Ein Potpourri aus Szenen, Gesprächen und Reflexionen nähert sich dem entstehenden Spielfilm zum Thema Frei-sich-Bilden an.von Alex Capistran, Joshua Conens, erschienen in Ausgabe #44/2017
Der 90-minütige Spielfilm mit dem Arbeitstitel »Caraba« will der Grundsatzfrage nachgehen, was »Frei-Sich-Bilden« eigentlich ist. Das Team beschreibt das Vorhaben folgendermaßen: Verschiedene Episoden werden die Zuschauer in Bildungslandschaften mitnehmen, in denen junge Menschen sich individuelle Räume und Zeiten suchen, um ihren (Lebens-)Fragen nachzugehen. Im Fokus stehen fünf Menschen, die dabei begleitet werden, wie sie mit ihren Fähigkeiten und Herausforderungen ganz eigene Wege finden. Das Filmszenario spielt in einer neuen gesellschaftlichen Situation: Die Schulpflicht ist abgeschafft. Darin liegt Zündstoff für weitreichende Fragen über Bildungsvisionen und Ethik, die spielerisch-leicht erkundet werden sollen, obwohl es um ein Thema mit weitreichenden Folgen für das Leben junger Menschen geht.
Schulische Defizite sind ein Dauerbrenner in der öffentlichen Diskussion. Dabei folgen der Kritik am Bildungswesen zumeist nur Reformen – und keine Grundsatzdiskussionen, die uns als Initiatoren des Films wichtig sind. Was Bildung eigentlich ist und welche Voraussetzungen dafür nötig sind, wird im öffentlichen Diskurs nur sehr selten tiefschürfend bewegt. Es ist an der Zeit, über die bisherige Schulkritik, über Schulreformen und über scheinbar alternativlose Alternativschulen – kurz: über die Beschulungsideologie als solche – hinauszugehen, ohne in der Sackgasse der häuslichen Beschulung (»Homeschooling«) zu landen! Uns interessiert, wie Bildungsmomente und -beziehungen entstehen und wie sich die Begleitung von jungen Menschen aus konkreten Lebenssituationen heraus ergeben kann. Es gibt Freilerner, die nie eine Schule besuchten und dennoch exzellente Programmierer geworden sind; es gibt vielseitig gebildete Quasi-Universalgenies und jede Menge Lebenskünstler, deren Leben durch ein großes Maß an freiem Lernen blühender geworden ist. Wir bringen all unsere Fantasie auf, um zu untersuchen, wie das Leben selbst zum immerwährenden Bildungserlebnis werden kann. Dieser Prozess lässt sich überall beobachten, wo die Bedingungen dafür vorhanden sind. Damit noch mehr Räume und eine breitere Wahrnehmung für freie Bildung entstehen, haben wir das Projekt »Caraba« ins Leben gerufen. Zwei inhaltliche Schwerpunkte prägen die Geschichten: Da ist zum einen das Lebensgefühl der Selbstbestimmung – hinsichtlich der Zeit, die mir zur Verfügung steht; hinsichtlich der Menschen, mit denen ich zu tun habe, und der Orte, an denen ich mich aufhalte; und vor allem natürlich hinsichtlich der Inhalte, die mich interessieren und begeistern. Zum anderen sind da die Begegnungen mit Menschen, die auf dem eigenen Bildungsweg zu Lehrern oder Begleiterinnen werden. Unser Ziel ist es, in fünf Episoden erlebbar zu machen, wie es sich anfühlt, dem Leben mit allen Höhen und Tiefen zu folgen – wobei ein emotionaler, erfahrungsbasierter Zugang im Vordergrund steht. Wir wollen nicht argumentieren – wir wollen berühren, zum Lächeln bringen, inhaltlich überraschen und zum Denken anregen. Ende August beginnen wir mit den Dreharbeiten, die bis Oktober dauern werden. Nach Fertigstellung des Films wird es Screenings bei Filmfestivals geben, gefolgt von einer öffentlichen Premiere in Berlin und später von Vorführungen in kommunalen Kinos und Programmkinos. Um eine weitreichende Diskussion anzustoßen, werden wir darüber hinaus auch zu eigenen Veranstaltungen in Kulturzentren, Schulen etc. einladen und auch die Kinovorführungen durch ein inhaltliches Rahmenprogramm, etwa Publikumsgespräche, ergänzen. Es ist sehr erfüllend, wie viele Gespräche wir jetzt schon mit Menschen, die wir treffen, über die Inhalte des Films führen! Eigentlich ist der Film nur ein Anlass, um in Begegnung und ins Gespräch zu kommen, woraus dann Perspektivänderungen erwachsen können. \ \ \
Alex Capistran im Gespräch mit dem Drehbuchautor Andreas Laudert und dem Produzenten Joshua Conens.
Alex Capistran Es gibt ja eine Armada von Büchern und auch ein paar Filme zum Thema freie Bildung. Warum macht ihr jetzt auch noch ein Film dazu? Joshua Conens Weil wir den gegenteiligen Weg wählen wie ein Sachbuch. Durch das Medium Film kann man sich auf eine künstlerisch-lyrische Art dem Thema nähern, ohne zu argumentieren. Das gibt es für das Thema freie Bildung meines Wissens noch gar nicht. Statt zu argumentieren, geht es darum, subtil ein Lebensgefühl zu transportieren. Am Ende stellt sich im Leben doch meistens die Frage: Kann ich mich in das, worum es gerade geht, wirklich einfühlen? Dieses Einfühlen geht auch beim Thema Bildung viel besser durch bewegte Bilder als durch starre Buchstaben. Andreas Laudert Wir wollen nicht einfach über die Theorie des Frei-sich-Bildens dozieren, obwohl der Film durch sie inspiriert ist. Wenn Leute fragen »Wo ist denn jetzt eigentlich die Grundidee im Film abgebildet?«, ist das für uns eigentlich immer ein gutes Zeichen. AC Die Frage, die sich da für mich anschließt, ist, wie man Bildungserfahrungen verbildlicht bzw. versprachlicht. AL Wir waren uns einig, dass das Moment der Begegnung wichtig ist. Meine prägendsten Bildungserfahrungen sind meist Situationen, wo jemand mich etwas fragt oder einfach nur etwas an mir bemerkt. Das kann nur ein kurzer Moment sein oder eine kleine Beobachtung; und so halten wir es auch im Film: Eine Figur hat eine zufällige Begegnung, und dann ergibt eines das andere. Dieses Zwanglose ist es, was Bildungserfahrungen generiert – oder zumindest die Neugier, als einen Schlüssel, der nicht von außen kommt, sondern organisch aus der Situation. Es geht also weniger um bestimmte Bilder, als vielmehr darum, menschliche Interaktion darzustellen. AC Wie habt ihr die fünf Hauptcharaktere gefunden? AL Ich habe Schülern Drehbuchszenen vorgelesen, was eine gute Inspiration war. Du kannst aber meist gar nicht mehr rekonstruieren, wie du zu einer Figur gekommen bist. Ich habe darauf geachtet, dass die Personen einen Grundkonflikt haben, dass sie Erfahrungen des Scheiterns kennen, dass wir Charaktere finden, die beispielsweise mit Grundfertigkeiten wie Lesen und Schreiben Schwierigkeiten haben, dass alle ein verschiedenes Alter haben und aus unterschiedlichen sozialen Hintergründen kommen, und dass sie sich mit verschiedenen Dingen beschäftigen – einer mit Musik, einer mit Sport usw. Wir sind auch nach Tätigkeiten gegangen – Forschen, Schlafen, Wohnen – und haben uns gefragt, was sich aus einem bestimmten Umkreis ergibt. AC Andreas, du bist Lehrer. Wie passt das mit dem Grundanliegen des Films zusammen? AL Eigentlich bin ich kein Lehrer: Ich habe szenisches Schreiben studiert und dann eine Erzieherausbildung gemacht. Jetzt bin ich fest an einer Waldorfschule in Prenzlauer Berg und mache gerade einen dreiwöchigen Epochenunterricht zu »Faust«. Ich denke übrigens, einige meiner Schüler werden den Film sofort verstehen, weil sie vieles nicht wollen, was sie tagein, tagaus erleben. Der Schreibprozess hat mir geholfen, viele Situationen in der Schule jetzt kritischer und wacher erleben zu können. AC Der Prozess scheint euch als Team viele Bildungserfahrungen zu ermöglichen. JC Für mich ist das so selbstverständlich, dass ich dazu kaum etwas sagen kann. Ich fange etwas an, was ich noch nicht kann – deswegen mache ich das ja zu einem großen Teil, besonders bei kreativen Dingen. Das kennzeichnet ja auch ein Lebensgefühl, das wir im Film transportieren wollen: Ich kann eigentlich alles tun – und falls es hakt, werde ich mir alles beibringen, was ich brauche, um es möglich zu machen. So gehe ich auch ans Filmemachen ran. AC Joshua, du lebst das Frei-sich-Bilden schon seit vielen Jahren. Wie passt der Film in deine Biografie und in deine Entwicklung als Filmemacher? JC Ich verstehe mich gar nicht als Filmemacher. Wenn jemand fragte, was ich bin, würde ich nie »Filmemacher« sagen. Ich frage mich immer: Was steht gerade für dieses Thema an? Und dabei kommt eben auch mal ein »Handlungsspielraum« [ein freier Bildungsraum in Berlin], eine Tagung oder ein Film heraus. Ich bin eher ein Macher, aber kein Filmemacher. AC Im Film geht ihr ja von einem Zustand aus, in dem die Schulpflicht nicht mehr gilt. Wie kamt ihr dazu? JC Inhaltlich stellt sich uns die Frage, wie wir eigentlich leben wollen. Im Zuge dessen kommen wir auch auf eine generelle Institutionenkritik à la Ivan Illich, der die »Entschulung der Gesellschaft« gefordert hat. Mir scheint, dass die Aufhebung der Schulpflicht eines der letzten gesellschaftlichen Tabus ist. An diesem Tabu wird auch deutlich, was für Menschenbilder wir haben und wie wir Gesellschaft verstehen. Zum Beispiel wird oft gesagt, die Schule schaffe Chancengleichheit – dabei trägt Schule massiv dazu bei, dass überhaupt soziale Schichten entstehen.