Titelthema

Im Osten viel Neues

Zu Besuch im Modelldorf Hirschfelde.von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #6/2011
Photo

Gleich hinter Berlin, dort, wo die schier endlosen Marzahner Plattenbauten enden und eben noch Beton war, tut sich vor uns die Weite Brandenburgs mit herbstlich gefärbten Buchenwäldern auf. »J.w.d.« – janz weit draußen – murmelt Gregor, der Berliner Fotograf, der mich begleitet. Wir sind auf dem Weg zu Sonja und Dieter Moors Hof. Mit scharfsinnigen und eloquent vorgetragenen Kommentaren hat mich Dieter Moor als Fernsehmoderator schon als zehnjährigen Jungen beeindruckt.
Wir überqueren die Bahngleise, biegen rechts in ein Wäldchen ein, fahren ein Stück übers offene Land – und sind auch schon am Ziel: Hirschfelde, ein verschlafenes Nest, wie es viele im Osten Deutschlands gibt. Häuser mit grau-brauner Spritzbetonfassade, dazwischen Backstein- und Natursteingebäude, manche mehr, manche weniger saniert. Am Ufer des Dorfweihers, wo im fiktiven Dorf »Amerika« aus Dieter Moors charmantem Bestseller »Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht« ein »Reiterstandbild ohne Reiter« steht, befindet sich im real-existierenden Hirschfelde ein bronzener Zwölfender. Gegenüber finden wir das »Kranke-Hunde-Kackfarbene«, wie Moor sein neues Heim beim ersten Anblick beschreibt.
Sonja Moor öffnet die Tür und weist uns den Weg in die Küche. »Gemma’s an«, sagt die gebürtige Oberösterreicherin und lässt uns an dem großen Holztisch Platz nehmen. Sie redet nicht lange um den heißen Brei. Ebenso direkt reagierte sie, als Gatte Dieter vorschlug, von der Schweiz nach Brandenburg zu ziehen. »Du spinnst«, dachte sie damals. Bald sei ihr aber klar geworden: »Hier tanzt der Bär – im Osten entsteht das neue, alte Zentrum Europas.«
Sonjas große, blaue Augen, deren Funkeln in Dieter Moors Buch so schön beschrieben ist, leuchten, wenn sie von der Ankunft in Brandenburg erzählt. Vor sieben Jahren, am Neujahrstag 2004, ­spazierte das Paar bei strahlendem Sonnenschein durch seine neue Wahlheimat. »›Hier wollen wir’s angehen‹, sagten wir damals«, erinnert sie sich. Die Arbeitsteilung sollte so aussehen, dass er »sein Heu in den Medien macht«, während sie den Hof aufbaut.
Kaum vierzig Kilometer von Berlin entfernt, ist man in Hirschfelde nahe genug an den Hauptstadtstudios, um den Puls der Medien zu fühlen, und weit genug entfernt, um die Vorzüge des Landlebens zu genießen. »Wenn Dieter dann vom Medienrummel nach Hause kommt, in die Gummistiefel schlüpft und zwei Stunden auf die Weide geht, sagt er oft: ›Du weißt, alles wird gut.‹« – »Dieses Leben macht einfach zufrieden«, schwärmt Sonja. Seit sie Landwirtschaft betreibe, habe sie keine Sinnkrisen mehr.
Aus den anfangs zweieinhalb Hektar Land wurden inzwischen siebzig, zu den ursprünglich elf Mutterschafen gesellte sich eine stattliche Herde von Galloway-Rindern und Wasserbüffeln, nicht zu vergessen die Esel und die beiden Sennenhunde Carla Bruni und Max Moor. Obwohl die Moors in der Landwirtschaft nicht ganz unbewandert waren – im Kanton Zürich hatten sie bereits einen kleinen Bergbauernhof bewohnt –, stellte sich die Bewirtschaftung eines Anwesens dieser Größe als deutliche Herausforderung dar. Um dieser gewachsen zu sein, drückte die einstige Filmproduzentin nochmals die Schulbank der örtlichen Landwirtschaftsschule, um sich ganz konventionell zur Landfrau ausbilden zu lassen – »ein bitterer, aber sehr lehrreicher Weg«, wie sie betont.

In der Welt wirken Kreisläufe
Ein Kontrastprogramm fand sie in Bad Saarow in der Hofgemeinschaft Marienhöhe, dem ältesten ökologisch wirtschaftenden Betrieb Deutschlands, gegründet von Schülern Rudolf Steiners. Sie sei keine Anthroposophin, habe sich jedoch für das Demeter-Siegel entschieden, weil das Denken in geschlossenen Kreisläufen und das Bestreben, »die Information an ihren Ursprung zurückzuführen«, ihrem Wunsch nach einer »­wesensgerechten Nutztierhaltung« sehr entsprechen. Dieser Begriff ist zentral für Sonja Moor: wesensgerechte Nutztierhaltung. Würde er ernst genommen, dann gäbe es keine Agrarindustrie mehr, keine Schlachtbetriebe, keine Tiertransporte. – Die Moor’schen Bullen lassen ihr Leben nicht in sterilen Schlachthäusern, sondern per Kugelschuss auf der eigenen Weide. »Wir glauben an ein Leben vor dem Tod«, schreibt Dieter Moor in seinem neuen Buch.
Ein Teil des Kreislaufs ist, dass die Tiere das Land pflegen. In Brandenburg und im nahegelegenen Polen initiierte Sonja Moor in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Naturschutzverein Pro ­Natura ein Projekt zur wilden Beweidung. Die geländegängigen und genügsamen Galloway-Rinder und Wasserbüffel eignen sich ideal zur Landschaftspflege. Der Naturschutz kann zum zweiten Standbein werden, meint Sonja. Der Hof und die weiteren Projekte laufen unter dem Dach des Vereins »afz«. Was einst unter dem augenzwinkernden Titel »arschlochfreie Zone« als informelles Netzwerk unter Freunden begann, hat inzwischen den salonfähigeren Zweitnamen »Alternativen für Zukunft e. V.« erhalten – das mache sich besser auf Förderanträgen, schmunzelt Sonja Moor. Langfristig soll der Hof in eine Stiftung überführt werden.

Gutes Essen
Zwischendurch kommt Dieter in die Küche, rührt erfahren in der köchelnden Suppe und beschwert sich über das »Gruftaroma« von Roter Bete, die er nicht mag. Aber vielleicht, räumt er ein, müsse man einfach auf den Geschmack kommen. Das von ihm erst wenig geschätzte Sauerkraut habe er schließlich doch lieben gelernt, nachdem er in Wien auf dem Naschmarkt Dutzende von Sauerkrautsorten entdeckt hatte. Soeben hat er gemeinsam mit der Kochkünstlerin Sabine Schneider ein Kochbuch geschrieben. Darin schwärmt er von ihrem Essen, das »ganz genau nach dem schmeckt, woraus es gemacht wurde.« Das liegt nicht zuletzt an den Zutaten. »Wir haben von allem zu viel, aber in schlechter Qualität«, bringt Sonja Moor die Misere der Lebensmittelindustrie auf den Punkt. Gegen Nahrung, »die auf dem unermesslichen Leid von Mensch und Tier und der Zerstörung von Boden, Wasser und Luft produziert wurde«, wehrt sie sich vehement. Sie ist überzeugt, dass sich eine wesensgerechte Nutztierhaltung mit einer ökonomisch, ökologisch, ethisch und moralisch vertretbaren Produktionsweise verbinden lasse. »Wie sollten wir nicht mit der Natur gehen?«, fragt sie. »Wir sind Natur!«

Hirschfelde wird Modelldorf
Bald sei ihnen klar geworden, dass ihr eigenes Glück und Wohl­ergehen untrennbar mit dem des Dorfs und der Region verbunden ist. Kein Altruismus oder Helferdrang, sondern pragmatischer Eigennutz trieben sie an: »Ich glaube an nützliche Beziehungen«, erklärt Sonja Moor bestimmt.
In einer Region, die von Arbeitslosigkeit, Wegzug und Überalterung dominiert wird, fehlt es paradoxerweise nicht nur an Arbeit, sondern auch an Menschen, die sich der Arbeit annehmen. Der letzte Lederschneider im benachbarten Werneuchen sei beispielsweise über achtzig, »der würde sein Wissen sofort weitergeben, wenn es da jemanden gäbe«. Um der Perspektivlosigkeit etwas entgegenzusetzen und die umliegenden Landschaften aus der Brache in die Blüte zu führen, sollen Gewerke und Veredler in die Region geholt werden. Das ehrgeizige Ziel: „Ich möchte alles in der Region behalten – alles Weitere folgt daraus«, erklärt Sonja Moor. Sie träumt vom Urgetreideanbau, von einer Bäckerei, Imkerei, Meierei, Metzgerei und Gerberei. Ein regionales Vermarktungs- und Vertriebsnetzwerk soll dafür sorgen, dass die Erträge den regionalen Kreislauf nicht verlassen. Auch eine Regio-Währung, die »Feldmark«, ist geplant. Neben dem unmittelbaren Ziel der regionalen Belebung geht es darum, die Region krisenresistent zu machen und »uns ein Auskommen unabhängig von Rotterdamer Rohstoffpreisen und Finanzmarktschwankungen« zu ermöglichen. – »Und das alles zu Bedingungen, die fair für Mensch, Tier und Ressourcen sind, ohne Ausbeutung, auch ohne Selbstausbeutung«, betont Sonja.
Der erste Schritt ist getan. Nachdem der Hirschfelder »Konsum« im vergangenen Jahr schließen musste, ist der durch eine eigens gegründete Genossenschaft betriebene Dorfladen seit November zumindest stundenweise wieder geöffnet. Neben konventioneller Ware sollen dort auch regionale Produkte angeboten werden. Statt »Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht«, heißt es diesmal »Was Sie haben, brauchen wir«. Unter diesem Motto ruft die Genossenschaft Menschen aus der Region dazu auf, das Sortiment des Dorfladens mit Selbstgemachtem zu erweitern.
Der umfassende Plan für das Modelldorf ist im Internet nachzulesen. Als Motto ist ihm ein Zitat von Goethe vorangestellt: »Was immer du tust, entscheide dich verbindlich dafür, und die göttliche Macht ist mit dir.« An Entschlusskraft mangelt es Sonja Moor bestimmt nicht. Sie ist zuversichtlich, dass sich die Einheimischen überzeugen lassen, sobald den Worten weitere Taten folgen: »In Brandenburg zählt das Tun, nicht das Gelabere. Was wir am dringendsten brauchen ist: mehr Mut.« Der wird noch wichtig werden, meint sie, um akuten Gefahren wie Landraub, Gentechnik und dem Preisdruck durch Biogasunternehmen, die in großem Stil Land aufkaufen, zu trotzen. »Angst ist effektiv, wenn sie in die Tat führt«, meint Sonja. »Und wir brauchen hier Menschen, die zur Tat schreiten.« Wenn sie von Bedrohungen erzählt, blitzen ihre Augen kampfeslustig. Dass in ihrer »Brust das Herz einer Löwin schlägt«, wie dem Buch ihres Gatten zu entnehmen ist, glaube ich sofort.
Wir verlassen die Küche, um übers Gelände zu spazieren. Vorbei an einer Eselgesellschaft geht es auf eine Weide. »Hallo Bärchen«, ruft Sonja dem runden, lustig dreinblickenden Mann mit Dreitagebart und Schirmmütze im Vorübergehen zu. »Bärchen« – sein literarisches Pseudonym ist »Teddy« – prüft die Spannung auf einem elektrischen Zaun. Ein Stück weiter wurde ein metertiefer Graben für eine Wasserleitung zur Viehtränke ausgehoben. Dieter Moor nimmt einen Brocken des lehmigen Bodens zwischen die Finger und weist auf die Handbreit dunkler Erde, das in der abgestochenen Grabenwand zuoberst sichtbar ist. »So dünn ist die Humusschicht, die uns ernährt«, meint er nachdenklich. Die Böden sind hier karg. Und doch haben die Weiden heute den vierfachen Ertrag – »nur durch Beweidung, Heuernte und Pflege«, meint Sonja nicht ohne Stolz.
Wir nähern uns einer Gruppe von Koniferen. Wie eine Insel ragt sie aus dem Grasmeer. Unter den Zweigen sucht eine trächtige Büffelkuh Unterstand. In ihrem mächtigen Leib schwingt die ­Bewegung ihres Gangs sachte nach. Während sich unsere Blicke für einen langen Augenblick treffen, meine ich, etwas von der Zufriedenheit zu spüren, die Sonja immer dann erfüllt, wenn »große, schwere, dampfende Wiederkäuer weidend aus dem Wald kommen.« Als ich mich abwende, schnaubt mich das Büffelweibchen aus unerhört breiten Nüstern an. – Wir gehen zum Haus zurück.
In zwanzig Jahren, »wenn wir siebzig sind«, möchte sie den Hof übergeben und in guten Händen wissen, erzählt Sonja. Sie wollen dann ins Austraghaus ziehen und noch einmal auf Reisen gehen. »Ein paar Orte gibt es noch, wo es uns hinzieht.« Sie wünschen sich auch, dass in der Umgebung ein Ruheforst entstehe, für die Zeit danach. Auch wenn sie vom eigenen Tod spricht, klingt sie ganz gefasst und pragmatisch. Immerhin ist es nur eine weitere Etappe des großen Kreislaufs. Und wie es Kreisläufe so an sich haben: ­Sobald sich ein Kreis schließt, wird ein neuer in Gang gesetzt. 


Mehr aus der arschlochfreien Zone
www.afz-netz.de
www.modelldorf-hirschfelde.de
www.hirschfelder-genossenschaft.de
Literatur:
Dieter Moor: Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht. Geschichten aus der
arschlochfreien Zone. Rowohlt, 2009
• ­Dieter Moor & Sabine Schneider: Ganz & einfach. Tempofrei kochen. Kindler, 2010
TV-Tipps:
Jeden Sonntag moderiert Dieter Moor in der ARD ­»ttt – titel, thesen, temperamente« und in unregelmäßigen Abständen »Bauer sucht Kultur« im rbb.

weitere Artikel aus Ausgabe #6

Gesundheitvon Monika Hoffmann

Gewebe des Lebens

Manche Menschen gehen joggen, um gesund zu bleiben. Monika Hoffmann setzt sich an ihr Spinnrad, das mit dem Fuß angetrieben wird. Sie hat für sich das Spinnen als heilsamen Weg entdeckt. Der Faden, der entsteht, spiegelt die Seele.

Permakulturvon Lara Mallien

Saat gut!

In der Schorfheide nördlich von Berlin, im Ort Finowfurt, lebt Jürgen Reckin und vermehrt seine Schätze. Einige hat er aus den entferntesten Winkeln der Welt zusammengetragen. »Bei den Amish in den USA fand ich eine Salatform, die bei uns schon lange ausgestorben ist, den

Selbermachenvon Johannes Heimrath

Am Anfang stand die Basttasche

Diesmal habe ich mich mit meiner Chefredakteurin gestritten. Ich hatte geschrieben: »Könnte es sein, dass das ganze Unheil damit begann, dass einer unserer Vorfahren weiter dachte als seine Zeitgenossen, nämlich dass es eine tolle Sache wäre, müsste man nicht jedesmal von

Ausgabe #6
Selbermachen

Cover OYA-Ausgabe 6Neuigkeiten aus der Redaktion