Während der Mitgliederversammlung der Oya-Genossenschaft letzten September beobachte ich zwei mir bislang unbekannte Menschen. In der Diskussion über solidarische Finanzierungswege bringen ihre Beiträge Klarheit und Gelassenheit in die Runde: Ursa Späte-Schumacher und Dirk Schumacher. Auf diesem Gebiet scheinen sie viel Erfahrung zu haben. Ein paar Monate später beraten sie in einer Telefonkonferenz das Oya-Team bei der Suche nach neuen Wirtschaftsweisen. Wer sind Ursa und Dirk? Stundenlang haben wir mit ihnen vertrauensvoll über Sachfragen gesprochen, ohne dass wir mehr über sie wussten, als dass sie in den Artabana-Kreisen für eine solidarische Gesundheitsfürsorge aktiv sind. Ich möchte sie besser kennenleren. Weshalb zum Beispiel gehen Ursas Ratschläge so konsequent in Richtung »so wenig Verwaltungsaufwand wie möglich«? »Mir scheint, wir leben in einer bereits zusammengebrochenen Bürokratie«, erklärt sie, als ich mich mit ihr und Dirk an einem Februarabend für ein Telefonat zusammengefunden habe. »Als Psychologin erlebe ich zunehmend, wie verschiedenste Institutionen, sei es im Gesundheits-, im Asyl- oder im Hartz-IV-System, in Papier- und Paragrafenbergen versinken. Inzwischen erwarte ich nicht mehr, dass die formal-institutionellen Wege funktionieren. Statt dessen versuche ich, mich an der Würde des Menschen zu orientieren. Das bringt mich in eine neue Art von Handlungsfähigkeit – anstelle der Warteposition entsteht ein Gefühl von Freiheit. Unabhängigkeit darf selbstverständlich nicht dahin führen, dass ich als Psychotherapeutin zum Beispiel nur noch finanzstarke Menschen behandeln könnte. Eine Möglichkeit wäre, manche meiner Leistungen auch in den BGE-Kreisen anzubieten.« »BGE« steht für »bedingungsloses Grundeinkommen«. Dirk hat diese Kreise ins Leben gerufen. Zu oft hatte er das Argument hören müssen, dass mangels Erfahrungen nichts über die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen eines Grundeinkommens gesagt werden könne. Wer in einen BGE-Kreis eintritt, erhält ein Startguthaben in der jeweils gültigen Regionalwährung, erklärt er. Die Mitglieder kommunizieren über eine Internet-Plattform Angebote und Bedarfe und kommen ins Geschäft. Am Monatsanfang erhalten alle ein Grundeinkommen, zum Beispiel indem von jedem einzelnen Konto ein Prozentsatz abgebucht und diese Summe gleichmäßig an alle verteilt wird – das entspricht dem Prinzip eines bedingungslosen Grundeinkommens, das sich aus einer sogenannten Umlaufsicherung speist. Der Kreis gibt sich selbst seine Spielregeln; er kann auch entscheiden, das Prinzip »Mehrwertsteuer« einzuführen, um daraus das Grundeinkommen zu ermöglichen. Letzteres gefällt Dirk weniger gut, weil es vom Konsum ausgeht, aber er ist der Ansicht, dass alle Varianten ausprobiert werden sollten. »Mich interessieren die eingestellten Gesuche dabei mehr als die Angebote. Nicht ein Kaufanreiz, sondern ein Bedürfnis bildet den Ausgangspunkt. Das zeigt einen Weg in ein bedarfsorientiertes Wirtschaften.« Dirk ist schon sein ganzes Berufsleben lang Software-Entwickler. Die Anwendung für die BGE-Kreise programmierte er in drei Monaten, die er wegen eines verstauchten Knöchels zu Hause verbringen musste. Anschließend stellte er die Internet-Anwendung frei zur Verfügung. Was ihn an der Kunst des Software-Schmiedens fasziniert, sei das Konzipieren von Datenbanken, erzählt er: »Wie lassen sich Dinge so strukturieren, dass sie sich sinnvoll miteinander verschränken, statt sich gegenseitig zu behindern? Ich habe Freude an Lösungen für diese Frage.« Mir fällt Dirks Frage auf der Genossenschaftsversammlung wieder ein: »Wollt ihr die Oya Medien eG in die Lage versetzen, Mitarbeiter zu bezahlen, oder wollt ihr Menschen in die Lage versetzen, Oya entstehen zu lassen?« Alle Gedankenfäden, die durch den Raum schlingerten, fielen nach diesem Satz plötzlich in eine sinnvolle Ordnung. Es war nur eine Frage – ein Angebot für eine Denkstruktur. Die Gabe, einen Strukturimpuls zu setzen, ohne dabei Macht auszuüben, scheint mir kostbar. Während der Versammlung hatte ich den Eindruck, dass dieser Impuls von Dirk und Ursa gemeinsam kam, unabhängig davon, wer jeweils sprach. Zehn Jahre leben die beiden inzwischen zusammen. Kennengelernt haben sie sich in der Artabana-Gruppe »Nordeifel«, die Dirk während der Anfangsphase dieser Bewegung in Deutschland ins Leben gerufen hat. Ursa war von Artabana angezogen, weil in diesen Solidarkreisen individuelle Heilungswege Unterstützung finden, und Psychotherapie kann selbstverständlich dazugehören. »Ich habe einmal spaßeshalber einen Krankenkassenvergleich im Internet angefordert,« erzählt sie. »Wenig später hatte ich einen Versicherungsmakler am Küchentisch sitzen, der mir etwas verkaufen wollte. ›Sicherlich haben Sie sich noch nie psychotherapeutisch behandeln lassen‹, wollte er sich am Schluss noch vergewissern. ›Doch‹, antwortete ich. ›Das volle Programm!‹ Da schaute er mich an wie ein Gespenst und war nach zwei Minuten zur Tür hinaus. Ich war für ihn nichts außer ein untragbares Risiko. Bei Artabana, wo ich weiß, dass sich ein Kreis von Menschen um mich kümmert, fühle ich mich heute viel sicherer als im staatlichen System mit seinen von Beamten erstellten Leistungskatalogen.« »Dass Ursa und ich uns haben finden können, ist für mich etwas Besonderes«, sagt Dirk. »Wir gehen gemeinsam einen jeweils ganz eigenen Weg. Das potenziert unsere Kräfte – wenn wir uns irgendwo gemeinsam einbringen, können wir aus dem Vollen schöpfen.« »Ja«, ergänzt Ursa, »wir verbringen auch am liebsten Zeit miteinander. Gerade ist es schon schlimm genug, dass ich im Wohnzimmer sitze und er in der Küche, damit die Telefone keinen Hall erzeugen.« Wir lachen. Und sie erzählen noch ein wenig über ihr Haus in Lommersdorf, einen Aussiedlerhof aus den 1960er Jahren mit einem weiten Blick auf sanft-hügelige Wiesen und Wälder. Dirk und Ursa berichten, wie sie mit dem Bauantrag für ein Kuppelgewächshaus an einer bärbeißigen Sachbearbeiterin gescheitert sind. Sie traute ihrem aus dem Internet heruntergeladenen Millimeterpapier nicht und maß mit dem Lineal nach, ob die Linien korrekt seien. Daraufhin zogen die beiden den Antrag lieber zurück. Inzwischen hat die Sachbearbeiterin das Ressort gewechselt. Die Neue machte schon bei der Abnahme eines Umbaus bei den Nachbarn eine gute Figur. Sie war nach fünf Minuten fertig und meinte: »Dass ich länger kucke, wollen Sie gar nicht!« Wir lachen. Aber schon die nächste Geschichte handelt wieder von den Schattenseiten der Bürokratie, vom Ämterdschungel, durch den sich die vierköpfige Roma-Familie aus Mazedonien, mit der die beiden seit Anfang 2015 die Wohnküche ihres Hauses teilt, hindurchkämpfen muss. Kan, der ältere der beiden Kinder, baute mit seinem Vater zusammen vor einigen Tagen eine Schildkröte aus Schnee auf die Terrasse. Wir erzählen. Lernen wir uns so besser kennen? Ich weiß es nicht. Eigentlich kenne ich Ursa und Dirk seit der ersten Millisekunde unserer Begegnung. Unsere Gespräche sind nur Variationen des Klangs, der seit diesem Moment zwischen uns zu hören ist. •