Eine dystopische Parabel aus dem Jahr 1909 in Resonanz mit der »Megamaschine«.von Maria König, erschienen in Ausgabe #45/2017
In seinem 2015 erschienenen Sachbuch »Das Ende der Megamaschine« trug Fabian Scheidler dezidiert und fundiert zum kritischen Diskurs über die ökonomischen, militärischen und ideologischen Machtstrukturen westlich geprägter Gesellschaften bei. Der Begriff »Megamaschine« – für das komplexe Zusammenwirken von Machtstrukturen, in denen der Mensch zum fremdgesteuerten Funktionsglied wird – geht auf das 1967/1970 erschienene zweibändige Werk »Der Mythos der Maschine« des US-amerikanischen Historikers und Soziologen Lewis Mumford zurück. Was bei Scheidler und Mumford als Metapher für ein entfremdendes, Abhängigkeiten schaffendes System steht, buchstabierte Meistererzähler E. M. Forster in seiner Novelle »The Machine Stops« vor über 100 Jahren wortwörtlich aus. Auf kaum 80 Buchseiten entfaltet sich eine futuristische Welt, in der die Menschen die Erdoberfläche verwüstet haben. Sie leben isoliert in vollautomatisierten, wabenförmigen Zellen im Erdinneren. Alle Vorgänge, die für dieses Leben notwendig sind, regelt die »Maschine« (in Gregor Runges Übersetzung in Großbuchstaben: »die MASCHINE«). Forster schrieb seine Erzählung 1909 in Auseinandersetzung mit dem 1895 erschienenen Roman »Die Zeitmaschine« von H. G. Wells. Während Wells anhand zweier künftiger Menschenrassen die gesellschaftlichen Missstände und Klassenunterschiede des 19. Jahrhunderts thematisierte, fokussierte Forster auf die Technik als den Menschen kontrollierende und somit unterdrückende Instanz. Anders als in dem berühmten Film »Matrix« von 1999 liegt der Schwerpunkt dabei nicht auf einer intelligenten Maschine, die die Menschen bewusst ausbeutet. Die Handlung folgt mit der Protagonistin Vashti, die als »fortschrittliche Denkerin« gilt, den Gewohnheiten, Bedürfnissen und Ängsten der Menschen sowie deren Sicherheitsdenken und Fortschrittsglauben. Die Menschen sind in dieser völlig vereinzelten und fremdversorgten Welt weder unglücklich noch sind sie physisch gefangen – jederzeit könnten sie ihre Waben verlassen. Gefangen sind sie im Geist, im Glauben an die Allmacht der Maschine. Freiwillig und alternativlos verharren sie in diesem Leben, in dem direktes Erleben und Betrachten sowie Körperlichkeit und Sinnlichkeit »dank« der Maschine obsolet geworden sind. Die Fragen und Sehnsüchte ihres Sohns nach der Erdoberfläche erzeugen bei Vashti Ekel und Mitleid. Ihm droht die Höchststrafe: »Heimatlosigkeit« – bei Runge erneut großgeschrieben –, der Ausschluss aus dem Maschinenreich und damit der (vermeintliche) Tod an der Erdoberfläche. Dass Menschen als zahn- und haarlose »Fleischklopse« in isolierten Zimmern leben und nur über die Kanäle der Maschine miteinander kommunizieren, erscheint grotesk, tritt jedoch auf eigentümliche Weise mit unserer Lebenswirklichkeit in Resonanz: eine Welt, in der Konsumgüter nur einen Mausklick entfernt, Fertiggerichte lieferbar, Menschen digital überwachbar und Fenster in vollklimatisierten Büros und Bussen nicht mehr zu öffnen sind, während Facebook die Digital Natives an den Geburtstag von Freunden erinnert. »Es ist bequem, in solchen Zusammenhängen von ›Fortschritt‹ zu sprechen. Niemand wollte zugeben, dass die MASCHINE außer Kontrolle war. Man diente ihr und wurde darin von Jahr zu Jahr tüchtiger und törichter. […] Es gab auf der Welt niemanden mehr, der das Ungetüm restlos verstand. […] Aber in ihrem Verlangen nach Annehmlichkeiten war die Menschheit zu weit gegangen. Sie hatte die Schätze der Natur fast aufgebraucht und versank allmählich in wohlgefälliger Dekadenz. Wer ›Fortschritt‹ sagte, meinte den Fortschritt der MASCHINE.« Derartige Überlegungen sind aktueller denn je. So erstaunlich es ist, dass E. M. Forsters Novelle ein Jahrhundert lang unübersetzt geblieben ist, so wenig verwundert es, dass sie gerade jetzt wiederentdeckt wurde. Deutschsprachigen Lesern ist sie inzwischen sogar in zwei Übersetzungen zugänglich: In der bibliophil ausgestatteten Erstübersetzung von Philipp Schmoetten und in der Übertragung von Gregor Runge. Als die Maschine im Fortgang der Geschichte zunehmend fehlerhaft wird, reagieren die Menschen zunächst mit hartnäckigen Beschwerden, bis »alles [verkommt] und niemand […] mehr Anstoß daran« nimmt. Schließlich kommt sie völlig zum Stillstand. Im Sterben erzählt Kuno seiner Mutter Vashti von den Heimatlosen an der Erdoberfläche: »Sie verbergen sich im Nebel und im Farn, bis unsere Kultur zum Stillstand kommt. Heute sind sie noch die HEIMATLOSEN – und morgen …« Es ist ein befremdliches Bild, das in dieser Parabel entworfen wird: die unterirdische Maschinenwelt als »Heimat« – der Austritt als »Heimatlosigkeit«. Aus diesem Gleichnis heraus lässt sich fragen: Sind wir heute in der Megamaschine beheimatet? Ist das »Heimatlos-Werden« im fremdversorgten System der erste Schritt zur Beheimatung in einem solidarischen, subsistenten und Commons-basierten Leben? – Und was passiert, wenn die Megamaschine zum Stillstand kommt? \ \ \
E. M. Forster: Die Maschine steht still Übersetzt von Gregor Runge Hoffmann und Campe, 2016 80 Seiten ISBN 978-3455405712 15 Euro
E. M. Forster: Die Maschine Übersetzt von Philipp Schmoetten Letter P, 2015 72 Seiten ISBN 978-3903117037 28 Euro