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Der Wal; oder: Versuch über Wildnatur (Buchbesprechung)

von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #40/2016
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An »Moby Dick« wird die Tragik eines Zu-früh-Geborenen deutlich: Dieser Roman, der sich als einer der einflussreichsten und sprachgewaltigsten Werke der modernen Literatur erweisen sollte, war seinen Lesern um mindestens ein halbes Jahrhundert voraus. 1851 waren Melvilles Zeitgenossen heillos überfordert mit der epischen Wucht, der konsequenten Fortschrittsverweigerung und dem wuchernden Dickicht an Querverweisen. Moderne Literaten wie Ezra Pound oder D. H. Lawrence und später postmoderne Autoren wie Kurt Vonnegut oder Gilles Deleuze erkannten Melville als einen der ihren.
Die längst in den kollektiven Mythenschatz eingegangene Geschichte von Kapitän Ahabs Kampf mit dem weißen Wal lässt Melville von einem Ich-Erzähler berichten, der mit dem lapidaren Satz »Nennt mich Ismael« auf und als Überlebender eines Schiffbruchs mit dem Hiob-Ziat: »Und ich bin allein entronnen, dass ich dir’s ansagte« abtritt. Als Verstoßener, wie es der biblische Ismael einer war, mag auch Melville sich gefühlt haben: »Und schriebe ich die Evangelien, so würde ich doch in der Gosse landen«, haderte er mit der Ignoranz seiner Zeitgenossen.
Als ein Stück Weltliteratur kann Moby Dick auf vielen Ebenen mit Gewinn rezipiert werden: Als Allegorie auf die Gesellschaft vor dem Sezessionskrieg, als spannende Seefahrergeschichte, als Kompendium über den Wal. In jedem Fall lässt sich der weiße Wal als Symbol für die ungezähmte Wildnatur lesen, die viele Zeitgenossen durch die Eroberung des amerikanischen Westens und die Industrialisierung für passé hielten – bei Melville bleibt sie unbezwingbar: Der Wal »beschwamm die Meere, bevor die Kontinente durchs Wasser brachen […] und sollte die Welt jemals wieder überflutet werden, […] wird der ewige Wal immer noch überleben und, indem er sich auf dem allerhöchsten Wellenkamm der äquatorialen Flut aufbäumt, seinen schäumenden Hohn und Trotz zu den Himmeln hinaufblasen«. Heute ist ungewiss, ob Melvilles Diktum auf die Gattung Cetacea zutrifft, sicher aber gilt sie für das Wilde in der Welt, das sich der restlosen Ausbeutung durch den Menschen widersetzt.
Friedhelm Rathjen, der eng an der Rätselhaftigkeit des Originals entlangübersetzt, ist die bislang genaueste, sprachgewaltigste und poetischste Übertragung ins Deutsche gelungen. Dem Verlag Jung und Jung ist es hoch anzurechnen, dass er sie nun in bibliophiler Ausstattung wieder zugänglich macht. ◆


Moby-Dick; oder: Der Wal
Herman Melville
Jung und Jung, 2016
976 Seiten
978-3990270875
45,00 Euro

Weiterlesen: Owen Chase: Der Untergang der Essex • Kurt Vonnegut: Katzenwiege • Gilles Deleuze: Kritik und Klinik

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