Buchtipps

Tribe (Buchbesprechung)

von Fabian Müller, erschienen in Ausgabe #44/2017
Photo

Über die negativen Folgen individualisierter Gesellschaften ist bereits viel geschrieben worden. Auch der US-amerikanische Bestsellerautor und Journalist Sebastian Junger geht in seinem neuen Buch »Tribe« auf diese Thematik ein. Er stellt der modernen Gesellschaft das Konzept des Stamms gegenüber, worunter er jene Gruppe von Menschen versteht, die man als Individuum zu ernähren und zu verteidigen bereit ist. Ausgehend von Beispielen vergangener und zeitgenössischer Stammeskulturen geht er den Fragen nach, warum diese Haltung der gegenseitigen Solidarität heutzutage in der modernen Welt so wenig verbreitet ist und welche Folgen dies für Gesellschaft und Individuen haben kann. Seine Antworten – etwa, dass stark ungleiche Besitzverhältnisse den Gesellschaftszusammenhang schwächen und dass vermehrte Vereinsamung zu mehr psychischen Krankheiten führt – sind überwiegend bekannt. Was das Buch Jungers, der Erfahrungen als Kriegsberichterstatter mitbringt, jedoch besonders macht, ist seine vom Krieg geprägte Sicht auf die moderne Gesellschaft. Mit vielen Beispielen und persönlichen Geschichten gelingt es ihm, die gemeinschaftsstiftende Wirkung vieler Kriege auf Soldaten und Zivilisten zu verdeutlichen – ohne diese Wirkung zu verherrlichen oder zu beschönigen! Kriege mit ihren hässlichen Seiten und die teils überraschend solidarischen Reaktionen vieler Kriegsbetroffener zeigten nämlich, dass Menschen auch in Friedenszeiten Gemeinschaft und Anerkennung brauchen. Extremsituationen in Kriegszeiten machten diese Bedürfnisse lediglich besonders sichtbar.
Aufgrund dieser Charakterisierung des menschlichen Wesens analysiert der Autor in der zweiten Buchhälfte, was der US-amerikanischen Gesellschaft heutzutage fehlt; vieles davon scheint auf die deutsche übertragbar.
»Tribe« ist einfach und verständlich geschrieben, rhetorisch oft geschickt und mit einigen unerwarteten Wendungen. Deutlich sind Jungers Erfahrungen als Kriegsreporter zu erkennen. Ein umfangreiches Quellenverzeichnis vermittelt den Eindruck eines gut recherchierten Werks. Was allerdings zu kurz kommt, sind Beispiele und Ideen, in denen Menschlichkeit nicht mit Krieg verbunden ist. Dennoch beeindruckt das Buch als leidenschaftliches Plädoyer für die Erfahrung von Gemeinschaft in heutigen Gesellschaften.


Tribe
Das verlorene Wissen um ­­Gemeinschaft und Menschlichkeit.

Sebastian Junger
Blessing, 2017
192 Seiten
19,99 Euro

weitere Artikel aus Ausgabe #44

Photo
von Günter Sölken

Ethischer Welthandel (Buchbesprechung)

Unlängst hörte ich auf einer TTIP-kritischen Veranstaltung jemanden sagen: »Wie harmonisch und konstruktiv könnte diese Debatte verlaufen, wenn sich USA und EU mit dem neuen Vertrag verpflichtet hätten, die Menschenrechte, Demokratie und Arbeitnehmerrechte zu stärken,

Photo
von Oya – Redaktion

Wachsen auf Sediment

In der Stadt ist es still. Kein Auto fährt, an den Straßenkreuzungen warten Polizistinnen und Polizisten. Einige Kilometer weiter stehen auf einer Hauptverkehrsader seit Stunden Autos im Stau, Menschen picknicken auf dem Asphalt. Die abgeriegelte Stadt im Ausnahmezustand – ist das

Photo
Permakulturvon Haiko Pieplow

Seide tragen, Maulbeerbäume pflanzen

8000 Jahre lang galt fast überall auf der Welt die Fruchtbarkeit der Böden als Gabe der Götter. In China aber war es die Pflicht der Bauern, Fürsten und Beamten, die Bodenfruchtbarkeit zu schützen und zu fördern. Nur so gelang es, im am dichtesten besiedelten Land

Ausgabe #44
Wachsen auf Sediment

Cover OYA-Ausgabe 44
Neuigkeiten aus der Redaktion