architekt, eines der Gemeinschaftsmitglieder, will nicht zu klein denken und einen mit der bisherigen Stadtwohnung vergleichbaren Standard herstellen. Anderen geht das zu schnell, sie fordern Reduktion aufs Wesentliche. Wer hat die Entscheidungsmacht? Man verrennt sich in Alternativlosigkeiten. Die acht Erwachsenen streiten sich als Eigentümer eines gemeinsamen Hauses. Alle stehen im Grundbuch, ein Förderantrag beim Denkmalschutzamt kann nur zu acht unterschrieben werden. Zwar gab es von Anfang an den Plan, eine Genossenschaft zu gründen, an die das Haus übertragen wird, aber solange sich die Beteiligten nicht einig sind, liegt er auf Eis. Der Konflikt überfordert die Gruppe. Er lässt sich nicht mehr im gewaltfreien Gespräch lösen. Zwei Familien gehen, eine weitere kommt hinzu, bleibt aber nur eine Weile. Handwerker kommen und sanieren erste Räume, Geld muss beschafft werden. Alle plagt die Frage, ob sie im Wasserschloss zur richtigen Zeit am richtigen Ort seien. Schließlich bleiben vier Erwachsene und fünf Kinder. Nach drei anstrengenden ersten Jahren kommen sie langsam zur Ruhe. Eines Nachts schauen sie auf das Schloss, und zum ersten Mal spricht es zu ihnen: »Ich habe Zeit«, sagt es. »Warum denkt ihr ständig daran, was ihr als nächstes tun müsst? Kommt an, kommt nach Hause, bleibt bei mir!« Was benötigt die kleine Gemeinschaft, um sich angekommen zu fühlen? Warmes Wasser in den Bädern, damit sich niemand mehr vor dem Winter grausen muss. Vor allem aber eine geräumige Küche, die nicht unmittelbar an eine der persönlichen Wohnungen angrenzt. Doch einen geeigneten, großen Raum für eine Gemeinschaftsküche gibt es nur im unrenovierten, unbeheizbaren Teil des Hauses. Nicht beheizbar? Egal! Es ist ist doch Sommer! Alle legen Hand an, verputzen notdürftig Wände, legen staunend alte Farbschichten frei, suchen Möbel zusammen, verlegen Kabel. Es wird ein Provisorium, aber es wird schön. Wenn die Menschen hier zusammensitzen, sind sie froh. Hier lässt es sich mit Gästen sein, ohne andere Schlossbewohner zu stören. Kann nicht das ganze Anwesen auf diese Weise saniert werden? Wie würde sich ein selbstbestimmtes, sinnvolles Bauen anfühlen? Ein Freund des Projekts hatte zu Jahresbeginn viel Arbeit in einen Antrag für Denkmalschutz-Fördermittel investiert. Er war bewilligt worden. Die Konsequenz wäre eine große Baustelle im kommenden Frühling. Alle merken, wie sehr ihnen das bevorsteht. Sie treffen eine Entscheidung: Wir bauen nächstes Jahr nicht, sondern kommen zur Ruhe. Die zugesagten Gelder lassen sie verfallen. Seitdem stehen mehr Besucher denn je vor der Tür und fragen, wie sie mithelfen können. Eine ältere Nachbarin kommt vorbei und erzählt, sie hätte als Kind erlebt, wie ein Zug mit KZ-Häftlingen im Ort Halt machte. Die Häftlinge hätten eine Nacht im Schloss verbracht. Sie weint. In der Schlossgemeinschaft leben eine Geigerin, eine Gitarristin, ein Pianist und inzwischen vier musizierende Kinder. Seit sie eingezogen sind, geben sie nicht nur in der Halle des Schlosses Konzerte, sondern jedes Jahr auch eines in der Dorfkirche. Dieses Jahr findet es am Weltfriedenstag statt, und sie widmen es den namenlosen Häftlingen, die eine Nacht im Dorf verbracht haben.
Die Geigerin Ulrike Schauer-Wystrik kommt seit Jahren zu uns nach Klein Jasedow, um an Kursen über alte Musik teilzunehmen. Wir kannten bislang nur ihr Geigenspiel. Heute, einen Tag nach dem Gespräch mit Werner Küppers, erzählt sie uns ihre Schlossgeschichte auf einer Bank unter Pflaumenbäumen. »Geh nach Hause!« – das war der Rat der Meistin an den Bauernburschen. »Kommt nach Hause!«, sagt das Schloss seinen umtriebigen neuen Bewohnerinnen und Bewohnern. Einen Rat, der zweimal gegeben wird, sollten wir ernstnehmen. Wie kann Oya nach Hause kommen? Alles in unserer Kultur ist darauf ausgerichtet, dass es irgendwann einmal besser werden soll. Ganz selbstverständlich gilt der Grundsatz: Erst die Arbeit, dann das Spiel. Erst nachdem man das Haus ausgebaut hat, darf man sich entspannen und glücklich sein. Bis dahin heißt es: Zähne zusammenbeißen, durcharbeiten, funktionieren.
Dass die Gegenwart schön sein darf, dass es in jeder Sekunde möglich ist, sich in der Welt zu Hause zu fühlen – das bricht mit dem Prinzip des Leistungs- und Fortschrittsdenkens. Dieses über Jahrhunderte in uns Mitteleuropäern epigenetisch* verankerte Prinzip lässt sich nicht in ein paar Seminaren zu gewaltfreier Kommunikation abschütteln. Es hält uns umklammert wie die Eisenreifen das Herz des Eisernen Heinrichs im Märchen vom Froschkönig. Erst existenzielle Krisen sprengen solche Reifen. Immer wenn so ein Ring bricht, ist ein kleiner, partieller Ausstieg aus der Megamaschine* gelungen. Im besten Fall hat er im Innen wie im Außen so radikale Folgen wie im Beispiel von Ulrikes Gemeinschaft. Alle gemeinsam hatten den Mut, zugunsten ihrer eigenen Integrität auf viel Geld zu verzichten. Sie konnten der Versuchung, im Sinn der Megamaschine »erfolgreich« sein zu wollen, widerstehen.
Ulrike Schauer-Wystrik Den Bau voranzutreiben, hatte für uns seit Beginn des Projekts im Jahr 2012 etwas Überlebenswichtiges: Alles hing davon ab, ob wir Gelder auftreiben, Termine für Anträge einhalten, geeignete Handwerker finden würden und so fort. Wenn etwas nicht klappte, kam ein Gefühl von lebensbedrohlichem Versagen auf. Erst als wir in der improvisierten Sommerküche saßen, wussten wir: Niemand bedroht uns. Das Haus fällt nicht morgen zusammen, wir dürfen uns guten Gewissens für einen langsameren Rhythmus entscheiden. Seither treffen wir uns oft, um dem nachzuspüren, was hier am Ort als nächstes geschehen will. Dafür war es gut, einen regelrechten Winterschlaf zu halten, eine Zeit, in der scheinbar gar nichts vorangegangen ist – aber sie hat sehr zu unserem Ankommen am Ort beigetragen! Lara Mallien Dieser Prozess des Ankommens – wenn du versuchst, ihn unter dem Vergrößerungsglas anzuschauen, was ist dabei in dir vorgegangen? USW Ich konnte mich vollständig fühlen und annehmen, dass ich so sein darf, wie ich bin. Wer sich vollständig fühlt, kann ganz und gar im Moment ankommen. Seit dieser Prozess des Ankommens begonnen hat, empfindet sich unsere Gemeinschaft auch nicht mehr als unvollständig. Indem wir akzeptiert haben, dass wir zu neunt »ausreichend« sind, haben wir uns selbst eine Wertschätzung gegeben, die vorher gefehlt hat. Plötzlich fiel das Minderwertigkeitsgefühl, mit »nur« vier Erwachsenen und fünf Kindern noch keine »richtige« Gemeinschaft zu sein, von uns ab – ebenso die Angst, wir könnten all die Herausforderungen zu viert nicht stemmen. Das Ankommen hat auch damit zu tun, dass ich gut für mich selbst sorgen kann, dass ich nicht mehr meine, mich verausgaben zu müssen. Ich vertraue in meine Fähigkeiten und kann sie schätzen. In den ersten Jahren hat mich ein Gefühl von Ungenügen verfolgt: Da war der Druck, Erwartungen erfüllen zu müssen – nicht einmal unbedingt diejenigen anderer Menschen, sondern Erwartungen, die der Ort an mich hat. Dabei war das nur ein seltsames Konstrukt in meinem Kopf. LM Wenn solche Konstrukte in sich zusammenfallen, sieht die Welt erfahrungsgemäß ganz anders aus. Es wird sichtbar, wo tatsächlich Zuwendung nötig ist. USW Ja, wir haben zum Beispiel bemerkt, dass wir darauf achten müssen, mit unseren Kindern am Ort gut in Verbindung zu bleiben. Manche wachsen langsam ins Erwachsenenalter hinein und wollen Verantwortung übernehmen. Wenn du kein Vertrauen zu ihnen hast, wenn du nicht hinschaust und dich nicht mit ihnen verbindest, sind sie plötzlich aus dem Haus und nie Teil der Gemeinschaft gewesen, sondern immer Kinder geblieben, denen man nicht alles erzählt hat, die vor abgeschlossene Entscheidungen gestellt wurden. Inzwischen glaube ich, besser zu verstehen, welche meiner Fähigkeiten der Ort tatsächlich braucht. Er braucht mich nicht als Macherin, sondern als Hüterin von Verbindungen. Ich möchte einen Blick aufs Ganze behalten, die inneren Qualitäten im Blick behalten, dafür sorgen, dass die Menschen hier zueinander finden und Freude haben. Wenn etwas Spaß macht, wenn wir anfangen zu spielen, tut sich ein ganz neues Reich auf – da entsteht Neugierde auf das, was sich gerade entwickelt, da beginnt etwas zu leuchten. Inzwischen glaube ich, in Wirklichkeit wünscht sich der Ort, dass diejenigen, die dort leben, von innen heraus leuchten. Dieses Leuchten wird auch andere anziehen, die hier zu einem gesunden Wachstum des Projekts beitragen. LM Zieht ihr bereits Menschen an? USW Seit letztem Frühling klopfen mehr Menschen denn je an unsere Tür und spiegeln uns, dass der Ort freundlich und einladend geworden ist. Für uns war es beeindruckend, diese Rückmeldung von außen zu bekommen. Sie bestätigte, dass sich tatsächlich etwas geändert hatte. Auch finanzielle Unterstützung kommt; wir merken, dass es weitergeht. LM Wie steht es mit den Verbindungen zu euren Nachbarinnen und Nachbarn im Dorf? USW Vor allem die älteren Leute freuen sich über die Art, wie wir unsere Gärten gestalten und mit den Tieren umgehen – das erinnert sie an Zeiten, als das Dorf noch bäuerlicher war als heute. Die Alten erklären auch ihren Enkelkindern, dass die Kinder aus dem Schloss nicht arm sind, weil sie barfuß gehen, sondern dass Barfußgehen etwas Schönes ist, das man tun kann, wenn der Frühling kommt. Kürzlich kam uns ein neuer Gedanke: Wenn wir die Fassade am Schloss sanieren, würden die Menschen aus der Nähe vielleicht gerne dazu beitragen, denn sie freuen sich schon darauf, dass ihr Schloss bald wieder schön anzusehen sein wird. Nicht alles muss nur auf unseren Schultern liegen, wir können auch darauf vertrauen, dass in unserem Umfeld ein gemeinsames Interesse für das Schloss existiert. LM Wie geht es euch heute damit, Eigentümerinnen und Eigentümer des Anwesens zu sein? USW Kürzlich haben wir darüber nachgedacht, eine Stiftung zu gründen. Die Idee der Genossenschaft scheint uns nicht mehr stimmig, es geht uns ja nicht um ein Wirtschaftsprojekt. Als wir von der Idee gesprochen haben, dass wir alle unser bisher investiertes Geld an eine Stiftung verschenken, dass wir es dem Ort schenken, war das ein Wendepunkt, der uns an etwas sehr Tiefes gebracht hat. Wir haben gemerkt, wie schön es ist, wenn sich Besitz vollständig ablöst und wir bisher »Eigenes« für etwas Größeres, Bleibendes geben können.
»Nimms von den Pflaumen im Herbste, die reif zum Pflücken sind.« So dichtete Bertolt Brecht im Lied vom kleinen Wind. Als wir unser Gespräch mit Ulrike auf der Gartenbank beenden, fällt uns auf, dass die Sommerpflaumen schon bald reif sein werden. Das geschieht ganz von selbst, wir können uns darauf verlassen. Wer nimmt sich heute noch Zeit, etwas reifen zu lassen? Immer ist da die Angst, etwas nicht zu schaffen, ein ständiges Gefühl des Nicht-Genügens. »Wir sind zu wenige, wir bewältigen das nicht, wir sind nicht kompetent genug«: Das vernebelt den Blick auf das, was uns still daran erinnert, »dran« zu sein. Ulrikes Gemeinschaft hat verstanden, was es heißt, Geduld zu haben und darauf zu hören, was geschehen will. Dieses Hören ist eine andere Qualität als das rational begründete, ehrgeizige Planen. Es lädt Emergenz*-Prozesse ein, schafft Raum, in dem sich Stimmigkeit entfalten kann.
So’n kleiner Wind, du spürst ihn kaum. S’ist wie ein sanftes Wiegen. Die Pflaumen woll’n ja so vom Baum, woll’n auf dem Boden liegen. •••
Ulrike Schauer-Wystrik (45) studierte Musik im Fach Violine sowie Musik- und Bewegungserziehung und zeitgenössischen Tanz. Heute arbeitet sie als Geigenlehrerin, Musikerin und – inspiriert von der gewaltfreien Kommunikation – auch als Mediatorin. Sie lebt im Wasserschloss Audigast bei Leipzig. www.wasserschloss-audigast.de
Schöne Vergangenheit statt verheißungsvolle Zukunft? Die Sozialanthropologin Veronika Bennholdt-Thomsen, Begründerin der Subsistenz*-Perspektive, reist seit vielen Jahren zu den indigenen Völkern der Anden. Sie erzählt, wie diese über die Zukunftsbesessenheit der Europäer den Kopf schütteln: Es gehe doch nicht darum, auf eine mögliche schöne Zukunft hinzuleben, sondern darum, eine schöne Vergangenheit zu erzeugen! Was du hast, ist nicht die Zukunft, sondern die Perlenkette der Gegenwartsmomente. Sie lassen deine Vergangenheit reich werden.