Bildung

Das letzte Urteil ist noch nicht gesprochen

Alex Capistran sprach mit dem Rechtsanwalt Andreas Vogt über die rechtlichen Schwierigkeiten von Familien, die sich für eine Bildung ihrer Kinder außerhalb der ­Institution »Schule« entscheiden.von Alex Capistran, Andreas Vogt, erschienen in Ausgabe #40/2016
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© Björn Reißmann

Herr Vogt, wie wurden Sie zum Anwalt von Familien, die ihre Kinder nicht zur Schule schicken – von sogenannten Homeschoolern oder Freilernern?

Meistens ist es so, dass die Eltern mich kontaktieren, weil sie in Konflikt mit staatlichen Stellen stehen. So bin ich – wie die Jungfrau zum Kind – auch vor acht Jahren auf das Thema gekommen: Eine christliche Homeschooler-Familie aus Hessen hat sich an mich gewandt. Für mich persönlich war das neu, weil ich – wie so viele – geglaubt hatte, dass Schulpflicht eben etwas Unhinterfragbares sei. Mittlerweile sehe ich das anders, habe Dutzende Familien betreut und würde mich nicht für die Sache einsetzen, wenn ich nicht guten Gewissens hinter selbstbestimmter Bildung stehen könnte. In der Regel werde ich als Rechtsanwalt erst eingeschaltet, wenn irgendwo etwas angebrannt ist: Das Schulamt bemängelt die Nicht-Erfüllung der Schulpflicht, oder ­Jugendamt und Familiengericht drohen, sich einzuschalten. Es steht in Frage, ob in die elterliche Sorge eingegriffen wird, oder es wurden Bußgelder erlassen, um die Schulpflicht durchzusetzen.

Mit der Schulpflicht ist es ja so eine Sache: Im Grundgesetz ist sie nicht verankert, und doch ist sie in den Ländergesetzen kompromisslos ausformuliert.

Seit dem Außerkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung taucht der Begriff Schulpflicht im Verfassungstext nicht mehr auf. Im Grundgesetz heißt es nur, dass das Schulsystem »unter der Aufsicht des Staates« stehe. Daraus wird von der herrschenden Meinung gefolgert, dass der Staat auch einen eigenen Anspruch auf die Erziehung junger Menschen habe. Die Schulpflicht sei unbedingt erforderlich, um die Gesellschaft zusammenzuhalten: Man könne nur dann zu einem sozial fähigen Menschen heranreifen, wenn man mit anderen Gleichaltrigen in einem Schulgebäude unterrichtet wird.

Ist die Schule in ihrer heutigen Form in Deutschland für die Kinder nicht eher schädlich? Könnte das nicht auch ein Ansatzpunkt in der Argumentation sein?

Wenn Sie vor Gericht mit diesem Argument kommen, wird Ihnen vielleicht mehr oder weniger offen zugestimmt: Es gebe zwar schlechte Zustände an den Schulen, aber darauf komme es nicht an. Entscheidend sei, dass die Erfüllung der Schulpflicht dem Kindeswohl im Sinne des Kollektivinteresses der Integration in die Gesellschaft diene. Da stellt sich aber die Frage: Mit welchem Recht? Die Grundrechte, die unsere Freiheit verbürgen, müssen auch grundsätzlich jungen Menschen erlauben, sich gegen den Staat durchzusetzen – so wie auch Eltern das Recht haben, ihre Kinder von staatlichen Ansprüchen abzuschirmen. An diesem Punkt der Argumentation wird dann das Ass aus dem Ärmel gezogen, dass der Staat einen eigenen Erziehungsauftrag habe.

Obwohl dies in keinem geltenden Rechtstext niedergelegt ist?

Das verhält sich ein bisschen so wie mit dem Magier und dem Kaninchen, das er aus seinem Hut zaubert. Es wird behauptet, das Grundgesetz sei dahingehend auszulegen, dass die Verfassungsordnung von einem staatlichen Erziehungsauftrag ausgehe; im Gesetzestext selber lese ich davon nichts. Der Staat maßt sich schlichtweg an, ein eigenes Recht zu besitzen, Menschen zu erziehen. Das ist verfassungsrechtlich fragwürdig – insbesondere, weil sich das mit dem Anspruch beißt, auf einer freiheitlichen Grundordnung aufzubauen.

Weil ja im Grundgesetz Artikel 6, Absatz 2, Satz 1 steht, dass Eltern für die Erziehung der Kinder verantwortlich sind und nicht der Staat …

Ja, und es ist sogar ein natürliches Recht der Eltern, das vom Bundesverfassungsgericht als vorgegebenes Recht anerkannt wird. Nach dem Grundgesetz ist das Eltern­recht ein sehr stark ausgestaltetes Grundrecht. In der Freilernerszene wird aber weniger gerne mit dem Elternrecht argumentiert, weil hier ja gerade das Selbst­bestimmungsrecht des jungen Menschen wichtig ist. Dieses erweist sich vor Gericht aber als schwächer: Obwohl im Grundgesetz nirgends ausdrücklich gesagt wird, dass Minderjährige unfertige Menschen seien, ist es eine traditionelle Lesart, dass junge Menschen unselbständig in ihrer Entscheidungsfähigkeit seien.

Mir ist noch nicht ganz deutlich, wo die ­Argumentation für Schulverweigerung vor Gericht ansetzt: beim Staat, beim Kind oder bei den Eltern? Teilweise wird ja vom Kindeswohl ausgegangen, dann ist wieder die Rede von Elternrechten. Können Sie Licht ins Dunkel bringen?

In der Rechtspraxis spielen alle drei eine wichtige Rolle. Selbstverständlich existieren Elternrechte, aber sie sind nicht der springende Punkt, denn diese Rechte finden ihre Grenze dort, wo das Kindeswohl gefährdet ist. Flankierend dazu wird gemeinhin behauptet, dass der Staat auch einen Erziehungsauftrag auf derselben Stufe wie die natürlichen Eltern habe. Nach der herrschenden Meinung ist der Begriff »Vater Staat« wortwörtlich zu verstehen. Sie haben Ihre Eltern und Vater Staat, und in der Theo­rie sollten beide ausschließlich das Wohl des Kindes im Auge haben.
Darüber hinaus wird argumentiert, dass der staatliche Erziehungsauftrag nicht nur dem einzelnen jungen Menschen dienen soll, sondern der Gesellschaft als ganzer. Ich meine: Der Staat als Wächter, das ist in Ordnung; aber der Staat als Vater, das ist doch arg in Zweifel zu ziehen!

Was sind denn in der Vergangenheit erfolgreiche Argumentationsmuster für die Eltern von schulverweigernden Kindern in Deutschland gewesen?

Ich werde nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, dass allein aus dem Nicht-Besuch einer Schule nicht zwangsläufig eine Kindeswohlgefährdung entsteht. Es ist aus meiner Erfahrung aber so, dass der Staat diese falsche Gleichung nicht aufgeben will. Er befürchtet, dass andernfalls die ­Anarchie ausbräche. Es ist also recht idealistisch, diese Position zu vertreten – und gerade deshalb wichtig. Meistens werden die Argumente aber mit dem Verweis auf den staatlichen Erziehungsauftrag von den Richtern platt abgeschmettert. Letztlich ergeht hier oft Macht vor Recht.

Dann gibt es also im derzeitigen System keinen rechtlichen Weg, dem Schulzwang zu entgehen?

Der Schulpflicht kann man sein Kind nach der derzeitigen Rechtsprechung nicht entziehen. Was aber als Strategie in einigen von mir betreuten Fällen funktioniert hat, war, geltend zu machen, dass in Ausnahmefällen der Eingriff in die elterliche Sorge unverhältnismäßig ist. Im konkreten Einzelfall sei es unangemessen gewesen, in die elterliche Sorge einzugreifen, da das Kindeswohl durch den Nicht-Schulbesuch in keiner Weise gefährdet war. Das haben schon einige Gerichte, bis hin zu Oberlandesgerichten, genauso gesehen. Die Eltern erhielten ihre zuvor entzogenen Teile der elterlichen Sorge wieder zurück.

Wie haben Sie das Gericht überzeugen können? Gab es Besuche und Untersuchungen bei der Familie von Amts wegen?

Die Familien konnten glaubhaft vermitteln, dass es den Kindern an nichts fehlte, dass sie keine Bildungsdefizite und vor allem hinreichende soziale Kontakte hatten.

Also geht es vor allem darum, zu zeigen, dass die Kinder nicht sozial isoliert sind?

Eltern, die ihre Kinder nicht zur Schule schicken, sollten für Kontakte zu ­anderen, außerfamiliären Gleichaltrigen sorgen, weil auf diesen Punkt vor Gericht und bei Jugend­ämtern sehr viel Wert gelegt wird. Die »Integration in die Gesellschaft« scheint heute wichtiger zu sein als die Wissensvermittlung.

Heißt das, dass Betroffene nur die Sanktio­nen durchstehen und sich dann auf die Unverhältnismäßigkeit des Eingriffs in die elterliche Sorge berufen müssen?

Nein, denn selbst wenn das Sorgerecht wiedergegeben wurde, bleibt die Schulpflichtverletzung bestehen. Lernt jemand nach einer solchen Entscheidung weiterhin in außerschulischen Zusammenhängen, wird die Schulbehörde wieder prüfen, ob sie Maßnahmen gegen die Eltern einleitet, zum Beispiel ein Bußgeld oder einen befehlenden Bescheid mit Zwangsgeldandrohung. Es gibt aber Fälle, in denen die Behörden danach von den Eltern ablassen oder sich erst nach einiger Zeit wieder melden. Manchmal sind die Behörden auch unnachgiebig. Die Familien sind vor allem davon abhängig, auf welche Beamten und Richter sie treffen – da regiert auch das Prinzip Zufall.

Könnte nicht ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts ein für allemal Klarheit in diesen Willkür-Kosmos bringen?

In der Tat bestehen einige verfassungsrechtliche Ungereimtheiten. Es ist nur leider so, dass das Bundesverfassungsgericht das Thema bisher nicht über seine Schwelle gelassen hat. Es hat sich bislang in jedem Fall geweigert, in der Sache eine Entscheidung zu fällen; keine der bisherigen Verfassungsbeschwerden wurde angenommen. Ich halte den staatlichen Erziehungsauftrag für die Kernfrage: Gibt es diesen staatlichen Erziehungsauftrag überhaupt und, wenn ja, was sind Grund und Grenze für ihn? Das alles ist ­verfassungsrechtlich nicht hinreichend erforscht. Man argumentiert zwar damit, weiß aber gar nicht, woher dieser staatliche Erziehungsauftrag kommt und mit welchem Recht er gilt. Totalitäre Staaten glauben selbstverständlich, dass der Staat das Recht hat, die Menschen zu erziehen, aber wir haben ja – dem eigenen Anspruch nach – eine freiheitliche Grundordnung. Darum ist der staatliche Erziehungsauftrag juristisch höchst fragwürdig.

Wird in Deutschland jemals der Schulzwang fallen?

So viel Realismus muss man doch bewahren: Es wird vorerst nicht dazu kommen, dass die Schulpflicht ganz verabschiedet wird. Es kann heute nur darum gehen, Ausnahmen von der Pflicht, ein Schulgebäude permanent zu besuchen, zu erwirken. Es lohnt sich, für diese Ausnahmen zu kämpfen und für die Grundrechte der betroffenen Eltern und des betroffenen jungen Menschen zu streiten.
Zum jetzigen Zeitpunkt herrscht die Meinung vor, dass absolute Schulpflicht erforderlich und angemessen sei. Aber die Lage ist ja nicht hoffnungslos: Gerade im 20. Jahrhundert hat sich doch in vielen Rechtsgebieten emanzipatorisch einiges getan, siehe Frauen- und Homosex­uellenrechte. Also ist auch für die Rechte der jungen Menschen das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Vielen Dank für das aufschlussreiche ­Gespräch! •


Andreas Vogt (42) lebt als Rechtsanwalt im nordhessischen Eschwege. Seine bundesweite Tätigkeit umfasst insbesondere das Schul- und Verwaltungsrecht, das Recht der elterlichen Sorge und das Strafrecht. www.vogt-recht.de

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